Archiv für August 31st, 2010

Tolle Reise auf tollem Schiff

Es war eine “tolle Fahrt in einem Doppelstockbus”, bevor die Reporterin das Schiff bestieg. Dort ist dann alles “supertoll, weil alles leuchtet und glänzt und die Treppenstufen mit Glitzersteinen verziert sind”. Der Balkon in der Kabine war “toll”, die Büffets “sehr lecker”, der Kellner “sehr lustig” und die Shows im Bord-Theater “toll”.

Klar, dass ihr Fazit über die Mittelmeer-Kreuzfahrt mit der “MSC Fantasia” da lautet:

Ich fand die Reise mit diesem großen Schiff toll, vor allem, weil ich so gerne auf das Meer schaue.

Was die Reisereportage im “Münchner Merkur” von dem Lobhudel-Journalismus unterscheidet, den man sonst im Bezug auf Kreuzfahrten leider schon fast gewohnt ist, ist die Autorin: Heidi ist erst elf Jahre alt und als “Kinderreporterin” im Einsatz.

Oder wie es der “Merkur” ausdrückt:

Immer, wenn Ferien sind, schicken wir die Kinderreporter los, damit sie uns von den Reisezielen dieser Welt berichten. In diesem Jahr geht es um Kreuzfahrten.

Weil wir wissen wollten, was das bedeutet, haben wir beim “Münchner Merkur” nachgefragt. Die Redaktion erklärt uns, dass im Frühjahr Reisen ausgelobt würden, “für die sich die Kinder ganz offiziell bewerben können.”

Aus allen Bewerbungen wählt ein Team aus Redakteuren die jeweiligen Reporter nach Eignung und Fähigkeit aus. Die Reisen werden natürlich, das ist auch bei professionellen und hauptberuflichen Reisereportern meistens der Fall, von Veranstaltern unterstützt, was der Objektivität der Berichterstattung allerdings nicht im Wege steht. Von den Kindern (sie sind in keinem Fall mit einem Redaktionsmitglied verwandt oder sonstwie verbunden) wird keine positive Berichterstattung erwartet.

Man kann es einem elfjährigen Mädchen nicht übel nehmen, dass sie von einer Kreuzfahrt (mutmaßlich ihrer ersten) begeistert ist und letztlich alles – mit Ausnahme von Neapel (dreckig) und Landausflügen (teuer) – “toll” findet. Aber wenn der “Merkur” ihren euphorischen Text über die “MSC Fantasia” abdruckt und im Internet gleich die Website verlinkt, auf der man die Reise buchen kann, ist das vermutlich effektiver als jede offizielle Anzeige, die die Reederei hätte schalten können.

Mit Dank an Hans P.

Der Täter ist immer ein Schüler

Ereignisse, die gerade im Moment stattfinden, sind nicht immer leicht zu durchblicken. Gerade Amokläufe haben die Tendenz, wegen ihrer willkürlichen, oft extremen Gewalt zumindest anfangs sehr unübersichtlich zu sein. Idealerweise hat der Schutz der Bevölkerung, die Entwaffnung des Täters und die Versorgung von Verletzten auch Vorrang vor einer korrekten, detaillierten Berichterstattung der Situation.

Als es gestern in der slowakischen Hauptstadt Bratislava zu einer Schießerei kam, war längere Zeit unklar, was überhaupt los war. Die Deutsche Presseagentur (dpa) vermeldete um 14.22 Uhr:

Die Tageszeitung “SME” berichtete auf ihrer Internetseite, der Täter sei ein 15-jähriger Drogensüchtiger. Er habe sich anschließend selbst getötet.

Um 15.27 Uhr hieß es plötzlich:

Der etwa 50 Jahre alte Mann habe mit einer Maschinenpistole und zwei Gewehren in einer Wohnung zunächst fünf Menschen erschossen und dann auf dem Weg nach draußen einen weiteren Mann.

In diesem Chaos kann man es den Machern von Bild.de kaum übel nehmen, dass auf ihrer Startseite zu diesem Zeitpunkt folgender Teaser zu sehen war:

Schüler (15) feuert mit MP um sich: 6 Tote

Der dazugehörige Artikel wurde im Laufe des Tages mehrfach überarbeitet und an den aktuellen Erkenntnisstand angepasst. Allerdings nicht vollständig.

Und so heißt es auch heute noch in der Bildergalerie unter dem Foto des 50-jährigen Täters:

Schüler ballert um sich: 6 Tote in Bratislava

Mit Dank an Paul Z., Klaus H. und den anderen Hinweisgeber.

Sarrazin, RTL-Videotext, Jessen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Sarrazin führt Deutschland vor”
(konjovic.de, Georg Konjovic)
“Es steht 5:0 für Thilo Sarrazin im Spiel ‘Provokanter Autor’ versus ‘Hysterie-süchtige Republik’.”

2. “Sarrazin und die Medien: Pure Heuchelei”
(carta.info, Robin Meyer-Lucht)
Für Robin Meyer-Lucht hatte die “Huldigung in Blitzlichtgewittern” anlässlich der Pressekonferenz zur Buchvorstellung von Thilo Sarrazin etwas Bedrückendes. Der Journalismus renne “sklavisch der Gier des Publikums nach”, denn Sarrazin sei “aus dem Stoff gemacht, der Auflage bringt”, ein “Auflagen- und Aufmerksamkeitsgoldstück”. Siehe dazu auch “Ein Abgrund an Journalismus-Verrat” (blog-cj.de, Christian Jakubetz).

3. “Reisebetrug über RTL-Videotext”
(ndr.de, Video, 7:20 Minuten)
Eine auf RTL Videotext geschaltete Werbeanzeige für Urlaubsreisen stellt sich als betrügerisches Angebot heraus.

4. “Vom Mordopfer ein falsches Bild machen”
(derstandard.at, Harald Fidler)
“Krone”, “Österreich” und “Kurier” veröffentlichen ein Bild einer ermordeten Frau, das unter ihrem Namen bei Facebook zu finden war. “Ob es tatsächlich die Seite des Opfers war, oder, wofür es Hinweise gibt, einer Frau gleichen Namens gehört, war Sonntag nicht zu eruieren.”

5. “Die häufigsten Fehler der taz-Autoren”
(blogs.taz.de/hausblog, Matthias Fink)
“Der häufigste Fehler ist aber sicher das Auseinanderschreiben von allem und jedem. Selbst wer weiß, dass die reine Getrenntschreibung nicht das Wahre ist, setzt oft nur einen Bindestrich, wobei ‘Heinrich Heine-Straße’ mit ‘Heinrich-Heine Straße’ konkurriert.”

6. “Sag beim Abschied leise Servus!”
(zeit.de, Jens Jessen)
“Zeit”-Feuilletonchef Jens Jessen mahnt zur Zurückhaltung beim Ausstand nach dem Praktikum. “Als ich zum Ende meiner Hospitanz bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mehrere Bleche Pflaumenkuchen servierte, wurde dieser zwar gerne gegessen – aber vielleicht auch zu gerne, denn der Feuilletonchef verabschiedete mich mit den Worten, dies sei der beste Artikel, den ich bisher abgeliefert hätte.”