Archiv für April 11th, 2011

Sarg die Wahrheit!

Was für eine Tragödie!

“Bild”-Reporter John Puthenpurackal scheint ehrlich erschüttert: Die Schauspielerin Hanna Köhler, die in der ARD-Serie “Marienhof” in “1600 Folgen (!)” mitgespielt hatte, ist tot. Doch Angehörige sind nicht aufzutreiben.

Jetzt steht ihr Sarg verlassen in einer Bestattungshalle, kein Angehöriger hat sich bisher gemeldet.

Am 17. März starb die Darstellerin mit 67 Jahren in der Seniorenresidenz Friedrichsau bei Ulm. Sie hatte Probleme mit dem Herzen, musste mehrfach operiert werden.

Was keiner wusste: Der Sarg mit der Leiche steht seit ihrem Tod einsam in einer Bestattungshalle des Zentralfriedhofs Ulm. Das bestätigte eine Sprecherin der Stadt: “Wir erreichen keine Verwandten, bei uns hat sich auch niemand gemeldet.”

All das schrieb Puthenpurackal am 6. April, dem vergangenen Mittwoch. Und jeder, der Formulierungen wie “jetzt” oder “seit ihrem Tod” wörtlich nimmt, musste annehmen, dass da seit rund drei Wochen ein Sarg in einer Bestattungshalle rumsteht, was für den Ablauf anderer Trauerfeiern mindestens unpraktisch und für den Zustand der Leiche extrem unschön wäre.

Doch all diese Schreckensszenarien verblassen etwas, wenn man in die “Südwest Presse” vom vergangenen Freitag schaut. Demnach stellt sich die Situation deutlich anders dar:

Wie Friedhofs-Abteilungschef Jüstl auf Anfrage mitteilte, war ein Bild-Reporter bereits am 23. März – fünf Tage nach Köhlers Tod – auf dem Ulmer Friedhof. Auf seine Bitte hin habe man den Sarg in die Bestattungshalle gefahren, damit der Journalist ein Foto machen könne. Warum der Bericht erst zwei Wochen später publiziert wurde, ist auch Jüstl ein Rätsel.

Mit Dank an Sebastian.

Fortsetzung vor dem Presserat hier.

Wenn ein Koch viele Breie verdirbt

Online-Journalismus kann so einfach sein, wenn man Kunde einer Presseagentur ist: Die dpa liefert einen netten Artikel über die Autobiographie des Sternekochs Tim Raue und man muss nur noch eine eigene knallige Überschrift drüber setzen.

Also flugs den Text nach knackigen Zitaten absuchen. Zum Beispiel im dritten Absatz:

(…) Gerade drei Jahre alt war er, als sich seine Eltern scheiden ließen. Mal lebte er bei seiner Mutter, mal bei seinem Vater. Das Geld war knapp. “Es gab nur einmal am Tag zu essen”, erzählt Raue. Bei den 36Boys fand er dann Zusammenhalt. Die Truppe machte die Gegend rund um das Kottbusser Tor unsicher – auch Tim Raue prügelte, sprayte, drehte krumme Dinger, wie er bei seiner Buchvorstellung gesteht. “Ich bin aber nicht vorbestraft”, betont er.

Und wenn man Teil der Ippen-Gruppe ist, steht der Text schon kurz darauf beim “Westfälischen Anzeiger”, bei der “Offenbach-Post”, beim “Münchener Merkur”, bei der “Hersfelder Zeitung”, bei der “Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen”, bei der “Kreiszeitung Syke”, bei der “tz”, beim “Soester Anzeiger” und auf Dutzenden weiteren Internetportalen online.

Und sieht überall so aus:

Sternekoch Tim Raue ist vorbestraft

Mit Dank an Albrecht K.

Nachtrag, 18.06 Uhr: Inzwischen sieht die Überschrift auf allen Webseiten so aus:

Sternekoch Tim Raue nahm Drogen

Das wird vom Text immerhin so belegt:

Der 37-Jährige wuchs in den dreckigsten Ecken Kreuzbergs auf, war Mitglied in der Jugendgang 36Boys und hing vor Kneipen ab. Man nahm Drogen oder zog “Leuten die Jacken ab“, wie Raue sagt.

Bild  

Nachruf

Schicksalsschlag: Andrea Bergs Vater stirbt nach einem Verkehrs-Unfall!

Preisfrage: Woran ist Andrea Bergs Vater gestorben?

“Bild” verrät es gerne:

Andrea Berg (45, “Du hast mich 1000 Mal belogen”) trauert um ihren Vater Jürgen (†68)!

Er erlag am Samstag in einer Klinik bei Stuttgart einem langwierigen Krebsleiden.

Erst am 25. März war er gemeinsam mit seiner Frau Helga (66) auf einer Landstraße verunglückt.

Mit Dank an Richard F., Daniel, Christoph A., Thomas U., Steffen S., Paulchen und Steffi.

Fukushima, Royalisten, Marc Fischer

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “10 peinliche Fauxpas im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe in Japan”
(fernsehkritik.tv, Video, 18 Minuten)
Fernsehkritik.tv stellt sehenswerte Momente in der Berichterstattung über die Ereignisse in Japan zusammen. Mit dabei: Robert Hetkämper und die Wegwerfarbeiter, faktische Fehler in der ARD-Tagesschau, Ulrich Deppendorf und Angela Merkel, Sandra Maischberger und die Europakarte der Atomkraftwerke, Anne Will und die Emotionen, Automangel in Deutschland, Betroffenheitsmusik.

2. “Overkill royal”
(tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Am 29. April 2011 heiraten Prinz William und Kate Middleton. Joachim Huber ruft zum Kampf auf: “Bitte sprechen Sie mir nach: Nieder mit der Monarchie! Nieder mit dem Royalisten-TV! Ein Hoch auf die Tugendwächter Robespierre, auf Danton, auf Joseph-Ignace Guillotin!”

3. Medienkongress in Berlin
(blogs.taz.de/hausblog)
Im “taz”-Hausblog fassen viele einzelne Berichte den gemeinsam mit “Der Freitag” veranstalteten Medienkongress vom Wochenende zusammen.

4. “So lebendig wie kein anderer, und jetzt einfach tot: Punkmarc”
(blog.dummy-magazin.de, Oliver Gehrs)
Oliver Gehrs erinnert an Marc Fischer. In der Nacht zum Sonntag verstorben ist auch André Müller, wie Tobias Kniebe meldet.

5. “Türkei: Kampf um die Pressefreiheit”
(mediathek.daserste.de, Video, 6:47 Minuten)
Journalisten in der Türkei werden “beschattet, abgehört und verhaftet”.

6. “Bild.de in USA gesperrt”
(sueddeutsche.de, Willi Winkler)
Willi Winkler will in New York Bild.de lesen, was ihm mit der Meldung “Nudity, Lingerie/Bikini” verwehrt wird.