Archiv für März 11th, 2011

Indizien-Express

Es ist immer das Gleiche: Eine Zeitung behauptet, ein Fußballspieler stehe vor einem Vereinswechsel, und der Spieler dementiert. Erst im Nachhinein lässt sich sagen, wer recht hatte — das Verhältnis dürfte etwa bei 50:50 liegen.

Insofern ist es mit Vorsicht zu genießen, wenn Marco Reus von Borussia Mönchengladbach heute auf der Vereins-Website beteuert, er habe keinerlei Wechsel-Ambitionen, die ihm der “Express” für den Fall des Abstiegs aus der ersten Bundesliga unterstellt hatte.

Doch der “Express” hatte noch mehr geschrieben:

Sein neuer Audi Q 5, mit dem er am Dienstag zum Gladbacher Training erschien, hat bereits ein Dortmunder Kennzeichen…

Der 21-jährige gebürtige Dortmunder hat dafür eine recht einleuchtende Erklärung:

Und zu der Sache mit dem Nummernschild: Meine Eltern leben in Dortmund, deshalb das Dortmunder Kennzeichen, und das nicht neuerdings, sondern schon lange.

Mit Dank an Marcus M. und Lukas K.

Zensoren unter sich

Das ganz große Fass der von der prothesenproduziernden Industrie gesponserten Vergleiche hat Bild.de aufgemacht:

Zensur wie in China! Berliner Stadtbibliothek sperrt Bild.de

In einer Stadtteilbibliothek in Steglitz hatte ein “Bild”-Leser festgestellt, dass Bild.de auf den dortigen Internet-PCs nicht aufgerufen werden kann.

Die Bibliothek, die die Sperre mit Filtersoftware aus dem Ausland begründet, verhält sich nach Ansicht von Bild.de also wie die chinesische Regierung — oder eben wie Bild.de, das seine eigene Website für iPad-Nutzer sperrt, damit diese die kostenpflichtige “Bild”-App nutzen.

Leserkommentare, die auf die iPad-Geschichte hinwiesen oder den China-Vergleich als übertrieben kritisierten, hat Bild.de gelöscht und die Kommentarfunktion abgeschaltet. Eben Zensur wie in China der Stadtbibliothek.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Wie man Luft erwärmt

Im Allgemeinen hält Bild.de klassische Bildung ja eher für überflüssig — es sei denn, man kann damit jemanden anschwärzen. Einen weiteren Grund gibt es aber doch:

Mit diesem Wissen können Sie richtig angeben

Da Wissen nicht auf Bäumen wächst, haben die Bild.de-Redakteure einfach in dem Buch “Physik für Eierköpfe” des britischen Wissenschaftlers Brian Clegg geblättert und daraus zehn “kuriose Fakten” abgeschrieben. Das heißt: fast abgeschrieben. Denn obwohl Clegg in jedem Mini-Kapitel ein paar mundgerecht aufbereitete “Fakten zum Angeben” auflistet, schafft es Bild.de, trotzdem noch Fehler einzubauen.

BILD.de stellt hier die zehn kuriosesten Fakten der Physik vor: 1. Fällt Schweres wirklich schneller als Leichtes?  Der griechische Philosoph Aristoteles behauptete genau das. Macht ja auch Sinn, wenn man gleichzeitig Hammer und Feder fallen lässt. Da er als der Mann in der Physik überhaupt galt, zweifelte niemand an seiner Theorie, bis Apollo-15-Kommandant Dave Scott kam. 1972 führte er das Experiment auf dem Mond durch. Und siehe da: Ohne Luftwiderstand erreichten beide Gegenstände gleichzeitig den Boden.

Aristoteles hatte zwar einigen Einfluss, aber Galileo Galilei hatte bereits 1604 festgehalten, dass Gegenstände unabhängig vom Gewicht von ihrer Masse gleich schnell fallen, wenn der Luftwiderstand keine Rolle spielt — über 350 Jahre vor den Mondmissionen. Das steht im übrigen auch in Brian Cleggs Buch und sollte eigentlich jedem bekannt sein, der im Physikunterricht nicht geschlafen hat. Und wer es nicht weiß, kann es sich von Dave Scott selbst erklären lassen.

Doch dann wagt sich Bild.de auch noch an die Relativitätstheorie heran:

3. Der einfachste Trick, um Einsteins Relativitätstheorie zu kapieren  Wenn man einem Objekt Energie zuführt, vergrößern wir dessen Masse. Heißt: es wird schwerer. Eine Tasse heißer Kaffee wiegt daher mehr als eine Tasse kalter Kaffee.

Das ist zwar hypothetisch richtig: Wie Einstein in seiner Relativitätstheorie festgestellt hat, besteht ein Zusammenhang zwischen Energie und Masse. Der Effekt bei der Erwärmung einer Tasse Kaffee wäre aber so gering, dass er sich nicht messen lässt. Gleichzeitig dehnt sich Kaffee bei der Erwärmung aus, die Flüssigkeit wird also im Verhältnis zum Volumen leichter. Außerdem nimmt seine Masse durch Verdunstung ab. Der erwärmte Kaffee ist also in der Realität eher leichter als zuvor.

Wer also – wie von Bild.de vorgeschlagen – beim “Smalltalk im Aufzug oder bei einem wichtigen Geschäftsessen” mit der Kaffee-Version von Einsteins Relativitätstheorie aufwarten will, kann nur darauf hoffen, dass sein Gegenüber noch weniger Ahnung von Physik hat als er selbst (oder als Bild.de).

Mit Dank auch an Markus K.

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Das Comeback der Eva Braun (2)

Das war ja zu erwarten gewesen: Nachdem Bild.de gestern ein Foto von Eva Braun, das vor 64 Jahren im Magazin “Time” zu sehen gewesen war und im Laufe der Jahrzehnte immer mal wieder in Büchern und Zeitschriften veröffentlicht wurde, als “neu” und “jetzt aufgetaucht” bezeichnet hatte, ist die Geschichte heute auch in der gedruckten “Bild” angekommen.

Hitlers Geliebte Eva Braun: Privat-Fotos aufgetaucht! Sie verkleidete sich gerne: Eva Braun imitiert den farbigen amerikanischen Jazz-Sänger Al Jolson (1937).

Anders als “Bild” behauptet, war der Sänger Al Jolson, als der sich Eva Braun verkleidet hat, auch nicht “farbig”, sondern praktizierte das rassistische “Blackface”, bei dem ein Weißer, als Schwarzer auftritt.

Dem “Berliner Kurier”, der Jolson ebenfalls für “schwarz” hält, war das vermeintlich “geheime” Foto sogar eine Platzierung auf der Titelseite wert:

Hitlers Geliebte Eva Braun: Das geheime Foto-Album

Mit Dank an Jürgen H. und Eva.

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Schuld sind immer die Griechen

Am Dienstag teilte die Bundesbank mit, sie habe 2,2 Milliarden Euro Überschuss im Jahr 2010 erwirtschaftet. Der Gewinn, der vollständig in den Bundeshaushalt fließt, liegt damit 800 Millionen unter den 3 Milliarden Euro, die das Finanzministerium eigentlich eingeplant hatte, woraus folgt, dass das fehlende Geld im Haushalt andersweitig beglichen oder eingespart werden muss.

Für “Bild” ist dies ein willkommener Anlass, ein offenbar liebgewonnenes Feindbild zu pflegen:

Pleite-Griechen: Krise kostet uns schon 800 Mio. Euro

Triumphierend verkündet Redakteur Jan W. Schäfer:

Die Schuldenkrise Griechenlands kommt die Steuerzahler nun DOCH teuer zu stehen!

Wie immer ist die Realität weitaus komplizierter. Immerhin räumt Schäfer ein:

Grund ist die Schuldenexplosion in Griechenland und anderen Euro-Staaten, die den Bundesbank-Gewinn drastisch geschmälert hat.

Und damit sind wir auch schon bei einem wichtigen Punkt angelangt: Nicht nur die “Pleite-Griechen”, sondern auch die Schuldenkrisen in Portugal und Irland haben Einfluss auf die Bilanz der Bundesbank. Die oben genannten 800 Millionen Euro sind zudem nicht einfach weg, wie “Bild” seine Leser glauben macht, sondern bleiben der Bank zur Risikoabsicherung erhalten.

In einer dpa-Meldung heißt es:

Die Notenbank erhöhte ihre Risikovorsorge für “allgemeine Wagnisse” um 1,6 Milliarden Euro auf 3,6 Milliarden Euro.

Dort steht außerdem, dass die Bundesbank auf einem ganz anderen Feld einen tatsächlichen Verlust von immerhin 600 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr hinnehmen musste:

Auch die Zinserträge als wichtigste Quelle für den Gewinn der Bundesbank gingen 2010 erneut zurück: Der Nettozinsertrag sank von 4,2 Milliarden Euro auf 3,6 Milliarden Euro. (…) Bundesbank-Vorstandsmitglied Rudolf Böhmler erklärte: “Ursächlich für den anhaltenden Rückgang der Zinserträge sind die weiterhin historisch niedrigen Leitzinsen des Eurosystems.”

Für den niedrigen Leitzins kann Griechenland jedoch nichts. Er wurde ab 2008 im Zuge der Finanzkrise schrittweise auf das heutige Niveau gesenkt, das seit Mai 2009 bei 1,0 Prozent liegt.

Überhaupt profitierte die Bundesbank im letzten Jahr nicht zuletzt von der Krise in Ländern wie Griechenland, die mitverantwortlich dafür war, dass die Goldpreise kräftig anzogen.

dpa berichtet:

Zum Jahresende stand in der Bilanz ein Goldwert von 115 Milliarden Euro nach 84 Milliarden Euro ein Jahr zuvor – dank des Höhenflugs bei dem Edelmetall.

Von diesen 31 Milliarden Euro, gegen die die 800 Millionen fast schon wie Peanuts wirken, erhält das Finanzministerium jedoch nichts:

Der Bewertungsgewinne bei Goldreserven wurden beim Bundesbank-Gewinn nicht eingerechnet

Genauso leer – allerdings an Informationen – gehen die “Bild”-Leser aus. Sie werden in gewohnter Manier aufgehetzt.

Weil die griechische Regierung auch noch gewagt hatte, um längere Tilgungfristen zu bitten, schreibt Schäfer:

Und die Griechen? Sie fordern auch noch Entlastungen!

Bundeswehr, Nürnberger Zeitung, Teschow

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. Interview mit Michael Martens
(spreegurke.twoday.net, Ursula Pidun)
Ursula Pidun befragt FAZ-Redakteur Michael Martens zu seinem Urteil über das Buch “Mit der Hölle hätte ich leben können” der Ex-Bundeswehrsoldatin Daniela Matijevic sowie zur unkritischen Aufnahme des Werks durch viele Journalisten. “Fest steht, dass weder Verlag noch Autorin bisher einen Zeugen genannt haben, obwohl es doch angeblich so viele gibt. Wer hingegen nach Personen sucht, die das alles für Unsinn halten, wird ohne Mühe sehr schnell sehr viele finden.”

2. “Mein böses Ich”
(news.de, Björn Menzel)
Björn Menzel blickt zurück auf seine eigene Erfahrung als Berichterstatter am Amoklauf von Winnenden, der sich heute vor zwei Jahren ereignete.

3. “Welche ‘Kapelle’ hat sich ‘gemüht’?”
(thilo-baum.de)
Thilo Baum kann die Beobachtungen, die “Spiegel Online” beim von ARD live übertragenen Zapfenstreich der Bundeswehr zur Verabschiedung von Karl-Theodor zu Guttenberg macht, nicht nachvollziehen.

4. “In the Thick of Libya’s Brutal Fighting”
(lens.blogs.nytimes.com, englisch)
Ein Gespräch mit Tyler Hicks, Fotograf der “New York Times”: “Anyone who goes into this area assumes the same risk as any of the fighters. That’s something you always have to remind yourself: even as an observer, you’re just as susceptible to getting hit as anyone else.”

5. “A.J.A.I.”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier über die Reaktionen auf unseren Artikel “Sprühfarbe ins Feuer”. Inzwischen hat sich die “Nürnberger Zeitung” für ihren Fehler “ganz herzlich” entschuldigt.

6. “Luci Lehmann, Teschow (MV)”
(interviewproject.de, Video, 4:49 Minuten)
Das erste von 50 Gesprächen des “Interview Project Germany” ist online. Luci Lehmann aus Teschow erzählt, dass nichts ihr Leben so verändert habe wie die Wende. “Es ist ja wirklich alles anders geworden.”