Archiv für April 1st, 2011

Flieg los, Kartoffelbrei!

Lange Zeit glaubten viele Leute, die Erde sei eine Scheibe. Sie wurden von den Leuten für Idioten gehalten, die glaubten, die Erde sei eine Kugel. Jetzt gilt es, neue Idioten zu küren, denn die Medien vermelden heute:

Von wegen Kugel: Die Erde ist eine Kartoffel

Die Erde sieht tatsächlich aus wie eine Kartoffel

Satellitenaufnahmen von der Erde: Erinnerungen an eine Kartoffel

Kartoffel im Weltraum

Diese Meldungen sind kein Aprilscherz — nur eine sehr unwissenschaftliche Verknappung von Forschungsergebnissen.

Die Europäische Weltraumbehörde ESA hatte gestern Bilder vorgestellt, die das physikalische Modell der Erdfigur zeigen. Das so genannte Geoid zeigt die hypothetische Oberfläche der Weltmeere, die allein durch die Schwerkraft geformt wird und auf Strömungen und Gezeiten keine Rücksicht nimmt.

Und nicht nur das:

Damit die Unterschiede im Schwerefeld der Erde deutlich zu erkennen sind, haben sie die Forscher in zehntausendfacher Übersteigerung dargestellt. So gesehen gleicht die Erde einer unregelmäßig geformten Kartoffel.

Die Bilder zeigen also das unsichtbare Schwerefeld, die Abweichungen sind zehntausendfach verstärkt. Genau genommen wissen das auch die meisten Medien, denn sie schreiben es in ihren Artikeln. Artikel, deren Überschriften behaupten, die Erde sehe aus “wie eine Kartoffel”.

Die ESA hat bei ihren Bildern übrigens die “noch nie dagewesenen Einzelheiten” hervorgehoben. Zu Recht, denn die eigentliche Erkenntnis über die Form des Schwerefelds ist nicht gerade neu — und schon seit Jahren für die Überschriftenmacher der Zeitungen unwiderstehlich:

Die Erde ist in Wahrheit eine Kartoffel
(“Welt Online”, 5. Juni 2007)

Für die Forschung wird die Erde zur Kartoffel
(“Südwest Presse”, 6. Juni 2006)

Die Erde ist eine Kartoffel
(“Die Welt”, 1. August 2004)

Eine Kartoffel wird vermessen
(“Der Tagesspiegel”, 15. März 2002)

Aus einer ganz anderen Welt kommt heute mal wieder “Bild”:

Erde ist gar nicht rund! München – So krumm haben wir unsere Erde noch nie gesehen! Der ESA-Satellit "Goce" hat das Schwerefeld des Planeten mit bisher unerreichter Genauigkeit vermessen. Das Ergebnis: Die Erde ist nur annähernd eine Kugel, sieht eher aus wie eine Kartoffel.

Mit Dank an Bjoern S. und Jörg S.

Bild  

Eine Hochzeit und zwei Gegendarstellungen

“Das Ende einer Hochzeit unter Familienclans” beschrieb “Bild” in der Berliner Ausgabe vom 11. März:

Der Schwager in Handschellen, die Braut rennt barfuß und schreiend durch die Nacht.

Szenen einer – frischen – Ehe gestern früh in Neukölln. Und das Ende einer Hochzeit zwischen Mitgliedern zweier eigentlich verfeindeter kurdisch-libanesischer Großfamilien in Berlin. “Romeo und Julia” in der Neuköllner Version im Jahr 2011.

Einen Verkehrsunfall mit Unfallflucht habe es gegeben, berichtete “Bild”. Und:

Pech: Der Bräutigam selbst hatte die Beamten um Schutz gebeten. Er ist der Neffe des Ex-Clan-Chefs (genannt “El Presidente”) und fürchtete laut einem internen Vermerk der Berliner Polizei, dass “die Hochzeit nicht störungsfrei verlaufen könnte, weil die Familie der Braut gegen die Ehe ist.”

Der Artikel ist bei Bild.de nicht mehr verfügbar. Es stimmte nicht viel an ihm.

Vergangene Woche musste “Bild” die Gegendarstellung des Bräutigams drucken, der angab, die Polizei nicht um Schutz gebeten zu haben. Auch sei er nicht der Neffe des Ex-Clan-Chefs. Seine Anwältin Julia Bezzenberger erklärte uns auf Anfrage, die Familie hätte lediglich den gleichen Nachnamen wie der “El Presidente” genannte Mann, stünde aber in keinem direkten Verwandtschaftsverhältnis zu ihm.

Das mit den Familienverhältnissen hat “Bild” großflächig nicht richtig hinbekommen, wie einer zweiten Gegendarstellung zu entnehmen ist, die diesen Mittwoch erschien:

Gegendarstellung

In der BILD (Berlin) vom 11.03.2011 verbreiten sie auf S. 7 unter der Überschrift “Das Ende einer Hochzeit unter Familien-Clans” falsche Tatsachenbehauptungen über mich:

1. Sie Veröffentlichen ein Foto meiner Person und bezeichnen mich als “Braut”.
Hierzu stelle ich fest: Ich bin nicht die Braut.

2. Sie schreiben unter Bezugnahme auf das Foto von mir:
“Und die Braut war auch sauer. Sie konnte nicht mehr im Luxus-Porsche nach Hause chauffiert werden …”
Hierzu stelle ich fest:
Ich war sauer, weil ein Fotograf mich und mein Kind gegen meinen Willen fotografierte und nicht weil ich nicht im Porsche nach Hause gebracht werden konnte.

Die Redaktion gibt unter der Gegendarstellung zu, dass die Frau Recht hat. Der Fotograf, den die Frau erwähnt, ist übrigens der Mann, dessen Foto “Bild” abgedruckt hatte.

Danach blieb von der ohnehin erstaunlich unspektakulären Story nur noch der Unfall — und der hat sich laut Julia Bezzenberger auch anders zugetragen als von “Bild” beschrieben. Der Fahrer habe beim Ausparken seinen Cousin übersehen und sei diesem leicht gegen das Bein gefahren. Anschließend habe er ein anderes Fahrzeug touchiert.

“Bild” hatte die Szenerie deutlich spektakulärer beschrieben:

Die beiden steigen in einen Porsche, der Schwager gibt Gas. Beim Abbiegen übersieht er einen geparkten 7er-BMW und rammt den Nobel-Schlitten. Der wird nach vorn geschleudert und trifft ausgerechnet Khaled O. (27) – ein Mitglied der Braut-Familie!

Der Mann schreit vor Schmerz – später wird ein geschwollener Knöchel diagnostiziert.

Auf unsere Frage, was an der Geschichte in “Bild” überhaupt stimme, antwortet uns Frau Bezzenberger: “Es gab eine Hochzeit.”

Waldspaziergang, Stockfotografie, Stipe

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Zuvielisation”
(freitag.de, Peter Glaser)
Peter Glaser schreibt über die Überforderung mit dem digitalen Medienfluss: “Es gibt verschiedene Möglichkeiten einen Waldspaziergang zu beschreiben. Man kann sich von der Wahrnehmung einer Unzahl von Blättern und Tannennadeln überfordert sehen und eine Rückkehr zur humanistischen Gehölzwahrnehmungstechnologie fordern. Man kann aber auch einen Spaziergang durch einen Wald machen und erholt wieder nach Haus kommen.”

2. “Die Last der Kommunikation: Was ein Journalist in Libyen alles dabei hat”
(blogs.taz.de/arabesken, Karim El-Gawhary)
Karim El-Gawhary präsentiert seine Kommunikations-Ausrüstung für Libyen.

3. “Sehr geehrte Frau Schwarzer…”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz schreibt an Alice Schwarzer, die für “Bild” den Prozess gegen Jörg Kachelmann begleitet: “Sie betreiben eine unerträgliche Vorverurteilung, die der Presserat jedem Provinz-Gerichtsreporter um die Ohren hauen würde.”

4. “60 Completely Unusable Stock Photos”
(buzzfeed.com)
Unerklärliche, schlechte Werke aus der Stockfotografie, mit Bildern von awkwardstockphotos.com.

5. “Stunde der Heuchler”
(sueddeutsche.de, Johan Schloemann)
Johan Schloemann sieht im Siegeszug der Grünen die Widersprüche des westlichen Menschen: “Wird nun der neue grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der im Wahlkampf eine grünere Automobilindustrie gefordert hat, hingehen und die Porsche-Werke von einem auf den anderen Tag schließen lassen? Konsequent wäre es.”

6. “99 Fragen an Michael Stipe”
(zeit.de, Moritz von Uslar)
Moritz von Uslar befragt Musiker Michael Stipe: “Meine Verkleidung ist, dass ich mich nicht verkleide. Und wenn ich Fahrrad fahre, dann immer mit Helm – damit die Leute mich erkennen. Hallo, Berlin! Ich bin der, der den hässlichen Fahrradhelm auf dem Kopf trägt.”