Archiv für Oktober 14th, 2010

A Streetcar Named Desire

In Leipzig sind heute Morgen zwei Straßenbahnen zusammengestoßen. Die “Leipziger Volkszeitung” hat fleißig fotografiert und eine zwölfteilige Bildergalerie angelegt, damit man mal von allen Seiten sehen kann, wie es so aussieht, wenn eine Straßenbahn auf eine andere auffährt.

Doch trotz einiger kaputter Scheiben und zweier deformierter Bahnen war das alles für Bild.de offenbar nicht spektakulär genug. Die dortige Bildergalerie wird daher mit einem Foto eröffnet, das aus dem Mai 2006 stammt und mit dem aktuellen Unfall nichts zu tun hat:

Spektakulärer Straßenbahn-Unfall (Archivbild).

Mit Dank an Daniel K., Clemens, Oleg W. und Torsten.

Nachtrag, 23.10 Uhr: Bild.de hat das Foto entfernt.

Don’t call it Schnitzelkrieg

Vor sieben Monaten kam es im rheinland-pfälzischen Betzdorf bei der Essensausgabe in der örtlichen Christophorus-Grundschule zu einer folgenschweren Verwechslung: Eine Lehrerin hatte an muslimische Schüler versehentlich Schweineschnitzel verteilt, die diese aus religiösen Gründen nicht hätten essen dürfen. Der Vorfall sorgte für rund zwei Wochen für etwas Aufregung in der 10.000-Einwohner-Stadt, dann war lange Ruhe.

So lange, bis eine tobende Integrations-Debatte den richtigen Hintergrund bot, die Geschichte medial noch einmal so richtig hoch zu kochen: Diese Woche berichteten dann RTL und “Bild” über den Fall und erklärten, die Lehrerin, die seit dem Vorfall krank geschrieben ist, sei wahlweise “gefeuert”, “suspendiert” oder “beurlaubt” worden (BILDblog berichtete).

Und während sich regionale Medien wie die “Siegener Zeitung” und die “Rhein-Zeitung” um eine angemessene Darstellung der Geschichte bemühen, wird sie im deutschsprachigen Ausland munter weiter gedreht:

Der Schweizer “Blick” glaubt etwa zu wissen:

Jetzt musste die 59-jährige die Christophorus-Gesamtschule im deutschen Betzdorf verlassen.

Mal davon ab, dass es sich bei der Christophorus-Schule um eine Grundschule handelt, “musste” die Lehrerin die Schule mitnichten verlassen: Der Schulleiter hatte ihr nach der ersten Aufregung lediglich geraten, nach Hause zu gehen, um sich zu erholen — seitdem ist sie krank.

Nicht einmal den vollständigen “Bild”-Artikel, auf den sie sich berufen, haben die “Blick”-Autoren gelesen, wenn sie behaupten:

An der Schule wurde Schweinefleisch daraufhin komplett abgeschafft.

Ja, vorübergehend. Seit Schuljahresbeginn wird den Schülern auch wieder Schweinefleisch zum Mittag angeboten, wenn sie es denn wollen.

Eine ähnliche Ahnungslosigkeit stellt die österreichische Boulevardzeitung “Heute” unter Beweis, die erklärt:

Die Kündigung einer deutschen Lehrerin in Rheinland-Pfalz sorgt bei unseren Nachbarn für Riesenaufregung. Die türkischen Eltern hatten den Rauswurf der Pädagogin verlangt, der Schulleiter gab den Protesten nach.

Und weiter:

Ein paar Tage später standen die erbosten Eltern der Kinder in der Schule, verlangten vom Direktor die Kündigung von Ursula E. (59). Dieser gab den Protesten nach. Mehr noch: Er verhängte an der Schule (von 302 Kindern sind 45 muslimisch) ein Schweinefleischverbot.

Dass bei einer derart gezielten Falschinformation die Leserkommentare besonders derb ausfallen, ist natürlich klar.

Aber auch in Deutschland sind die Medien an den Fakten des Falls nicht interessiert: Zu Beginn seiner gestrigen ZDF-Talkshow berichtete Markus Lanz im Plauderton, die Lehrerin sei “suspendiert” worden.

Mit Dank an Raphael M., Jörg W., Michael S., Michael P. und Philipp S.

heute  

Von Gewalt gegen die Polizei und Polizeigewalt

Die Bundesregierung hat gestern einen Gesetzentwurf beschlossen, durch den Polizeibeamte und andere Einsatzkräfte besser vor gewalttätigen Angriffen geschützt werden soll. Unter anderem soll schon der bloße Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte mit drei statt bisher zwei Jahren Gefängnis geahndet werden können.

Zur Illustration zeigte die “heute”-Sendung des ZDF diverses Archivmaterial, das Angriffe auf die Polizei zeigen sollte. Während der Sprecher von Leuten sprach, “die sich gegen das Abführen oder einen Polizeigriff wehren”, waren diese Bilder zu sehen:

Die gezeigten Aufnahmen haben eine gewisse Berühmtheit erlangt. Und tatsächlich wurde dem Mann im blauen T-Shirt vorgeworfen, bei der Demonstration “Freiheit statt Angst” in Berlin vor einem Jahr Polizisten gestört und Widerstand geleistet haben.

Zur Illustration des Themas eignen sich die Aufnahmen dennoch denkbar schlecht. Die Ermittlungen gegen den Mann wurden nämlich eingestellt. Stattdessen wurde gegen zwei Polizisten ermittelt, die ihn zusammengeschlagen haben sollen.

Mit Dank an Johannes Z.!

Focus Money, Tatort Internet, Whistleblowing

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Aktienbetrug – Journalisten unter Verdacht”
(ndr.de, Video, 10:41 Minuten)
Zwei Journalisten von “Börse online” und ein Journalist von “Focus Money” stehen im Verdacht, Teil eines kriminellen Netzwerks zu sein, das durch gezielte positive oder negative Berichterstattung Geld verdiente.

2. “Live-Video Manipulation-Software”
(nerdcore.de, René, Videos)
Zwei Videos zeigen auf, wie Videoinhalte manipuliert werden können. Mehr dazu bei der TU Ilmenau und beim Max-Planck-Institut.

3. “‘Tatort Internet’ wird zum Pranger”
(spiegel.de, Konrad Lischka, Hannah Pilarczyk, Christian Stöcker und Alexander Kühn)
Einer der Männer, die in der RTL2-Sendung “Tatort Internet” Kontakt zu Minderjährigen suchten, “wurde unzureichend anonymisiert – und konnte enttarnt werden”. “Bei ihm zu Hause sei ‘die Hölle’ los, schreibt er in einer Mail: ‘Telefonterror, Beschimpfungen’, Facebook-Kontakte würden mit Mails überschüttet. Auch seine Familie werde massiv bedroht.”

4. “Wie RTL für Lolita-Prostitution wirbt”
(faz-community.faz.net, Stefan Niggemeier)
Stefan Niggemeier zeigt ein “Reportage-Highlight” von RTL, einen Beitrag über “Deutschlands erstes Teeny-Bordell” in der Dokumentations-Reihe “30 Minuten Deutschland”. Siehe dazu auch “Die zweite Seite von RTL” (fernsehkritik.tv, Video).

5. “Der gute Verrat”
(freitag.de, Daniel Domscheit-Berg)
Daniel Domscheit-Berg verteidigt das Whistleblowing: “Whistleblowing ist für eine Gesellschaft ein wichtiger Fehlerkorrekturmechanismus, und oftmals auch die Ultima Ratio, das letzte Mittel, um die Zustände zu verbessern. Es geschieht dort, wo Insider und Praktiker erkennen, dass etwas wirklich schief läuft. Und es ist die effizienteste Methode für positive Veränderung – wo man sie zulässt. ”

6. “Truth Lies Here”
(theatlantic.com, Michael Hirschhorn, englisch)
Michael Hirschhorn macht sich Gedanken über Fakten in US-amerikanischen Debatten. “What is unique, and uniquely concerning, about digital media is the speed with which properly packaged (dis)information can spread and how hard it is for fact and reason to catch up.”