Archiv für Juli 21st, 2010

Der Lübecker Fenstersturz

So kann man sich natürlich auch eine Geschichte basteln:

Die unglaublichste Geschichte des Tages, gefunden bei stern.de: Stürzte dieses Paar beim Sex aus dem Fenster?

Die Zweifel, die “Bild” in der Überschrift simuliert, halten keine fünf Zentimeter bis zum Vorspann, dann ist daraus Gewissheit geworden:

Zwischen Höhepunkt und Vorgarten lagen etwa fünf Meter: Mirja P. (30; alle Namen geändert) und Robert K. (28) fielen beim Sex aus dem Fenster im ersten Stock!

Oder doch nicht?

Das berichtete Stern.de. Nachbarn sollen sie beim Liebesspiel vorm Sturz beobachtet haben.

stern.de wiederum hat sein Video über den Vorfall direkt vom Online-Video-Liferanten “Zoom In”, mit Material vom “Nachrichtendienst” “Nonstop News”, der sich auf das Abfilmen von Unfallstellen, Blaulichtern und Leichenwagen spezialisiert hat.

“Nonstop News” war – neben den Nachbarn, die offenbar bereitwillig in jedes Mikrofon plauderten, das man ihnen unter die Nase hielt – auch die einzige Quelle für einen “Nachrichten”-Beitrag des Boulevardsenders RTL, in dem eine Reporterin dramatisch in die Kamera sprach:

Nachbarn wollen das junge Pärchen hier im ersten Stock dieses Mehrfamilienhauses beim Liebesakt auf der Fensterbank beobachtet haben.

RTL würde nie behaupten, dass stimmt, was die Nachbarn beobachtet haben wollen: “Das Paar soll hier Geschlechtsverkehr gehabt haben”, sagt die Offsprecherin wichtigtuerisch, während Schwarz-Weiß-Bilder zweier sich gegenseitig entkleidender Menschen zu sehen sind — eine “Nachgestellte Szene”, natürlich.

Etwas Gänzlich anders stellen sich die Ereignisse in den “Lübecker Nachrichten” dar: Dort hatten die beiden Personen zunächst gemeinsam auf dem Fenstersims gesessen und die Füße heraus baumeln lassen:

Plötzlich ließ sich das Paar auf einen etwa 15 Zentimeter breiten Vorsprung an der Hauswand herab – von dort kamen sie allerdings aus eigener Kraft offenbar nicht mehr zurück in die Wohnung. Ob die beiden daraufhin freiwillig in die Tiefe gesprungen sind, weil ihnen keine andere Lösung eingefallen ist, oder ob die jungen Leute von dem Vorsprung abgerutscht sind, war gestern noch unklar.

Der Lübecker Internetdienst “HL-Live” wurde gleich noch eine Spur deutlicher:

Den Bericht eines Fersehsenders, das Pärchen sei “beim Sex aus dem Fenster gefallen”, weist Polizeisprecher Jan-Hendrik Wulff als Unsinn zurück. Beide seien beim Eintreffen der Polizei bekleidet gewesen.

Mit Dank an Volker G. und Rainer B.

Nachtrag, 16.55 Uhr: Die Meldung hat es – inklusive einiger zusätzlicher übersetzungs- und transportbedingter Fehler – auch ins Repertoire der britischen “Sun” geschafft.

Mit Dank an Sabine T.

Große Leuchte

Am Wochenende stellte die “Welt am Sonntag” eine “Solarglühbirne” vor. Die Meldung ist nicht sonderlich lang, aber sie preist eine wissenschaftliche Sensation an:

Helligkeit erzeugt es über Kerosinlampen, die lediglich ein Zweihundertstel so viel Strom verbrauchen wie herkömmliche Modelle.

Eine solarbetriebene LED-Leuchte, die Helligkeit “über Kerosinlampen” erzeugt, die wiederum Strom verbrauchen. Wow. Passt vielleicht noch ein atombetriebenes Wasserwindrad mit rein?

Nun, so irre ist das Teil dann doch wieder nicht, wie die Produktwebsite erklärt:

Nokero offers five times the light and 1/200th the energy consumption of fuel lights.

Nokero bietet das Fünffache an Licht und ein Zweihundertstel des Energieverbrauchs von Öllampen.

Und weil diese Glühbirnen vor allem Öllampen (Kerosin) ersetzen sollen, hat sich die Firma auch Nokero genannt — und nicht “Nokera”, wie die “Welt am Sonntag” konsequent behauptet.

Mit Dank an Kai.

Primärquellen, Sonntagszeitung, Griechenland

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Journalisten und Primärquellen – Managergehälter”
(marcmichels.blogspot.com, Marc Michels)
“Nutzt endlich mal die verdammten Primärquellen!”, ruft Marc Michels Journalisten, Bürgern und Politikern entgegen. Während ein Bericht der “Thüringer Allgemeinen Zeitung” über Managergehälter auf den “Focus” verweist, schreibt “Bild”: “Eine neue Umfrage macht deutlich…”. Dabei seien die betreffenden Informationen schlicht frei im Internet verfügbar.

2. “Kachelmann-Verfahren: Schweizer Zeitung wirft Befangenheit auf”
(morgenweb.de, M. Wirth, A. Lin, J. Gruler)
In ihrer neusten Ausgabe äußert die “Sonntagszeitung” “Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters” im Fall Jörg Kachelmann. Einige Regionalblätter vermeldeten darauf, “Vater und Richter seien im gleichen Verein und würden sich gut kennen”, was “zahlreiche seriöse deutsche Tageszeitungen und sogar die berühmten Nachrichtenmagazine Spiegel und Stern” sofort aufnahmen. Der betreffende Richter, Michael Seidling, dementiert und gibt an, weder die Klägerin noch ihren Vater überhaupt zu kennen.

3. “Im Würgegriff der Parteien”
(echo-online.de, Klaus Thomas Heck)
Klaus Thomas Heck sieht die öffentlich-rechtlichen Sender von den Parteien stark beeinflusst. Die Folge: Es ergießen sich “auf beiden Seiten telegene Gesichter in inhaltsarmen Worthülsen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Man kennt sich, ist einander viel zu nah und hat sich vor der Kamera nichts zu sagen. Ergebnis ist meist journalistisch wie politisch der kleinste gemeinsame Nenner.”

4. “Mehr Mut zur Zensur”
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler fürchtet, dass “unterhalb der offiziellen Medienangebote”, also in den Kommentarspalten, “bizarre Parallelgesellschaften” entstehen. “Wer interessante Publikumsmeinungen finden will, muss darum oft durch kniehohen Wortmüll stapfen.” Er empfiehlt, kommerzielle Wege zu prüfen: “Wenn eine Website als Blitzableiter für Enttäuschte oder als Auffangbecken für Unterbeschäftigte dient, sollte man doch daraus eine Geschäftsidee entwickeln können.”

5. “Griechenland: Tödlicher Terror gegen Journalisten”
(focus.de, Wassilis Aswestopoulos)
Journalist Sokrates Giolias wird “im Athener Vorort Ilioupolis” von mehreren Attentätern vor seinem Haus erschossen. “Giolias war wie viele andere Journalisten auf Webseiten autonomer, extremistischer Gruppen als zu eliminierender Klassenfeind erwähnt worden.”

6. “Why Journalists Make Mistakes & What We Can Do About Them”
(poynter.org, Mallary Jean Tenore, englisch)
“Misspelled names and typos are among the more basic errors journalists make. But there’s another type of error that is harder to correct: when journalists miss the story completely.”