Archiv für Mai, 2011

Ottfried Fischer, Sportblogs, Vorlesungen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Journalismus und Skepsis: Der Knabe, der doch nicht magnetisch war”
(scienceblogs.de/zoonpolitikon, Ali Arbia)
Ali Arbia greift die Story eines Jungen aus Kroatien auf, der angeblich magnetisch ist: “Wenn sich Journalistinnen und Journalisten sich schon nicht ein Minimum an Skepsis leisten um offensichtliche billige Tricks zu hinterfragen, wie sollen dann ihre Leserinnen und Leser, deren Beruf dies meist nicht ist, eine entsprechende Kompetenz entwickeln?”

2. “Grübler und Schüler”
(fr-online.de, Sarah Mühlberger)
Sarah Mühlberger porträtiert Sportblogs. Im Artikel erwähnt sind: FuPa.net, Hartplatzhelden.de, Allesaussersport.de, Gruebelei.de und die Blogs auf spox.de.

3. “Wie frei ist die deutsche Presse wirklich?”
(doppelpod.com, Christian Y. Schmidt)
Ein Vortrag von Christian Y. Schmidt über die ökonomischen und politischen Abhängigkeiten der deutschen Presse (im Video ab Minute 7). Die Journalisten in Berlin hält er “eng verflochten” mit den Politikern: “Journalisten stellen gegen gute Honorare Bücher vor, die Politiker geschrieben haben, Politiker und Journalisten besuchen dieselben Partys und Empfänge, und manchmal heiraten Journalisten und Politiker gar, so wie die Bild-Zeitungs und Focus-Journalistin Doris Köpf (Schwerpunkt: Innenpolitik) den damaligen Bundeskanzler Schröder.”

4. “Kein Beweis für Nötigung”
(faz.net, David Klaubert)
David Klaubert berichtet aus dem Münchner Landgericht: “Ottfried Fischer hat viel auf sich genommen für diesen Prozess, der für ihn auch ein Feldzug gegen die Berichterstattung der ‘Bild’-Zeitung ist – ein vergeblicher Anlauf, wie es nun scheint, denn das Münchner Landgericht hat in zweiter Instanz das Urteil gegen den Angeklagten Wolf-Ulrich Sch. aufgehoben.”

5. “Für Fußball keine Gebühren verpulvern”
(meedia.de, Alexander Becker)
Alexander Becker spricht mit Claudius Seidl über seine Bewerbung als ZDF-Intendant (Facebook-Gruppe). Die aktuelle Logik des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schätzt er so ein: “Es muss das ZDF geben, weil wir das Fernsehen nicht nur kommerziellen Anbietern überlassen dürfen. Wir produzieren aber den gleichen Mist wie die kommerziellen Sender, weil wir von allen Gebühren verlangen und deshalb allen etwas bieten müssen.”

6. “Hier rein, da raus”
(zeit.de, Martin Spiewak)
Martin Spiewak schlägt vor, Uni-Vorlesungen abzuschaffen: “Statt dem Dozenten zu folgen, verschicken die Studenten E-Mails, mehren die Zahl ihrer sozialen Kontakte bei Facebook – oder laden sich das Skript der nächsten Vorlesung aus dem Netz. Sinnloser lässt sich akademische Zeit kaum vergeuden.”

Timothy McVeighs Perp-Walk-Marathon

Perp Walk nennen die Amerikaner den Gang, mit dem Verdächtige vor der Öffentlichkeit bloßgestellt werden. Meist in Handschellen und umringt von Polizisten werden sie medienwirksam abgeführt.

Über dieses Ritual wird gerade wieder heftig diskutiert, weil der zurückgetretene Chef des Internationalen Währungsfonds IWF, Dominique Strauss-Kahn, es über sich ergehen lassen musste, nachdem er in New York festgenommen wurde. Die “Süddeutsche Zeitung” versuchte deshalb vergangene Woche, die Geschichte des Perp Walks nachzuerzählen:

Den längsten “Perp Walk” hatte Timothy McVeigh, der Attentäter von Oklahoma City, zu erdulden. Drei Stunden lang wurde er öffentlich ausgestellt, bevor er dem Richter vorgeführt wurde.

Das kann man sich sehr schlecht vorstellen. Entweder hätte der Transporter viele Kilometer vom Gefängnis entfernt geparkt sein müssen. Oder McVeigh hätte viele Male um das Gebäude herum- oder immer wieder hin- und hergeführt werden müssen. Oder man hätte ihn — ohne Schutzweste — drei Stunden vor einem Pulk aufgebrachter Bürger herumstehen lassen müssen.

In Wahrheit dauerte McVeighs Perp Walk nur wenige Sekunden (Video). Es mag dem SZ-Autor wie Stunden vorgekommen sein, weil diese Aufnahmen so oft wiederholt wurden. Wahrscheinlicher ist, dass er eine leicht missverständliche Formulierung aus dem englischen Wikipedia-Eintrag zu Perp Walk missverstanden hat. Dort heißt es:

In 1995 Oklahoma City bomber Timothy McVeigh, already in Oklahoma State Police custody for a firearms violation, was paraded before television cameras by the FBI nearly three hours before he was officially arrested for the bombing.

Die knapp drei Stunden sind der Zeitpunkt (vor der offiziellen Verhaftung wegen des Attentates), nicht die Länge des Perp Walks. Aber das hat nicht nur die SZ falsch verstanden.

Das jüngste Gericht

Beim Wettbewerb “Heiteres Herumraten mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte” hat es “Telepolis” mal mit einer neuen Verwechslung versucht:

So stellte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EuGH) fest, dass die britische Polizei mit ihrer DNA-Datenbank das Grundrecht auf Datenschutz sehr weitgehend verletzt hat.

Der Fehler liegt hier im Detail, genauer in der Abkürzung: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird kurz mit “EGMR” bezeichnet, “EuGH” ist der Europäische Gerichtshof, der im Gegensatz zum EGMR auch ein EU-Organ ist.

Besonders peinlich, dass der Satz (inkl. falscher Abkürzung) offenbar fast wörtlich aus einem offenen Brief der Kampagne “DNA-Sammelwut stoppen!” und der Piratenpartei kopiert wurde.

Klassisch dagegen dieser Fehler in der “Express”-Berichterstattung über den EGMR:

EU-Gericht entscheidet
Wird Inzest bald erlaubt?

Mit Dank an Jan T. und Tomek.

Nachtrag, 24. Mai: “Telepolis” hat den Fehler transparent korrigiert, der offene Brief im Wiki der Piratenpartei kürzt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jetzt ebenfalls korrekt mit “EGMR” ab und express.de hat aus dem “EU-Gericht” ein schlichtes “Gericht” gemacht.

Netztrumpf

Bei dieser Chefin können Sie arbeiten, wann Sie wollenSie ist “Deutschlands modernste Chefin”: Nicola Leibinger-Kammüller, Vorsitzende der Geschäftsführung beim Maschinenbauer Trumpf, “revolutioniert die Arbeitswelt”. Grund genug für “Bild” und Bild.de, die “innovative Konzern-Lenkerin” umfassend vorzustellen.

Am Freitag beschrieb Bild.de ihren Führungsstil mit den Stichworten “Vertrauen und Stolz”, am Samstag erklärte “Bild” das “revolutionäre Trumpf-Modell” und Oliver Santen, der Mann fürs Zarte im “Bild”-Wirtschaftsressort, durfte “Deutschlands modernste Chefin” für Bild.de interviewen.

Nicola Leibinger-Kammüller, Vorsitzende der Geschäftsführung bei Trumpf, Deutschlands modernste Chefin, Mitglied im Aufsichtsrat der Axel-Springer-AG. (Nicht jede dieser Informationen hat es in die “Bild”-Zeitung geschafft.)

Mit Dank an Frank M.

Bild  

Misserfolg durch Wiederholung

Rolf Kleine ist ein Mann, der sich auskennt: Er leitet das Parlamentsbüro bei “Bild”.

Das hielt ihn offenbar trotzdem nicht davon ab, im heutigen Leitartikel über die Bremen-Wahl seine Ahnungslosigkeit unter Beweis zu stellen:

Besonders bitter für CDU-Herausforderin Rita Mohr-Lüllmann: Zum ersten Mal seit 1949 sind die Christdemokraten bei einer deutschen Landtagswahl nur noch drittstärkste Kraft – 20,1 %, 5,5 % weniger als 2007.

Wie man es dreht und wendet: Das ist völliger Unfug.

Und wird nicht richtiger, wenn man es auf die Titelseite schreibt:

Die CDU ist zum 1. Mal bei einer Landtagswahl nur noch drittstärkste Kraft.

Noch mal für alle Journalisten:

  • 1950 wurde die CDU bei den Landtagswahlen in Hessen drittstärkste Kraft hinter SPD und FDP.
  • Ebenfalls 1950 erreichte die CDU bei den Wahlen in Schleswig-Holstein nur die drittmeisten Stimmen hinter der SPD und dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, verfügte wegen der Direktmandate im Landtag aber über ebenso viele Sitze wie die SPD (16) und stellte mit Walter Bartram den Ministerpräsidenten.
  • Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen 1951 wurde die CDU sogar Vierter hinter der SPD, der Deutschen Partei (DP) und der FDP.
  • In Brandenburg kam die CDU bei der Landtagswahl im Jahr 2004 hinter SPD und PDS nur auf Platz 3.
  • Fünf Jahre später hieß die PDS nun Linkspartei, aber die CDU landete in Brandenburg erneut hinter ihr und der SPD.

Interessant auch diese Formulierung von Kleine:

Übrigens: Bei der Bremen-Wahl durften erstmals in Deutschland auch Jugendliche ab 16 Jahren mitstimmen – trotzdem sank die Wahlbeteiligung auf 54 %, den niedrigsten Wert aller Zeiten. Das Endergebnis wird erst Mitte der Woche vorliegen.

Wenn mehr Leute abstimmen dürfen als beim letzten Mal, diese aber vermutlich nicht sehr engagiert von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, dann ist die Wahlbeteiligung nicht “trotzdem” gesunken, sondern “deshalb”.

Wie Piraten einmal fast ein AKW kaperten

Es gibt viele Beispiele dafür, dass “Spiegel Online” Fehler transparent korrigiert. Man könnte deshalb annehmen, dass “Spiegel Online” alle seine Fehler transparent korrigiert. Das wäre ein Irrtum.

Am Freitagabend machte “Spiegel Online” mit einer spektakulär erscheinenden Meldung auf:

Angesichts der Positionierung ganz oben auf der Startseite konnte man den Eindruck gewinnen, irgendwelche Leute der Piratenpartei hätten ein französisches Atomkraftwerk sabotieren wollen.

Die Geschichte hätte vermutlich etwas weniger Aufmerksamkeit (und Klicks) bekommen, wenn “Spiegel Online” deutlich gemacht hätte:

  • Es wurde nicht die Piratenpartei durchsucht, sondern ein von ihr gemieteter Server beschlagnahmt.
  • Das Vorgehen der Polizei richtete sich nicht gegen die Piratenpartei selbst.
  • Ob die Polizei einen “Angriff” “vereitelt” hat, ist ungewiss, aber unwahrscheinlich.
  • Die Hacker nahmen nicht die Anlagen des Stromkonzerns oder gar ein Atomkraftwerk ins Visier, sondern eine Internetseite*.

Im Lauf des Abends muss auch bei “Spiegel Online” jemand gemerkt haben, dass man es selbst für eigene Erregungsverhältnisse übertrieben hatte. Nun sah die Geschichte plötzlich so aus:

Auch die aktuelle Version ist mit Formulierungen wie “Hacker sollen Angriffe auf Energieversorger geplant haben” zum Foto eines Atomkraftwerkes immer noch sensationsheischend. Aber “Spiegel Online” hat einige Dinge verändert. Zum Beispiel:

Alte Version
Neue Version
Polizei vereitelt Hacker-Angriff auf AKW-Betreiber Hacker planten Angriff auf AKW-Betreiber
Hacker planten offenbar einen Angriff auf einen französischen Energieversorger: Auch in Deutschland rückten Ermittler aus, die Server der Piratenpartei wurden abgeschaltet. Sie sollen zur Planung der Tat benutzt worden sein. Die Partei sieht zwei Tage vor der Wahl in Bremen ihre Arbeit boykottiert. Ein französischer Energieversorger war offenbar im Visier von Hackern. Auch in Deutschland rückten Ermittler aus, die Server der Piratenpartei wurden abgeschaltet. Sie sollen zur Planung der Tat benutzt worden sein – offenbar ohne das Wissen der Partei, die kurz vor der Bremen-Wahl ihre Arbeit behindert sieht.
Unbekannte planten offenbar einen konzertierten Hacker-Angriff auf einen französischen Elektrizitätskonzern, so berichteten es am Freitag mehrere Quellen. Unbekannte hatten offenbar einen konzertierten Hacker-Angriff auf einen französischen Elektrizitätskonzern geplant, so berichteten es am Freitag mehrere Quellen. Nun sollen die Motive für den womöglich bereits erfolgten Angriff aufgeklärt werden.
Das Amtsgericht in Offenbach erteilte am Freitag den Durchsuchungsbeschluss, weil über einen Server der Piratenpartei ein sogenannter SSH-Key verbreitet wurde. Dieser ließe sich zu einem Angriff auf den Konzern verwenden. Das zuständige Amtsgericht erteilte am Freitag den Durchsuchungsbeschluss, weil über einen Server der Piratenpartei ein sogenannter SSH-Key verbreitet wurde. Dieser ließe sich zu einem Angriff auf die Website des Konzerns verwenden, teilte die Piratenpartei unter Berufung auf Ermittler mit.
Es werde jedoch nicht gegen die Piratenpartei ermittelt, betonten Sprecher der Partei. Die Ermittlungen richteten sich jedoch nicht gegen die Piratenpartei, teilte die Staatsanwaltschaft Darmstadt auf Anfrage mit.

Dass die Staatsanwaltschaft Darmstadt klargestellt hatte, das Verfahren richte sich nicht gegen die Piratenpartei, hatte die Nachrichtenagentur dpa übrigens bereits am Freitagmittag um 13:46 Uhr gemeldet.

PS: Die voreilige Überinterpretation aus der Überschrift, die “Spiegel Online” unauffällig korrigiert hatte, blieb auch danach in der Welt bzw. in der “Welt”. “Welt Online” titelte zufällig: “Polizei verhindert Hacker-Angriff auf AKW-Konzern”. Im zugehörigen Artikel ist keine Rede davon.

 
siehe auch:

*) Nachtrag/Korrektur, 11:20 Uhr. Ganz so eindeutig ist es nicht, dass es nur um eine Website ging. Je nachdem, was wirklich auf dem Server der Piratenpartei lag, hätten Hacker damit womöglich auch Unfug in der IT-Infrastruktur anstellen können, zum Beispiel mit Kundendaten o.ä.

Botox, Brand eins, John Demjanjuk

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Niggemeiers Stern.de-Kritik und das wahre Problem”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Für Thomas Lückerath ist nicht nur die mangelnde Eigenleistung ein Problem des Online-Journalismus, sondern auch die Beliebigkeit: “Wo man im Print seine traditionsreichen Marken klar positioniert und deutlich gegeneinander abgrenzt, zeigt sich online nicht mal ansatzweise eine solch klare Differenzierung. Wenn sich besserer Online-Journalismus bei so vielen Marktteilnehmern nicht rechnet, bleibt uns wohl nichts anderes übrig als eine baldige Marktbereinigung zu wünschen.”

2. “Ein Schwindel für die Medien?”
(taz.de)
“Die skandalöse Geschichte von einer Mutter in Kalifornien, die ihrer achtjährigen Tochter angeblich das Anti-Falten-Mittel Botox spritzte, war womöglich ein Schwindel.”

3. “mein schwindender respekt vor der brandeins”
(wirres.net, Felix Schwenzel)
Ein Artikel in “Brand eins” macht Felix Schwenzel “ein bisschen wütend”: “das alles ist deshalb ärgerlich, weil ich lieblos zusammengeflanschte und tendenziöse müll-artikel zum urheberrecht überall lesen und sehen kann, von der brandeins aber einen ticken mehr erwarte.”

4. “Der Fall Demjanjuk – die mediale Hetzjagd auf BILD.de nimmt kein Ende”
(mediensalat.info, Ralf Marder)
Ralf Marder fasst zusammen, wie Bild.de seit 2009 über John Demjanjuk schreibt.

5. “Der Blogger”
(arte.tv, Video, 26:11 Minuten)
“Der Blogger” besucht Boulevardzeitungen in Polen und Finnland und diskutiert die Absenz solcher in Frankreich. Ab Minute 24 wird Bildblog kurz vorgestellt.

6. “Stanislaw rennt”
(sprengsatz.de, Michael Spreng)
“In einem langen Journalistenleben trifft man schon eine Menge bizarrer und kranker Typen. Die größte Ansammlung erlebte ich, als ich stellvertretender Chefredakteur von BILD wurde.”

Das gibt’s nur drei Mal (2)

Die meisten Menschen außerhalb Bremens (und womöglich gar viele Bremer selbst) haben es vielleicht nicht mitbekommen, aber heute wurde in Bremen eine neue Bürgerschaft gewählt.

Für die CDU kein schöner Tag, wie auch Bild.de zusammenfasst:

Bei allen Landtagswahlen in den vergangenen 60 Jahren kam die CDU immer auf den ersten oder zweiten Platz.

Jetzt sind die Christdemokraten erstmals nur noch dritte Kraft!

Nochmal zum Mitschreiben: Bei den Landtagswahlen in Brandenburg 2004 und 2009 ist die CDU jeweils nur drittstärkste Kraft (hinter SPD und Linke) geworden.

Mit Dank an Jonas I.

Wie dränge ich ein Land aus der Eurozone?

Nachdem BILDblog vor einem Jahr aufgezeigt hatte, wie man erfolgreich gegen ein Land aufhetzt, ist es nun Zeit für die Königsdisziplin: Der ultimative Leitfaden für das Herausdrängen eines Landes aus der Eurozone — veranschaulicht anhand einiger ausgesuchter Artikel von “Bild” und Bild.de aus den vergangenen vier Wochen:

1. Stellen Sie rhetorische Fragen, die entweder nicht zu beantworten sind oder deren Antworten eigentlich schon klar sind. Wichtig: Bereits die Fragestellung muss eine Provokation beinhalten.

Etwa so:

EU zögert mit finanzieller Hilfe: Muss Griechenland die Akropolis verkaufen?

Oder fragen Sie:

EIN JAHR NACH DER STAATSPLEITE Haben die Griechen die Kurve gegriecht?

Sorgen Sie außerdem mit Fragen wie “Was machen die anderen Euro-Versager?” dafür, dass klar ist, dass Sie Griechen für Versager halten, auch wenn Sie es nicht konkret ansprechen.

Oder fragen Sie:

Nach Berichten über Ausstiegs-Pläne: Macht Griechenland den Euro kaputt?

2. Damit sind wir auch schon beim zweiten Punkt: Verwenden Sie möglichst symbolische Bilder. Hier: Ein Foto der alten griechischen Währung neben einer griechischen Euromünze unterstreicht Ihre Forderung nach der Rückkehr der Griechen zur Drachme.

3. Heizen Sie Spekulationen, dass Griechenland aus dem Euro austreten wolle, fleißig selbst mit an:

Angeblich Krisen-Gipfel Steigt Griechenland aus dem Euro aus? Premier Papandreou will möglicherweise eigene Währung einführen

EU-Geheimtreffen nach Gerüchten: Wie ernst meinen es die Griechen mit dem Euro-Austritt?

Verschweigen Sie anschließend unbedingt, dass es sich bei den “Gerüchten” um eine unbestätigte Falschmeldung von “Spiegel Online” gehandelt hatte.

4. Natürlich gilt wieder: Lassen Sie fast ausschließlich “Top-Ökonomen” zu Wort kommen, die sich negativ über Griechenland äußern — oder in anderen Worten: Lassen Sie fast ausschließlich Hans-Werner Sinn zu Wort kommen:

Top-Ökonom Hans-Werner Sinn "Griechenland muss aus dem Euro raus!"

ifo-Chef Hans Werner Sinn: Griechenland muss wieder wettbewerbsfähig werden

Ignorieren Sie dabei völlig, wenn Ihr Experte seine Position anderswo später relativiert:

Er fordere nicht den Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Gerade erst hat Sinn gegenüber der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” einen Austritt Griechenlands als “das kleinere Übel” bezeichnet. Dies sei aber keine Empfehlung gewesen, präzisiert er nun, er habe lediglich die Möglichkeiten aufgezählt; die Journalisten neigten dazu, Dinge zu überspitzen.

Sollte doch einmal ein Verteidiger zu Wort kommen, dann kompensieren Sie diesem Umstand am besten mit einer krawalligen Überschrift:

Ex-Minister Theo Waigel: Euro-Gefahr Griechenland: "Wir können die Griechen nicht einfach rauswerfen" sagt Ex-Minister Waigel

5. Als flankierende Maßnahme empfiehlt es sich, den Austritt Griechenlands aus der Eurozone auch ganz unverblümt und direkt in Kommentaren zu fordern. Etwa so:

Kommentar: Bye, bye, Griechenland

6. Lassen Sie Ihre bereits aufgehetzten Leser zwischendurch auch gerne über eine Frage abstimmen, bei der das Ergebnis dank Ihrer einseitigen Berichterstattung ohnehin schon klar ist: “Soll Griechenland raus aus der Euro-Zone?”

Fühlen Sie sich in Ihrer Kampagne bestätigt, wenn 84 Prozent diese Frage mit “Ja” beantworten!

7. Geben Sie Aussagen von Experten wie dem Ökonom Thomas Straubhaar möglichst verzerrt wieder, sodass es aussieht, als müsste Griechenland austreten, um nicht so unterzugehen wie seinerzeit die DDR:

Top-Ökonom spekuliert Endet Griechenland wie die DDR? Gauweiler fordert Ausscheiden Athens aus dem Euro - Noch mehr Geld aus Brüssel?

Man beachte das harmonische Zusammenspiel von rhetorischer Frage (siehe 1.) und Symbolbild (siehe 2.).

Ignorieren Sie, dass Straubhaar in Wahrheit das exakte Gegenteil dessen gesagt hatte — nämlich dass ein Austritt für Griechenland einen ähnlichen Niedergangseffekt haben könnte, wie er in der Endphase der hochverschuldeten DDR zu beobachten war.

8. Sie können den Niedergang der Wirtschaft des Landes, das Sie loswerden wollen, sogar selbst beschleunigen. Berichten Sie einfach darüber, dass Griechen ihr Geld auf deutschen Konten in Sicherheit bringen, damit noch mehr Griechen ihr Geld auf deutschen Konten in Sicherheit bringen:

Griechen bringen ihr Geld auf deutsche Konten

9. Berichten Sie über die durch die Sparmaßnahmen hervorgerufenen Streiks stets so, als wären die Griechen zu faul zu arbeiten:

Europa stützt Griechenland mit Milliarden Euro, die nächste Hilfsaktion ist in Vorbereitung – doch die Griechen weigern sich weiter, den Gürtel richtig eng zu schnallen. Stattdessen gehen sie wieder auf die Straße.

Unterstützen Sie dies durch weitere Schlagzeilen:

Griechenland-Krise: Griechen-Streiks kosten 11 Milliarden Euro ...aber Athen baut neue Formel-1-Strecke!

10. Nutzen Sie überhaupt jede Gelegenheit, um Missstände unter Verwendung wenig repräsentativer Extrembeispiele anzuprangern. Wichtig: Ignorieren Sie dabei alle bisher gemachten Fortschritte und scheuen Sie sich nicht vor schalen Wortspielen!

Euro: Darum kriechen die Griechen nie aus der Krise +++ 18 Monatsgehälter +++ Doppel-Pensionen +++ Prämie für Händewaschen und Pünktlichkeit +++ Freie Tage haben 28 Stunden +++ 800 Politiker wollen Millionen-Gehaltsnachschlag +++

11. Berichten Sie groß darüber, wenn sich ein Politiker dazu hinreißen lässt, etwas zu sagen, was auch von Ihnen stammen könnte:

Merkel erhöht Druck auf Europas Schuldenstaaten Griechen sollen weniger Urlaub machen

Ignorieren Sie dabei jegliche Kritik innerhalb Deutschlands — etwa von der Opposition oder Wirtschaftsexperten und Wirtschaftsjournalisten, die das Gegenteil belegen können.

Berichten Sie stattdessen über die Reaktion im betroffenen Land. Denken Sie dabei immer daran, dass alle Aussagen, die Ihnen nicht passen, als “Pöbelei” bezeichnet werden müssen:

Nach Standpauke: Griechen pöbeln gegen Merkel. Fleiss-Appell unseren Kanzlerin löst Empörung aus ++ Lage in Griechenland immer desolater

Viel Erfolg! Ihre Leser werden die bemitleidenswerten Opfer Ihrer Kampagne so schnell wie möglich loswerden wollen, die Politik wird sich Ihnen womöglich anschließen.

Das gibt’s nur drei Mal

Die meisten Menschen außerhalb Bremens (und womöglich gar viele Bremer selbst) haben es nicht mitbekommen, aber am Sonntag wird in Bremen eine neue Bürgerschaft gewählt.

“Spiegel Online” versucht sich an einer großen Einordnung des kleinen Bundeslandes und wirft unter anderem einen Blick auf die Chancen der CDU:

Bemerkenswert ist, dass die CDU in den Umfragen bei 20 Prozent liegt und damit zur drittstärksten Partei abrutschen würde. Das wäre bundesweit bislang einmalig (…) .

Vielleicht hat “Spiegel Online” diesen Gedanken von der Nachrichtenagentur dapd übernommen, vielleicht hatte dort auch nur jemand den selben Gedanken:

Für die Christdemokraten wäre es nach Hamburg und Baden-Württemberg ein weiteres schlechtes Ergebnis. In den Umfragen kurz vor der Wahl liegen sie bei 20 Prozent, recht deutlich hinter den Grünen mit rund 24 Prozent. Drittstärkste Kraft in einem Bundesland – das wäre eine neue Situation, an die sich auch in Berlin niemand gewöhnen mag.

Die Behauptung ist in jedem Falle falsch, denn in Brandenburg ist die CDU bei den letzten beiden Landtagswahlen drittstärkste Kraft geworden.

Mit Dank an Henning.

Nachtrag, 18.30 Uhr: dapd hat den Fehler korrigiert, “Spiegel Online” bisher nicht.

Außerdem weisen uns dapd und einige Leser darauf hin, dass die CDU in der Geschichte der Bundesrepublik schon öfter nur drittstärkste Partei wurde, etwa 1950 in Hessen. 1951 wurde sie in Bremen gar nur Vierter. Aber das ist natürlich alles lange her und vor der Zeit von Grünen und Linkspartei.

2. Nachtrag, 21. Mai: “Spiegel Online” hat den Artikel korrigiert und mit einem Hinweis versehen:

Korrektur: In der ursprünglichen Fassung hieß es, ein Abrutschen der CDU in Bremen auf den dritten Platz wäre bundesweit einmalig. Die Christdemokraten lagen aber bereits bei mehreren Landtagswahlen hinter zwei Parteien. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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