Archiv für April 28th, 2011

Wie wird so einer zum Sex-Monster?

Für die Redakteure von “Bild” ist es schwer hinnehmbar, dass auch Menschen, die schlimme Dinge getan haben, Rechte haben. Menschenrechte zum Beispiel.

Im vergangenen Dezember wurde ein Krankenpfleger aus Berlin wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern verhaftet. In seiner Wohnung fand die Polizei Filmaufnahmen, die ihn bei den Taten zeigen. In der Untersuchungshaft unternahm der Mann einen Selbstmordversuch und trennte sich einen Hoden ab. In einem Abschiedsbrief bereute er seine Taten und entschuldigte sich dafür.

All das schrieb “Bild” am 22. Dezember in der Regionalausgabe Berlin/Brandenburg. Dann muss der Redaktion aufgefallen sein, dass die eigene Berichterstattung viel zu sachlich war.

Deshalb sah die Berichterstattung am nächsten Tag ein bisschen anders (man könnte auch sagen: “Bild”-typischer) aus:

Wie wird so einer zum Sex-Monster?

In der Berliner Ausgabe prangte ein großformatiges Foto des Tatverdächtigen, in der riesigen Überschrift fragte “Bild” “Wie wird so einer zum Sex-Monster?”

Der Bruder des mutmaßlichen Täters, der seit dessen Selbstmordversuch dessen vorläufiger Betreuer ist, ging Anfang Januar mit anwaltlicher Hilfe gegen die Berichterstattung vor und forderte die Axel Springer AG auf, die Verbreitung der privaten Fotos zu unterlassen. Springer lehnte mit der Begründung ab, es bestehe ein “außerordentliches Berichtsinteresse der Öffentlichkeit” und die Taten seien besonders verwerflich.

Am 11. Januar erließ das Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung, die “Bild” verbietet, weiterhin Fotos zu verbreiten, auf denen der Mann erkennbar abgebildet ist. Gegen diese einstweilige Verfügung zog die Axel Springer AG vor Gericht — verlor aber überwiegend.

Dabei hatten sich die Springer-Anwälte so eine schöne Begründung zurechtgelegt, warum “Bild” auf diese Weise berichten dürfe: Der Mann sei “zweifelsfrei” der Täter, dem die schwer kranken Kinder hilflos ausgeliefert gewesen seien. Weil er seine Stellung als Pfleger auf einer Intensivstation ausgenutzt haben soll, bestehe ein “erhebliches öffentliches Interesse” an seiner Person, eine Berichterstattung mit Foto sei wegen der “Schwere und der Art der Begehung” dieser Taten auch zulässig.

Sogar den Selbstmordversuch wertet “Bild” als Grund für ihre Berichterstattung: Er stelle wegen der Selbstverstümmelung einen “ebenfalls ganz außergewöhnlich brutalen Zerstörungsakt” dar, weshalb von einem herausragenden zeitgeschichtlichen Ereignis zu sprechen sei. Und dass “Bild” ein Foto des Mannes zeigen konnte, sei der ja quasi selbst schuld: Er habe das Bild ja selbst auf der Internetseite StudiVZ “für alle registrierten Nutzer öffentlich gemacht”.

Das Landgericht Berlin bestätigte die einstweilige Verfügung “im Tenor”. In seiner sehr differenzierten Urteilsbegründung (PDF) erklärt das Gericht, die erste Berichterstattung von “Bild” sei nicht zu beanstanden, wohl aber die weiteren Artikel:

Bereits in der großformatigen Überschrift wird der Antragsteller (“so einer”) nicht als Mensch sondern als “Sex-Monster” bezeichnet. Der Artikel enthält wenig objektive Information, stattdessen verschiedene reißerische Textpassagen (“Wie wird so einer zum Sex-Monster”, “ER IST EIN MONSTER. DAS HABE ICH NICHT ERKANNT”, “Es war offenbar die Maske eines Perversen.”), die über ein bloßes boulevardmäßiges Zuspitzen von Tatsachen hinausgehen.

Die Angst des mutmaßlichen Täters, er könne anhand der Fotos identifiziert und durch die Berichterstattung zum Opfer gewalttätiger Übergriffe werden, erschien dem Gericht “nicht völlig abwegig”. Die Veröffentlichung des Fotos sei daher nicht zulässig gewesen.

Auch bei der Berichterstattung in der Bundesausgabe hätte “Bild” auf ein Foto verzichten müssen:

Die dem Antragsteller zur Last gelegten Taten werden nicht als Vorwurf sondern als feststehende Tatsachen dargestellt. Im Übrigen wird auf einen bereits erfolgten Bericht der Zeitung verwiesen. Einerseits sind Artikel und Foto insgesamt klein gehalten. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Artikel in Bezug auf den Antragsteller keine neue sachbezogene Information enthält, die das erneute Abdrucken des Fotos rechtfertigen könnte.

Unmissverständlich äußert sich das Gericht zu der bei “Bild” so beliebten “Quelle” Soziale Netzwerke:

Eine Einwilligung des Antragstellers in die Verbreitung der Bilder liegt nicht vor. Unbeachtlich ist, ob der Antragsteller mit der Verbreitung seines Bildnisses gegenüber dem begrenzten Kreis der Nutzer von “studiVZ” einverstanden war. Hier geht es um eine Veröffentlichung von Bildern in einer Zeitung im Zusammenhang mit dem Vorwurf schwerer Straftaten.

Mit Hilfe seines Anwalts Ulrich Dost hat der Mann auch einstweilige Verfügungen gegen die “B.Z.” und den “Berliner Kurier” erwirkt. Der “Kurier” hatte über mehrere Tage das Foto des Tatverdächtigen gezeigt und ihn als “Sex-Bestie” bezeichnet, einmal sogar auf der Titelseite. Das Berliner Landgericht hat auch die einstweilige Verfügung gegen den “Berliner Kurier” bestätigt.

In beiden Fällen sind die Urteile noch nicht rechtskräftig, da die unterlegenen Boulevardzeitungen in Berufung gegangen sind.

B.Z., Bild  etc.

Volksgerechtigkeit

Sie sind ein Glücksfall für die Boulevardzeitungen, die Videoaufnahmen von dem Angriff auf einen jungen Mann in der Berliner U-Bahn-Station Friedrichstraße. Sie können gar nicht aufhören, die Bilder zu zeigen, auf ihren Titelseiten und in ihren Online-Angeboten. Vermutlich lohnt sich das.

Was sich auch lohnt, um den Volkszorn anzustacheln und von ihm zu profitieren: Fragen zu stellen, ohne sie zu beantworten. Bei Bild.de lesen sie sich unter anderem so:

Muss jemand, der einen anderen halb tot prügelt, nicht ins Gefängnis? Darf man einen solchen Schläger einfach wieder auf die Leute loslassen?

Darauf könnte man vielerlei antworten. Zum Beispiel, dass noch gar nicht ausgemacht ist, ob der 18-Jährige, gegen den Haftbefehl erlassen wurde, nicht ins Gefängnis muss — ein Urteil steht noch aus. Oder auch, dass man einen “solchen Schläger” nur dann “wieder auf die Leute loslassen” darf, wenn nicht davon auszugehen ist, dass er erneut zum Schläger wird.

Der deutsche Rechtsstaat sieht vor, dass es gute Gründe braucht, jemanden ohne ein Urteil ins Gefängnis zu stecken. Ein “dringender Tatverdacht” allein reicht dafür nicht aus. Ein Haftgrund ist neben der Wiederholungsgefahr die Fluchtgefahr. Im konkreten Fall hat der Richter entschieden, dass beides nicht vorliegt, und er hat gute Gründe dafür. Der mutmaßliche Täter ist bislang nicht polizeilich auffällig gewesen; er ist sozial integriert; er hat sich selbst gestellt, und er ist reumütig.

Wenn “Bild” die Mutter des Opfers fragen lässt: “Wie kann es sein, dass bei versuchtem Mord die Täter einfach entlassen werden?”, muss man ihr also antworten, dass Untersuchungshaft nicht der Strafe dient und dass sie nicht unmittelbar davon abhängt, wie schwer der Tatvorwurf ist. Der Düsseldorfer Strafverteidiger Udo Vetter erklärt uns auf Anfrage, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verdächtiger versucht, sich einem Verfahren zu entziehen, steigt, je höher die zu erwartende Strafe ist. Trotzdem müsse in jedem Einzelfall abgewogen werden, ob es wahrscheinlich ist, dass er flüchten will, und er somit in Untersuchungshaft gehört.

Und wenn “Bild” einen Leser fragen lässt: “Leben wir in einem Wattebausch-Land?”, muss man ihm antworten: Nein, in einem Rechtsstaat.

“Bild” versucht, den falschen Eindruck zu erwecken, die Frage der Untersuchungshaft hänge mit der Schwere des Tatvorwurfs zusammen:

Beim Haftrichter gibt der Brutalo-Treter zu, volltrunken Streit gesucht zu haben. Trotzdem lässt ihn der Richter laufen. (…)

Aufregung, weil der Schläger-Schüler Haftverschonung bekam, gegen Auflagen auf freien Fuß kam – und das obwohl er sein zufällig ausgesuchtes Opfer aus purer Streitlust fast tot geprügelt hätte!

(Hervorhebungen von uns.)

Besonders perfide ist, dass das Blatt den Eindruck erweckt, damit sei die Sache erledigt, dabei hat das Verfahren noch nicht einmal begonnen. Die Haftverschonung wird implizit mit einem Freispruch gleichgesetzt — und die Reaktionen der entsprechend in die Irre geführten, empörten Leser stolz vorgeführt.

Danach erwecken “Bild” und “B.Z.” den Eindruck, ihre Berichterstattung habe dazu beigetragen, dass bereits in den nächsten Wochen Anklage erhoben werden soll. Die “B.Z.” schreibt:

Der massive Druck der Öffentlichkeit zeigt offenbar Wirkung.

Vom Dementi der Staatsanwaltschaft und dem Hinweis, dass die günstige Beweislage aufgrund der Videoaufnahmen und der Geständnisse ein schnelles Verfahren ermöglichen, hat sich das Blatt offenbar nicht überzeugen lassen wollen.

Kaum verholen fordert die “B.Z.” auf ihrer heutigen Titelseite den Abschied vom Rechtsstaat. Denn “einfach mal Strafe” bedeutet im konkreten Fall offenbar: ohne Verhandlung, ohne Urteil. (Und sowieso ohne Betrachtung der Frage, ob es dadurch wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher wird, dass ein junger Mann auch in Zukunft straffällig wird.) Anders als die “B.Z.” behauptet, ist der Begriff für ein solches Vorgehen nicht “Gerechtigkeit”, sondern “Rache”.

Der “Bild”-Leitartikler Georg Gafron ist fassungslos, dass in Deutschland Menschen nicht einfach so ohne Verfahren und guten Grund eingesperrt werden können:

Ob der Richter, der diese nicht nachvollziehbare Freilassung zu verantworten hat, sich überhaupt der Tragweite seines Handelns bewusst ist?

Diese Art von Gutmenschen-Justiz fordert Nachahmungstäter geradezu heraus, statt sie mit unnachsichtiger Härte abzuschrecken!

Und hat sich dieser Richter in seiner unendlichen Milde auch einmal überlegt, was er mit dieser unverantwortlichen Entscheidung provozieren könnte:

Dass Menschen, die den Glauben an den Rechtsstaat verlieren, irgendwann einmal das Recht selbst in die Hand nehmen könnten?

Wir wollen keine Bürgerwehr — aber einen wehrhaften Staat!

Ob sich Gafron in seinem unendlichen Populismus auch einmal überlegt hat, wer begeistert daran arbeitet, den Menschen den Glauben an den Rechtsstaat zu nehmen, indem er ihn bis zur Unkenntlichkeit karikiert, anstatt korrekt über die Abläufe und zum Beispiel das Wesen von “Untersuchungshaft” zu informieren?

Die “Vereinigung Berliner Strafverteidiger” erklärt das Prinzip kurz und bündig so:

Die Feststellung der Schuld des Beschuldigten und Auswahl und Bemessung der entsprechenden Sanktion bleiben — auch bei geständigen Beschuldigten — dem Gericht in einer solchen Hauptverhandlung vorbehalten.

Doch die Boulevardzeitungen haben stattdessen längst den Richter an den Pranger gestellt (“Bild”: “Dieser Richter schickte Torben P. (18) nach Hause”; “B.Z.”: “Das ist der Richter, der den Schläger freiließ”) und zeigen ihn teils auch groß im Bild. Die Berliner Verteidiger protestieren: “Eine solch tendenziöse und auf die Person eines Richters abzielende (negative) Berichterstattung … widerspricht dem rechtsstaatlichen Verständnis, dem auch die Presse verpflichtet sein sollte.” In einer gemeinsamen Erklärung bemängeln die Präsidenten des Berliner Kammergerichts und des Amtsgerichts Tiergarten die Fehler in der Berichterstattung und mahnen:

Auch eine lebhafte und kritische öffentliche Diskussion darf die persönliche Integrität der Beteiligten nicht verletzen. (…) Ein Richter, der auf Grundlage von Recht und Gesetz entscheidet, darf nicht an den Pranger gestellt werden.

Mit Dank an die Hinweisgeber!

Wenn das Schwule macht!

Den Machern einer Broschüre für die Gäste des Eurovision Song Contests (ESC) in Düsseldorf ist da was ganz Blödes passiert: Wegen einer kleinen Unachtsamkeit weist das Programmheft auf einen “Aktionstag der Schwulen” hin statt auf den tatsächlich geplanten “Aktionstag der Schulen”. Außerdem steht in der englischen Ausgabe “Wielcome to Duesseldorf” statt “Welcome to Duesseldorf”.

Ein bisschen peinlich, ein bisschen lustig — also eigentlich eine schöne bunte Meldung. Das dachten sich wohl auch die Redakteure von “RP Online”, das wie die große Print-Schwester “Rheinische Post” seit Monaten über jede Kleinigkeit berichtet, die entfernt mit dem ESC zu tun hat. Die fehlerhafte Broschüre war “RP Online” gestern gleich zwei Artikel und eine Erwähnung bei Facebook wert:

RP ONLINE: Oje... Stadt muss nachbessern: Peinlicher Druckfehler in ESC-Broschüre. Die Stadt muss zwei Druckfehler in rund 100.000 Broschüren zum Song Contest korrigieren. Statt einem Aktionstag der Schulen wird dort ein Aktionstag

Beide Artikel wurden gestern Mittag wieder gelöscht, was insofern erstaunlich ist, als sie keine offensichtlichen inhaltlichen Fehler enthielten.

Herausgegeber der Broschüre ist neben der Düsseldorf Marketing & Tourismus GmbH der NDV Verlag, der zur Mediengruppe RP gehört. Als Redaktion ist im Impressum die Rheinland Presse Service GmbH ausgewiesen — jene Firma, die auch hinter “RP Online” steht.

Wir haben gestern am späten Nachmittag bei “RP Online” nachgefragt, ob es eine interne Anweisung gegeben hat, nicht über Fehler zu berichten, die im eigenen Haus passiert sind. Bisher haben wir keine Antwort erhalten.

Koranverbrennung, Kriegsberichterstatter, B.Z.

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Interessant heißt nicht relevant”
(tagesspiegel.de, Caroline Fetscher)
Bei fragwürdigen Ereignissen wie der angekündigten Koranverbrennung eines US-Pastors sei es manchmal “klüger, ethischer, besser, nichts zu berichten”, schreibt Caroline Fetscher. “Obgleich seriöse, auf Nachrichten spezialisierte Massenmedien Chronistenpflicht besitzen, gibt es Begebenheiten, denen gegenüber Abstinenz, Distanz oder Detailverweigerung zum verantwortlichen Umgang mit der Wirklichkeit gehören. Zentral dabei ist an erster Stelle die Einordnung eines Ereignisses als repräsentativ.”

2. “Der schlechte Ruf der Journalisten”
(ndr.de, Video, 7:54 Minuten)
“Zapp” geht der Frage nach, warum Journalisten im Ranking der vertrauenwürdigen Berufen bei nur 17 Prozent landen (Ärzte bei 82 Prozent): “Im Konkurrenzkampf ruinieren sie ihr eigentliches Kapital: Ihre Glaubwürdigkeit.” Die Interviews mit Hans Mathias Kepplinger, Marc Brost und Detlef Voges sind in voller Länge abrufbar.

3. “Krawall kommt vom Koffein”
(jungle-world.com, Jesse-Björn Buckler)
Jesse-Björn Buckler rezensiert die “B.Z.”-Serie “Der 1.-Mai-Komplex – Wie die linksextreme Mafia in Berlin organisiert ist”: “Den Autonomen wird dabei der Organisierungs- und Professionalisierungsgrad unterstellt, den sie gerne hätten. Die Serie kreiert ein Bild der autonomen Szene, das nur wenig mit der Realität zu tun hat, aber dafür sämtliche bürgerlichen Klischeevorstellungen bedient.”

4. “Which of Us Dies First?”
(uk.gizmodo.com, Teru Kuwayama, englisch)
Der Tod der Kriegsberichterstatter Tim Hetherington und Chris Hondros erzeugt breite Aufmerksamkeit: “You’d almost think it was the first time journalists had been killed in the line of duty, but it wasn’t – it was just the first time, in a long time, that western journalists with names like ‘Tim’ and ‘Chris’ were killed.”

5. “Österreich größte Medien”
(derstandard.at)
Eine PDF-Datei zeigt eine Übersicht der größten Medienhäuser in Österreich.

6. “Was am Freitag die Nachrichten bestimmen wird”
(graphitti-blog.de, katja)