Archiv für August 27th, 2010

Journalisten im Drogerierausch

Über “Spiegel Online” heißt es häufig, Fehler würden dort schnell und transparent korrigiert.

Schnell ging es offenbar wirklich, den Fehler im Vorspann dieses Artikels zu korrigieren:

Schlecker bleibt unter Druck. 150.000 Datensätze von Online-Kunden der Drogeriekette konnten im Internet abgerufen werden. Die Sicherheitslücke ist zwar inzwischen geschlossen. Doch nun ist öffentlich, dass neben der Allianz und dem Finanzministerium auch der SPD-Vorstand dort einkauft.

Der letzte Satz war, höflich ausgedrückt, Unfug — und deshalb auch nach wenigen Stunden wieder gelöscht.

Richtig ist, was im Artikel steht:

Der für die Panne verantwortliche Online-Dienstleister der Drogeriekette hatte dem Bericht zufolge auch das Finanzministerium, den Versicherungskonzern Allianz, das Bundesverwaltungsgericht und den SPD-Parteivorstand als Kunden.

So steht es auch in dem Artikel in “Bild”, auf den sich “Spiegel Online” beruft:

Brisant: Der Online-Dienstleister, bei dem die Schlecker-Daten ungesichert liegen, berät auch Bundesministerien, das Bundesverwaltungsgericht, die Allianz und den SPD-Parteivorstand.

Transparent wurde da allerdings (mal wieder) nichts korrigiert: Der irreführende Satz wurde einfach aus dem Vorspann getilgt und gut war’s.

Anderseits ist das immerhin mehr, als beim wortgleichen Artikel auf manager-magazin.de geschehen ist, wo es immer noch heißt:

Schlecker: Auch die SPD und die Allianz kaufen bei Schlecker ein. Schlecker bleibt unter Druck. 150.000 Datensätze von Online-Kunden der Drogeriekette konnten im Internet abgerufen werden. Die Sicherheitslücke ist zwar inzwischen geschlossen. Doch nun ist öffentlich, dass neben der Allianz und dem Finanzministerium auch der SPD-Vorstand dort einkauft.

Mit Dank an Peter A., Alexander S., Markus E. und André H.

Nachtrag, 28. August: Das “Hamburger Abendblatt” schreibt heute in seiner Printausgabe:

Laut “Bild”-Zeitung umfassten die Datensätze Vor- und Nachnamen, Adresse, Geschlecht, E-Mail-Adresse und Kunden-Profil sowie 7,1 Millionen E-Mail-Adressen von Newsletter-Kunden der Drogeriefirma. Zu den Kunden gehörten demnach das Finanzministerium, die Allianz, das Bundesverwaltungsgericht und der SPD-Parteivorstand.

Und tagesschau.de berichtete schon gestern:

Zwar sei der Fehler inzwischen behoben, sagte ein Sprecher des Unternehmens. Bekannt ist aber nun, wer alles bei Schlecker einkauft. Zum Beispiel das Finanzministerium.

Mit Dank an Jürgen K. und Tobias P.

2. Nachtrag, 29. August: Und der Deutschlandfunk meldete gestern:

Zu den Online-Kunden sollen unter anderem das Finanzministerium, das Bundesverwaltungsgericht und der SPD-Parteivorstand gehören.

Mutti, ich bin im Buch!

Vermutlich sind letztlich Bastian Sick und die Süddeutsche Verlagsgesellschaft schuld. Schließlich war es vor einigen Jahren die Idee des SZ-Verlags gewesen, das Verlagsbudget mit der 100-teiligen “Süddeutsche Zeitung Bibliothek” aufzustocken. Und schließlich war es Bastian Sick gewesen, der Autor der oberlehrerhaften “Spiegel Online”-Kolumne zu sprachlichen und grammatikalischen Schludrigkeiten, der die Sammlung, Ordnung und Kommentierung von Leserzuschriften zur Marktreife geführt hatte. Man muss dem Respekt zollen: Den Lesern ihre eigenen Einsendungen kostenpflichtig anzudrehen, das muss man ja auch erst einmal schaffen.

Aber wie dem auch sein mag, die Verknüpfung und Perfektion beider Ideen darf sich “Spiegel Online” auf die Fahnen schreiben.

Wer nämlich beispielsweise in dieser Woche den Beitrag “Schräge Schilder – Vorsicht, Laternenmast von achtern” auf “Spiegel Online” las, der bekam als Dienstleistung am Leser sogleich eine freundliche Serviceleistung des Spiegel Verlages mitgeliefert — in Form eines kleinen Kastens, der nicht nur auf das Buch “Schräge Schilder” in der Edition “Spiegel Online” verweist, sondern auch einen ganz besonders freundlichen Link direkt zum Spiegel-Shop beinhaltete:

Spiegel-Online-Buchtipp: Schräge Schilder

Weil man aber so einen kleinen Kasten schnell mal übersieht, waren die Damen und Herren bei “Spiegel Online” so nett und haben auch in der Bildergalerie zum zugehörigen Text einen dezenten Hinweis auf das bestimmt sehr lustige Buch versteckt:

Mehr als 150 der schrägsten aller Schilder — Im Spiegel Shop und im Handel erhältlich

Dieses Prinzip ist bei “Spiegel Online” weder ein Einzelfall noch neu. Im Spiegel-Shop finden sich insgesamt immerhin 18 Titel, die Inhalte von “Spiegel Online” in Buchform zusammenfassen und die entsprechend bequem direkt auf der Plattform selbst beworben werden können – und da sind drei “Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod”-Spiele sowie die zehn Hörbücher mit “Spiegel Online”-Inhalten noch nicht einmal eingerechnet.

Bereits im April wurde beispielsweise auf ähnliche Weise das ebenfalls “bequem im Spiegel-Shop” zu bestellende Buch “Sorry, wir haben die Landebahn verfehlt” angepriesen. Ein Buch, das nach Angaben von “Spiegel Online” “die lustigsten Flugzeug-Erlebnisse von Spiegel Online-Lesern” versammelt.

Eine erkennbare Unterscheidung zwischen Werbung und redaktionellem Beitrag war auch damals nicht auszumachen. Auf der Startseite wurde das “Thema” selbst angekündigt, samt einer redaktioneller “Themenseite”, die überraschenderweise den selben Titel wie das Buch trug:

Kurioses aus dem Cockpit: "Ihr Ankunft-Gate ist auch Ihr Absturz-Gate". In der Luft sind Pilotenversprecher manchmal gar nicht lustig. Aber nach der Landung... - ein SPIEGEL-ONLINE-Buch über kuriose Cockpit-Ansagen provozierte Leser zur Dokumentation neuer Höhenflüge. Wie würde es Ihnen gehen, wenn Sie hören: "Liebe Fluggäste, gerade kam es zum Totalabsturz"?

Auf der Beitragsseite selbst war dann ein freundlicher Hinweis auf das Buch zu sehen, der direktemang zum Spiegel-Shop führte:

Die lustigsten Flugzeug-Erlebnisse von SPIEGEL-ONLINE-Lesern - jetzt auch als Buch und Hörbuch!

Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis im Spiegel-Shop auch die schlauesten Kommentare zu allen Themen der “Spiegel Online”-Foren zum Kauf angeboten werden werden. Aber keine Sorge, Sie werden davon erfahren — die kritischen Reporter von “Spiegel Online” werden mit Sicherheit eine Themenseite anlegen und ausführlich berichten. Wie das gute Journalisten eben tun.

Mit Dank auch an Kristian S.

Das Pornokino des 21. Jahrhunderts

Neulich ist in “Bild am Sonntag” und auf Bild.de ein Artikel erschienen, in dem sich Autorin Beate Krämer frei nach dem Motto “Denk doch mal nur einer an die armen Kinder” über YouTube und die verdorbenen Jugendsender VIVA, MTV beklagte:

Das aktuelle Kinderprogramm Christina Aguilera zwischen zwei Frauenschenkeln, Beyonce mit gespreizten Beinen, Lady Gaga im kinky Domina-Look. Die Pop-Videos, die rund um die Uhr in den Jugendsendern Viva, MTV und auf Youtube laufen, zeigen Bilder, die es früher nur im Pornokino gab.

Krämer schreibt etwa über ein Video mit Christina Aguilera:

Sie trägt Knapptrikot, Peitsche, Bondagefesseln, im Mund einen Knebel mit Strass besetzt, es gibt angedeuteten Gruppensex, Frauen lecken sich ab, Hand im Schritt, Wet-Look-Dancing, gespreizte Schenkel… In Musikvideos geht es immer eindeutiger um Sex und Gewalt.

Bondagefesseln, angedeuteter Gruppensex, Frauen lecken sich ab, gespreizte Schenkel — und das alles ohne Altersbeschränkung und sogar “rund um die Uhr”? Das ist ja unfassbar. Wo gibt’s denn sowas?

Um diese Frage zu beantworten, hilft vielleicht ein Szenewechsel nach Neuburg im Landkreis Nordwestmecklenburg: Dort wurde der Verwaltungschef des Amtes Neuburg suspendiert, weil er laut “Lübecker Nachrichten” “im Dienst Pornos im Internet betrachtet haben” soll.

Und wie illustriert “LN-Online” diese Nachricht? Mit einem vermutlich in der eigenen Redaktion geschossenen Symbolbild:

Neuburg: Porno-Vorwürfe - Verwaltungschef suspendiert Ein Mann schaut auf seinem Büro-Computer eine Erotik-Internet-Seite an (gestellte Szene).

Moment mal! Kommt uns diese “Erotik-Internet-Seite” nicht irgendwie bekannt vor? Vielleicht mal ein wenig ranzoomen:

Screenshot: Bild.de

Richtig. Auch wenn das Logo verpixelt wurde, handelt es sich hierbei eindeutig um die Startseite von “Bild.de Erotik” (unser Screenshot wurde am 26. August angefertigt):

Bild Erotik

Und so ganz Unrecht hat “LN-Online” nicht damit, die Erotikseite von Bild.de symbolisch für Internetpornos stehen zu lassen. Denn all das, was “Bild am Sonntag” an Viva, MTV und YouTube als Dinge “die es früher nur im Pornokino gab” kritisiert, können sich Kinder und Jugendliche ab 0 Jahren auch ganz bequem auf Bild.de holen.

Mit Dank an Swen W.

Benaissa, Superstau, Martinetti

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Was würde Tucholsky zum ‘Nadja-Prozeß’ schreiben?”
(raflauaus.de, Achim Flauaus)
Rechtsanwalt Achim Flauaus schaut den Journalisten beim Prozess gegen Nadja Benaissa zu: “Nachdenklich stimmt vor allem der unfaßbare Aufwand, mit kilometerlangem Kabelsalat, unzähligen Kameras und Stativen und den unvermeidlichen und halsbrecherisch in die Fahrbahnen hineinragenden oder auf Gehwegen abgeparkten ‘Ü-Wagen’ (sagt man so?) mit monumentalen Satellitenschüsseln auf dem Dach und das alles in einer Anzahl, als gelte es über die Ankündigung des 3. Weltkrieges oder zumindest einen ‘G-8-Gipfel’ zu berichten.”

2. “Hart aber leer”
(spiegel.de, Stefan Kuzmany)
Stefan Kuzmany analysiert “Hart aber Fair” mit Frank Plasberg. “An wirklichen Ergebnissen ist er nicht interessiert – sondern nur an der nächsten Pointe.”

3. “Schlecht, schlechter, Sportjournalismus”
(feed-magazin.de, Daniel Wichmann)
Daniel Wichmann rezensiert ein Buch von Simon Grünke: “‘Hofberichterstattung im System Sport’ ist ein Buch für alle, die sich abends in der Kneipe oder morgens im Büro gerne über kumpelhafte Moderationen à la Johannes B. Kerner oder seichte Interviewversuche von ‘Duzmaschine’ Waldemar Hartmann aufregen können.”

4. “Die Chemie stimmt”
(juliane-wiedemeier.de)
Inhalte der Website der Tageszeitung “Die Rheinpfalz”, Rheinpfalz.de, werden auf Rheinneckarweb.de mit Inhalten des lokalen Chemiekonzerns BASF geteilt. Juliane Wiedemeier schreibt dazu: “Doch, die PR-Abteilungen von Chemie-Konzernen wissen schon, was sie tun. Was die Rheinpfalz allerdings geritten hat, bleibt mir unerklärlich.”

5. “Vom rätselhaften Verschwinden des Mega-Staus”
(blog.tagesschau.de, Ariane Reimers)
Ariane Reimers macht sich in China auf die Suche nach dem in den Medien vermeldeten 100 Kilometer langen Superstau. Doch sie findet ihn nicht: “Vielleicht hat irgendjemand einfach nur diese vielen kleine Staus zusammengezählt und daraus den Super-Stau komponiert. Und weil es so eine schöne Geschichte ist, haben andere sie dann auch geschrieben.”

6. “Nella Martinetti – Ein Leben zwischen Applaus und Abgrund”
(sf.tv, Video, 25:49 Minuten)
Ein Porträt der Schlagersängerin Nella Martinetti, die seit Jahrzehnten in enger Symbiose mit dem Boulevard lebt und von sich sagt, sie sei “kamerasüchtig” und eine “Blick-Frau”.