Archiv für November 26th, 2010

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“Tatort Internet” und das Recht zu schweigen

Mindestens genauso spannend wie das, was in der Zeitung steht, ist ja häufig das, was nicht in der Zeitung steht.

Aber erst mal zurück zu dem, was tatsächlich gedruckt wird:

Seit dem Start von “Tatort Internet” berichtete “Bild” immer wieder wohlwollend über die RTL2-Sendung. Stephanie zu Guttenberg, First Lady von “Bilds” Gnaden und Gastmoderatorin der ersten Ausgabe, wurde für ihr Engagement gefeiert und zur “Gewinnerin” ernannt (BILDblog berichtete mehrfach darüber).

Am 12. November vermeldete “Bild” auf Seite 2:

“Tatort Internet” verstößt nicht gegen Jugendschutz

München – Wichtiger Erfolg für die RTL-2-Reihe “Tatort Internet”: Die TV-Sendung verstößt nicht gegen die Jugendschutzbestimmungen! Das bestätigte die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM). Der KJM-Vorsitzende Wolf-Dieter Ring sagte, dass die Gefahren des sexuellen Missbrauchs im Internet durch diese Sendung “ein Stück weit breiter diskutiert” und neue Zielgruppen erreicht würden.

Vergangene Woche sprach der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann bei einem Symposium der Initiative “White IT” in Hannover mit Fachleuten von Polizei und Wirtschaft über die Bekämpfung von Kinderpornografie und Kindesmissbrauch jenseits medialer Show-Effekte. Im Rahmen der Veranstaltung wurde “Tatort Internet” mehrfach kritisiert — so forderte die EU-Abgeordnete Sabine Verheyen (CDU) von den Medien “gehaltvolle Information” und setzte hinzu: “Damit meine ich nicht, was in der letzten Zeit über den Äther gegangen ist”.

Die Lokalredaktion Hannover jedoch ignorierte die Veranstaltung nahezu komplett und lud Minister Schünemann zum gemeinsamen Fernsehgucken, um seine Meinung zu “Tatort Internet” zu erfahren. Schünemanns durchaus differenzierte Antworten (“Eine ehrenwerte Idee.”, “Fahndung ist Aufgabe der Polizei, nicht von TV-Reportern.”) fasste “Bild” in der Überschrift so zusammen:

Innenminister über TV-Jagd auf Kinderschänder: "Dieser dunkle Bereich gehört ins Licht der Öffentlichkeit"

Diesen Dienstag teilte die Kommission für Zulassung und Aufsicht der Landesmedienanstalten (ZAK) mit, dass “Tatort Internet” gegen den Rundfunkstaatsvertrag verstoßen habe: In den beiden ersten Folgen seien die potentiellen Täter nicht hinreichend unkenntlich gemacht worden, “so dass sie von ihrem sozialen Umfeld durchaus identifizierbar waren”.

Zahlreiche Medien berichteten über die Entscheidung der ZAK — in “Bild” ist dazu nichts zu finden.

Mit Dank an a Friend.

Bittere Halbwahrheiten

Dass Menschen aus anderen Ländern nicht etwa in die Kulturnation, sondern in den Wohlfahrtsstaat Deutschland einwandern wollen, ist für die Klientel von “Bild” alles andere als neu. Trotzdem – oder gerade deshalb – lieferte die Boulevardzeitung am Dienstag auf der Titelseite noch einmal die “bittere Wahrheit”:

Die bittere Wahrheit über Ausländer und Hartz IV

Und nochmal in groß:

Ausländer-Statistik: 90 Prozent der Libanesen kriegen Hartz IV

In der Tat haben es die drei “Bild”-Autoren geschafft, Zahlen der Bundesagentur für Arbeit mit denen des Statistischen Bundesamtes zu kombinieren und in eine Tabelle zu gießen. Haarklein listen sie auf, wie viele Menschen verschiedener Nationalitäten ohne deutschen Pass in Deutschland “arbeiten dürften” und trotzdem Sozialleistungen beziehen:

Sogar für einen Quellennachweis hat es gereicht:

Doch warum bestreiten so viele Libanesen in Deutschland ihren Lebensunterhalt nicht selbst, wenn sie doch nach amtlicher Statistik ausdrücklich arbeiten dürfen? Allwetter-Soziologe Christian Pfeiffer hat die passende Erklärung parat:

Woher kommen die großen Unterschiede?

Soziologe Prof. Christian Pfeiffer: Viele Libanesen etwa waren zu Beginn Asylbewerber und durften nicht arbeiten. Dieser Lebensstil hat sich von Generation zu Generation durchgesetzt. Das Bildungsniveau ist extrem niedrig, Kinder gelten als Einkommensquelle, gearbeitet wird höchstens schwarz. Gerade die Libanesen haben sich oft in dieser Armutslage eingerichtet.

Scheinbar um Ausgleich bemüht, hält “Bild” fest, dass Ausländer natürlich nicht faul seien und sogar sehr selten Arbeit ablehnen, die ihnen von der Arbeitsagentur angeboten wird. Doch wie passt das mit dem speziellen libanesischen Lebensstil zusammen? Dass Libanesen Kinder als Einkommensquelle ansehen, haben sie offenbar mit der Redaktion von “Bild” gemein. Denn wie man den amtlichen Statistiken ohne weiteres entnehmen kann, sind 6.541 (oder 17,7%) der amtlich erfassten Libanesen unter 15 Jahre alt — und dürfen daher alleine schon wegen der Schulpflicht nicht ihren Lebensunterhalt verdienen. Insgesamt sind 9.200 Libanesen als “nicht erwerbsfähig” registriert: zu jung, zu krank, zu alt für den Arbeitsmarkt.

In den ersten vier Jahren bekommen geduldete Ausländer allenfalls eine Arbeitsstelle, wenn sich kein Deutscher dafür findet. Nach Auskunft von Pro Asyl kommt diese Vorrangigkeitsprüfung in vielen Regionen Deutschlands einem “faktischen Arbeitsverbot” gleich. Sie mögen sich in Armut eingerichtet haben, sie mögen laut Ausländergesetz arbeiten “dürfen”, einem großen Teil von ihnen bleiben aber schlichtweg keine Möglichkeiten.

Das hätte “Bild” auch wissen müssen: Die Bundesagentur für Arbeit hatte für das Blatt eigens eine Sonderauswertung gemacht, in der die Gesamtzahl der Ausländer noch nach Erwerbsfähigen und nicht Erwerbsfähigen aufgeschlüsselt war — doch die Zeitung rechnete einfach mit der (natürlich höheren) Gesamtzahl weiter und liefert so eine sehr einseitige Statistik. An wirklichen Erklärungen scheint die Redaktion jedenfalls bedeutend weniger Interesse als an der riesigen Schlagzeile gehabt zu haben.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Sebnitz, Raketen, Denis Scheck

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Niederschlag von Sebnitz”
(zeit.de, Martin Machowecz)
Martin Machowecz besucht die Kleinstadt Sebnitz, die vor zehn Jahren Schlagzeilen wie “Kleiner Joseph – gegen 50 Neonazis hatte er keine Chance” oder “Ein Kind, ertränkt wie eine Katze” zu verarbeiten hatte. “Den Mord hatte es nie gegeben. Wahr ist: Der kleine Joseph, Sohn eines deutsch-irakischen Apotheker-Ehepaares, ertrank im Dr.-Petzold-Bad. Ursache war wohl ein Herzleiden.”

2. “Die Rakete, die keine war…”
(scienceblogs.de/planeten, Ludmila Carone)
Planetologin Ludmila Carone kommentiert die Aufregung von US-Fernsehsendern um einen angeblichen Raketenstart vor einigen Wochen. “Es wird ja ständig diese Kluft zwischen Wissenschaftlerinnen und normalen Menschen beklagt und immer so getan, dass sich die Wissenschaftlerinnen halt mehr anstrengen müssten. Aber mal ehrlich. Bei so einem Mist wie dieser falschen Raketen-Geschichte können wir uns anstrengen soviel wir wollen, wir haben von vornherein verloren.”

3. Interview mit Mina Ahadi
(jungle-world.com, Daniel Steinmaier)
Menschenrechtsaktivistin Mina Ahadi liefert Hintergründe zu den Mitte Oktober im Iran verhafteten Journalisten von “Bild am Sonntag”.

4. Interview mit Denis Scheck
(youtube.com, Video, 7:36 Minuten)
Literaturkritiker Denis Scheck liest 150 bis 180 Bücher pro Jahr und wird dafür “fürstlich bezahlt”.

5. “Geht’s noch???”
(fraufreitag.wordpress.com)
Lehrerin Frau Freitag liest antisemitische Kommentare ihrer Schülerinnen auf Facebook und greift ein. “Die sind doch keine kleinen Kinder mehr. Die sollen nächstes Jahr in die Welt gehen und Berufe erlernen.” Siehe auch den Folgebeitrag “Is alles nicht so einfach”.

6. “Herzattacke: 9-Live-Moderator erreicht Notrufzentrale nicht”
(der-postillon.com)