Archiv für November 30th, 2010

Küssen verboten

“Die 25 verrücktesten Sex-Gesetze” versprach Bild.de am Donnerstag – selbstverständlich immer mit Blick auf den Bildungsauftrag gegenüber dem Leser – und lieferte dazu eine 25-teilige Klickstrecke. Viel Zeit für Recherche dürfte dabei nicht draufgegangen sein, denn ausnahmslos alle Beispiele geistern zum Teil schon seit den späten Neunzigern in zahllosen Sammlungen und häufig sogar im gleichen Wortlaut durchs Internet oder erschienen schon einmal auf Bild.de.

Noch leichter macht man es sich da nur noch beim Online-Auftritt der Schweizer Boulevardzeitung “Blick”, wo die 25 verrückten “Sex-Gesetze” von Bild.de einfach zwei Tage später als “Verrückte Erotikgesetze” im selben Wortlaut erschienen. Einzige nennenswerte Eigenleistung: blick.ch sortiert nach Ländern.

Bei vielen dieser Gesetze ist es auch aufgrund des komplizierten angelsächsischen Fallrechts nahezu unmöglich zu überprüfen, ob sie immer noch gültig sind oder ob sie überhaupt jemals existiert haben. Zwar lässt sich ein Teil der Gesetze auf der Seite dumblaws.com wiederfinden, aber auch dort fehlt häufig eine Quellenangabe.

Ganz sicher falsch sind jedoch folgende:

Nr. 17 (Bild.de):

Auf Hawaii darf ein Mann nicht mit einer Unter-18-Jährigen zusammen sein. Verstößt er gegen das Gesetz, müssen die Eltern des Mädchens drei Jahre ins Arbeitslager, weil sie ihre Tochter “freizügig” erzogen haben.

Abgesehen davon, dass es im US-Bundesstaat Hawaii keine “Arbeitslager” gibt, findet sich dieses Gesetz weder auf dumblaws.com, noch erscheint es realistisch, wenn man bedenkt, dass auf Hawaii selbst “Unter-18-Jährige” für eine Abtreibung keine elterliche Zustimmung benötigen.

Nr. 20:

Im US-Bundesstaat Connecticut dürfen Kondome offiziell nicht verkauft werden.

Tatsächlich ist der Kondomverkauf in Connecticut seit einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (Griswold v. Connecticut) im Jahre 1965 zulässig.

Nr. 21:

Und in Indiana ist es nur Frauen verboten, Kondome zu kaufen.

Kondome werden in Indiana sowohl geschlechts- als auch altersunabhängig verkauft — und zwar in Drogerien, Apotheken, Supermärkten und online.

Nr. 22:

Wenn Sie nach Irland fahren, nehmen Sie lieber einen großen Vorrat an Kondomen mit: Auch im streng katholischen Inselstaat sucht man vergeblich nach Lümmeltüten.

Ja, die Mehrheit der Iren ist katholisch. Deshalb sind Kondome auf der grünen Insel auch erst seit 1979 nicht mehr verschreibungspflichtig. Und erst seit 1993 können sie auch von Jugendlichen unter 17 Jahren legal erworben werden. Aber wenn Sie am Flughafen jemanden sehen, der wegen eines Koffers voller “Lümmeltüten” Übergepäck anmelden muss, handelt es sich sicher um Redakteure von Bild.de oder blick.ch.

Andere “verrückte” US-Gesetze wie etwa die gesetzliche Beschränkung auf maximal “zwei Dildos pro Haushalt” in Arizona (Nr. 24) versuchte der amerikanische Jurist Daniel Enevoldsen zu verifizieren — erfolglos. Ihm gebührt das Schlusswort, das wohl auf den Großteil der Gesetze aus der Liste zutreffen dürfte:

Ich glaube, dass es sich dabei irgendwann tatsächlich um Gesetze gehandelt hat, die aber inzwischen nicht mehr angewendet werden. Sie sind vermutlich so alt, dass sie nicht in Online-Datenbanken aufgezeichnet sind. Möglich ist auch, dass die Gesetze nie existiert haben und einfach von irgendwelchen Leuten erfunden wurden. Wie auch immer: Es scheint sie nicht mehr zu geben.
(Übersetzung von uns.)

Mit Dank an Michael und einen anonymen Helfer!

Wenn der Kindersegen schief hängt

Der griechische Göttervater Zeus hat im Laufe seines Lebens mit Göttinnen, Halbgöttinen und Sterblichen viele, viele Kinder gezeugt. Gut, dass es auf dem Olymp noch keine “Bild” gab, denn die hätte bei den zahlreichen Nachfahren vermutlich noch mehr den Überblick verloren als die Geschichtsschreiber.

Keith Macdonald ist nicht der Typ, dem man einen Kampf gegen die Titanen zutraut. Bild.de bezeichnet ihn als “Englands nutzlosesten Vater” und beruft sich dabei natürlich auf die britische Presse, die ihn “ziemlich fies” so nennt.

Doch wer ist dieser Keith Macdonald?

Er ist arbeitslos! Er kassiert Stütze. Er findet keinen Job, weil er angeblich Rückenprobleme hat. Probleme beim Sex scheint Keith Macdonald (25) nicht zu haben. Er hat acht Kinder von acht Frauen – und sechs Mal Nachwuchs ist noch unterwegs…

Unter Berufung auf britische Medien erklärt Bild.de:

Die Berichte: Keith hat bereits acht Kinder von acht verschiedenen Frauen. Jetzt behaupten vier Exfreundinnen, von ihm schwanger zu sein. Und: Eine der Frauen erwartet sogar Zwillinge.

Vier schwangere Ex-Freundinnen, von denen eine Zwillinge erwartet, macht in der Summe fünf künftige Erdenbürger — da fehlt doch irgendwie noch ein Kind für “sechs Mal Nachwuchs”, der “noch unterwegs” ist.*

Doch Zahlen sind Schall und Rauch: Der “Daily Express”, auf den sich Bild.de beruft, zählt sowieso ganz anders:

Im Alter von 25 hat Keith Macdonald zehn Kinder mit zehn verschiedenen Frauen gezeugt und weitere fünf sind unterwegs. Es könnten noch fünf zusätzliche Nachkommen in der Gegend rumschwirren, zu deren Erzeugung er sich entweder nicht bekannt hat oder sich nicht sicher ist.

(Übersetzung von uns.)

Aber so richtig scheinen auch die britischen Medien nicht mehr durchzublicken: Anfang des Monats hatte Macdonald im “Daily Mirror” noch neun Kinder, eine Woche später sprach die asiatische Nachrichtenagentur ANI von 13 Kindern, die “Daily Mail” folgt der Zehn-Kinder-Theorie, die “Sun” überschlägt 17 Kinder und der “Daily Telegraph” verhedderte sich gestern in bester Bild.de-Manier völlig.

Aber womöglich ist das alles auch völlig egal, solang er arbeitslos ist.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

*) Nachtrag, 13.55 Uhr: Unser Leser Ronny K. hat zumindest eine Erklärung für den angeblich anstehenden sechsfachen Nachwuchs gefunden:

Keith’ aktuelle Freundin Amy (32, nach eigenen Aussagen ebenfalls schwanger von ihm) scheint sein wildes Leben nicht zu beeindrucken.

Mordsberühmt

Ein geistig verwirrter Mann soll in New York die eigene Mutter brutal ermordet haben — Alltag für Boulevard-Journalisten. Wenn der mutmaßliche Mörder dann aber auch noch ein bekannter TV-Star ist, ist es ein Fall für die Titelseite. So titelte Bild.de schon am 24. November auf der Startseite:

Und auch am Montag wieder:

Alleine: Michael L. Brea war alles andere als ein TV-Star. In seiner sehr kurzen Karriere brachte er es gerade Mal auf einen kurzen Auftritt auf dem Bildschirm. Die “New York Daily News”, aus der Bild.de ausführlich abschreibt zitiert, nennt ihn einen “bit-part actor”; also einen Schauspieler der bestenfalls ein paar Zeilen Dialog bekommen hat. Laut Associated Content war der Auftritt sogar eine “walk on appearance” ohne jeden Dialog. Damit hatte es Brea noch nicht Mal zu einem Eintrag in der Filmdatenbank IMDB.com geschafft. Mit dem Samurai-Schwert hat er sich zumindest für Bild.de unsterblich gemacht — aber hier gilt ja schon lange die Devise: Ein Star ist man, wenn es “Bild” passt.

In dem Bemühen, dem Mord für das deutsche Publikum irgendeine Relevanz zu verleihen, macht Bild.de die Serie “Ugly Betty” kurzerhand zum Vorbild der deutschen Erfolgs-Soap “Verliebt in Berlin”. Wie Bild.de bereits 2006 selbst schrieb, stimmt das nicht: “Ugly Betty” startete anderthalb Jahre nach “Verliebt in Berlin” und stützte sich wie die deutsche Serie auf eine kolumbianische Vorlage.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Pferde, Schuhe, Focus

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Qualitätsmedien erliegen dem Spin einer irischen NGO”
(kobuk.at, Fabian Schmid)
Irren wegen der Wirtschaftskrise 20.000 herrenlose Pferde durch Irland, wie zum Beispiel “Spiegel Online” berichtet? Die irische Tierschutzorganisation ISPCA antwortet auf Anfrage: “There are no definitive numbers on horses abandoned in Ireland, our Inspectors have brought in 13 horses in 2007, 16 in 2008, 23 in 2009 and 41 so far this year.”

2. “Focus: Können die kein Englisch?”
(greenpeace-magazin.de)
Das Blog des “Greenpeace Magazin” befasst sich mit der aktuellen “Focus”-Titelgeschichte: “Ein Eisbär ist darauf zu sehen mit (schlecht aufretuschierter) Sonnenbrille – und unter der Schlagzeile ‘Prima Klima!’ die Behauptung: ‘Die globale Erwärmung ist gut für uns’.”

3. “24 Paar Schuhe. Im Schnitt …”
(stefanolix.wordpress.com)
Stefan schreibt zu einer von dpa zitierten Studie über das Kaufverhalten britischer Frauen: “Wo ist der Haken? Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Umfrage nicht repräsentativ.”

4. “Sturm im Wasserglas”
(sprengsatz.de, Michael Spreng)
Für Michael Spreng sind die neusten Wikileaks-Enthüllungen (auf cablegate.wikileaks.org), was Deutschland angeht, “völlig bedeutungslos”: “Das Ganze ist eine vom ‘Spiegel’ und anderen Medien inszenierte Scheinaufregung.”

5. “Wikileaks vs. USA – 4 : 0”
(bulldoglog.wordpress.com, Lars-Marten Nagel)
Lars-Marten Nagel vermutet in der Konzentration von Wikileaks auf die USA finanzielle Gründe: “Assange sagt selbst, dass nach den Großenthüllungen die meisten Spendengelder fließen. Auf Geld ist Wikileaks letztlich zum Selbsterhalt angewiesen. Die letzten Monate haben zudem klar gezeigt: Der riesige Bekanntheitsschub speist sich aus der Konfrontation mit der letzten verbliebenen Supermacht.”

6. “PRrisiert Social Media unsere Gesellschaft?”
(amendedestages.com, Christian)
Christian fragt sich, wie sehr die Gesellschaft durch soziale Medien PRisiert wird. “Das Tun rückt in den Hintergrund, das Darübersprechen in den Vordergrund. Wir machen immer mehr Dinge nur, um anschließend darüber sprechen zu können.”