Archiv für Januar 19th, 2011

Aldi macht Journalismus billig

Seit Montag ist es überall zu lesen: Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle hat Discounter “ermuntert” oder gleich “aufgefordert”, zukünftig auch Benzin zu verkaufen. Medien wie die “Süddeutsche Zeitung”, die “Stuttgarter Nachrichten”, “RP Online” oder stern.de veröffentlichten Analysen und Kommentare über die Praxistauglichkeit von Brüderles Vorschlag, die “B.Z.” fragte sogar bei den Unternehmen nach und bewies bei der Interpretation der Antwort besondere Kreativität:

Und wie reagierten die Unternehmen? Die Handelskette Lidl schließt zumindest mittelfristig den Einstieg ins Benzin-Geschäft nicht aus. Sprecherin Simone Hartmann zur B.Z.: “Als Unternehmen mit dem Kerngeschäft Lebensmitteleinzelhandel stellen wir derzeit keine konkreten Überlegungen an, Benzin anzubieten.”

All diese Medien und Journalisten haben ein entscheidendes Detail übersehen: Brüderles angebliche Forderung war bei “Bild” und Bild.de erschienen (BILDblog berichtete):

Benzin-Abzocke: Brüderle will ALDI-Sprit! Vorschlag des Wirtschaftsministers

Nach unseren Informationen hat Brüderle nichts dergleichen gesagt. Er hat “Discounter wie ALDI und LIDL” auch nicht “ermuntert, ins Tankstellen-Geschäft einzusteigen.”

“Bild” hat den Zusammenhang um ein Zitat Brüderles gestrickt, das sehr grundsätzlich gehalten ist und in dem weder von Aldi konkret noch von Discountern allgemein die Rede ist:

Brüderle zu BILD.de: “Preise bilden sich am besten immer noch durch Wettbewerb. Wenn das Angebot steigt, sinkt der Preis. Ich freue mich deshalb über jeden zusätzlichen Wettbewerber und kann Unternehmen nur ermutigen, in den Benzinmarkt einzusteigen.”

Nicht minder interessant ist die wiederholte Forderung des saarländischen SPD-Chefs Heiko Maas nach staatlichen Höchstpreisen für Benzin, Öl und Gas “nach dem Vorbild Luxemburgs”. Die ist nämlich bei genauer Betrachtung Quatsch:

Die staatlichen Regelungen für Benzinpreise in Luxemburg limitieren nämlich nur den Aufschlag, den die Ölkonzerne gegenüber dem Einkaufspreis nehmen dürfen. Die Gewinnmarge der Ölkonzerne ist in Luxemburg dennoch höher als in Deutschland, der Nettopreis für Benzin ebenfalls: Nach einer Statistik des Energie-Informationsdienstes EID kostet ein Liter Superbenzin vor Steuern in Deutschland knapp 58 Cent, in Luxemburg etwas über 61 Cent (Stand: 3. Januar 2011).

Dass man an einer Luxemburger Tankstelle weniger zahlt als hierzulande, liegt nicht an den “staatlichen Höchstpreisen”, sondern an der niedrigeren Benzin- und Mehrwertsteuer in dem kleinen Land.

Vergessen, Ringier, Unterschichtenfernsehen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Vergessen und vergessen machen”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier denkt über das Vergessen im Web nach. Soll jenen, die ihre dort dokumentierten Taten vergessen lassen möchten, mit einer nachträglichen Löschung geholfen werden? “Es geht nicht darum, dass Menschen keine Fehler machen dürfen oder ihr Leben lang unter Jugendsünden leiden sollen. Es geht auch nicht um einen allumfassenden Pranger. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun — ganz besonders, wenn dieses Tun, wie bei Journalisten, in der Öffentlichkeit und genau genommen sogar für die Öffentlichkeit geschieht.”

2. “Die großen Zyklen des Himmels”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.com, Thomas)
Nicht nur “Bild”, auch sueddeutsche.de schreibt über den “Astro-Schock”, der keiner ist.

3. “Die Kunst der Vernetzung”
(nzz.ch, Rainer Stadler und Beat Gygi)
Ein Interview mit Ringier-CEO Christian Unger. Er sieht keine Probleme darin, wenn Ringier-Publikationen über Personen, die von Ringier vermarktet werden, unabhängig berichten sollen: “Wenn der ‘Blick’ einen gedopten Sportler nicht mehr als solchen darstellt, weil dieser von Ringier vermarktet wird, dann würden als Erstes die andern Medien draufspringen, den Sportler an den Pranger stellen und gleichzeitig die Ringier-Journalisten abstrafen. So würden wir unsere Titel schwächen. Unsere Redaktionen sind stark genug, zu erkennen, dass sie das aus ureigenem Interesse thematisieren müssten. Deshalb auch unsere dezentrale Struktur. Es sind ja unterschiedliche Firmen, unterschiedliche Partner, die alle für ihr eigenes Interesse kämpfen.”

4. “Der Dschungel und die Mär vom Unterschichtenfernsehen”
(dwdl.de, Alexander Krei)
Alexander Krei kann bei den Zuschauerzahlen der RTL-Sendung “Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!” keine Bevorzugung durch eine Unterschicht erkennen. Auch das Einkommen scheine keinen Einfluss zu haben: “Die Marktanteile sind in sämtlichen Zuschauergruppen exorbitant hoch – bei Zuschauern mit Abitur sah am Montagabend fast jeder Dritte zu, bei Zuschauern mit Uni-Abschluss immerhin noch fast jeder Vierte, der zu diesem Zeitpunkt vor dem Fernseher saß.”

5. The Time Hack
(thetimehack.com, Matt Danzico, englisch)
Matt Danzico versucht seit Neujahr, jeden Tag eine neue und ungewöhnliche Erfahrung zu machen. Er will herauszufinden, ob das seine Wahrnehmung der Zeit verändert.

6. “Bug in Facedetection-Software”
(volkerstruebing.wordpress.com)
“Eine meiner unangenehmsten Macken oder besser gesagt: Eins meiner peinlichsten Defizite ist es, dass ich oft Leute nicht wiedererkenne.”