Archiv für Juli 6th, 2010

Octopussies

Wer bisher dachte, es sei besorgniserregend, dass die Stimmung eines ganzen Volkes davon abhänge, wie die dazugehörige Fußballnationalmannschaft spielt, dürfte jetzt endgültig vom Untergang des Abendlandes überzeugt sein: Millionen Menschen – so stellt Bild.de es zumindest dar – sind geknickt, weil ein Tintenfisch sein Mittagessen falsch ausgesucht hat.

Ja: Ein Tintenfisch.

Wie schon bei der vorherigen WM-Partien wurde Paul auch für das WM-Halbfinale gegen Spanien als WM-Orakel bemüht: Er musste sich zwischen Muschelfleisch in einem deutschen und in einem spanischen Kasten entscheiden. Und diesmal blieb er bei den Spaniern hängen…

Das konnte bei der anhaltenden “Schland”-Euphorie natürlich nicht gut gehen:

“Tintenfisch für alle! Schlachtet ihn!”, “Octopus-Salat für die Nation!” schreiben empörten Deutschland-Fans.

Fan-Wut gegen Kraken-Orakel Paul!

Und damit sich die Leser nicht durch das ganze Internet wühlen müssen, um ein ordentliches Stimmungsbild zu bekommen, war Bild.de eifrig:

BILD.de hat witzigsten Sprüche, Rezepte und Kommentare zu Pauls Tipp zusammengestellt. Klicken Sie hier durch die Galerie…

Wir lernen: “Kraken-Orakel” aufessen wollen ist witzig — aber nur, wenn der Vorschlag von deutschen Fans kommt.

Als Paul vergangene Woche den Sieg der deutschen Mannschaft gegen Argentinien richtig vorhersagte und damit die argentinischen Anhänger verärgerte, empörte sich die gedruckte “Bild”:

Geschmacklos! Die Argentinier drohen unserem Kraken-Orakel Paul mit dem Kochtopf, wollen ihn in die Paella schnippeln.

Mit Dank an Christoph S.

Bild  

Kriegt Böhser Onkel was auf die Nazi-Mütze?

Als es in der Silvesternacht zu einem schweren Unfall mit Fahrerflucht auf der Frankfurter Stadtautobahn kam, war sich “Bild” ziemlich schnell sicher, dass der Unfallverursacher der Sänger der umstrittenen, 2005 aufgelösten Band Böhse Onkelz sein könnte.

Das heißt: Nein, sicher natürlich noch nicht:

JETZT DER VERDACHT: Kevin Russell (45), Sänger der berühmt-berüchtigten Rockband “Böhse Onkelz”, soll gefahren sein – möglicherweise sogar im Drogenrausch!

Über zwei Wochen berichtete “Bild” fast täglich über den Fall und als die Indizien sich verdichteten, spekulierte das “Bild”-Gericht schon mal über das Strafmaß:

15 Jahre Knast für den “Böhse Onkelz”-Sänger? Anwälte drohen mit Anzeige wegen versuchten Totschlags

Jetzt wurde Anklage gegen Kevin Russell erhoben (übrigens nicht wegen versuchten Totschlags) und “Bild” weiß wieder bestens Bescheid:

Jetzt erfuhr BILD: Als Fahnder das Wrack des “Onkelz” nach der Tat durchsuchten, stellten sie neben zahlreichen Medikamenten auch eine Mütze mit Nazi-Symbol sicher – dabei soll es sich sogar um ein Hakenkreuz handeln.

“Bild” gibt sich ehrlich überrascht:

Es ist ein unglaublicher Vorwurf, der den Mythos “Böhse Onkelz” bei Millionen Fans in seinen Grundfesten erschüttern wird!

Außerdem spekuliert die Zeitung wieder vorab munter über ein mögliches Strafmaß:

Das Verwenden von verfassungsfeindlichen Symbolen kann mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden (§83a StGB).

Und mal davon ab, dass hier wenn überhaupt §86a zum Tragen käme, hätte Russell wegen des Besitzes einer “Nazi-Mütze” eher wenig zu befürchten: Das Gesetz sieht die Strafe für jemanden vor, der Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen “verbreitet oder öffentlich verwendet”.

Rechtsanwalt und Lawblogger Udo Vetter erklärt uns auf Anfrage:

Strafbar wäre also das Tragen der Mütze in einer Diskothek, auf der Straße oder im Kaufhaus. Bei kleineren Veranstaltungen, zum Beispiel in der Familie oder einem Hinterzimmertreffen (ideologisch) Gleichgesinnter, würde es eher an der Öffentlichkeit fehlen.

Mit Dank an die Hinweisgeber.

Nachtrag, 7. Juli 2010: Inzwischen hat uns auch die Staatsanwaltschaft Frankfurt bestätigt, dass die gefundene Mütze nicht Gegenstand der Anklageerhebung ist: Der Besitz der Mütze sei keine Straftat, außerdem sei nicht einmal klar, ob sie wirklich Russell gehöre.

Bild  

Schwein gehabt

“Bild” darf Menschen – auch Verbrecher – nicht als “Schwein” oder “Dreckschwein” bezeichnen, das hat der Presserat mehrfach betont.

Trotzdem ist es wenig überraschend, dass “Bild” heute mit dieser Überschrift aufwartete:

Hat dieses Schwein den Mann an der A5 ermordet?

Wahrscheinlich haben sie in der Redaktion feixend unter den Tischen gelegen und diese Überschrift für noch unangreifbarer gehalten als die mit dem durchgestrichenen “Schwein”.

Aber sehen Sie selbst:

Motivationstrainer Detlef S. (50) im Schweinchenkostüm beim Marathonlauf

Der Tatverdächtige war so unvorsichtig gewesen und hatte sich zu einem früheren Zeitpunkt bei einem ganz anderen Anlass in einem Schweinekostüm fotografieren lassen.

Interessanterweise endet der längere Artikel auf Bild.de übrigens so:

Die Beweislage gegen Detlef S. und seinen Freund ist laut Fahndern erdrückend – doch ob und, wenn ja, warum sie dann die Tat begingen, wird wohl erst ein Prozess klären können…

… aber bis dahin hat man den Mann wenigstens schon mal medial verurteilt.

Mit Dank an Dennis und Spot.

Brennendes Papier ist geduldig — auch online

Heute machen wir mal ein Bilderrätsel: Was stimmt an folgendem Screenshot aus dem Düsseldorfer Regionalressort von Bild.de nicht? Sehen Sie ganz genau hin:

Feuer-Alarm: Großbrand in Neuss – Asche fliegt bis Düsseldorf!

Na? Wer hat’s bemerkt? Richtig: Die “Berge von Altpapier”, die uns Bild.de hier präsentiert, wären deutlich mickriger, wenn die Aufnahme nicht ungefähr ab der Mitte künstlich in die Länge gezogen worden wäre. Zu diesem Zweck wurde dieser schmale Bereich zwischen rotem Gabelstabler und Bildmitte mehrfach nach rechts gespiegelt:

Gespiegelter Ausschnitt

Ob der Brand dadurch imposanter wirken sollte oder ob aufgrund von Formatvorgaben manipuliert wurde, darüber lässt sich spekulieren. Besonders honorieren muss man jedoch die Energie, die in der Nachbearbeitung dieses Fotos steckt. Zugeben, das mit dem Spiegeln war nicht so geschickt, aber:

1. Auf der durch die Spiegelung entstandenen “Säule” in der Mitte wurde das Feuer nicht einfach gespiegelt, sondern nachbearbeitet.

2. Auf der rechten “Säule” wurde das Feuer gänzlich entfernt.

3. Die Kräne im Hintergrund wurden nur einmal gespiegelt und weiter rechts retuschiert.

4. Die “riesige gelb-graue Rauchwolke” am Himmel müsste ebenfalls bearbeitet sein, da sich hier außer bei der ersten Spiegelung keine Muster wiederholen.

Hut ab! Hier wurde mit Liebe gefälscht.

Mit Dank an Thomas K.

Economist, Testflug, DJV

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “On The Economist’s Cover, Only a Part of the Picture”
(mediadecoder.blogs.nytimes.com, englisch)
“The Economist” zeigt auf der Titelseite ein Foto von Barack Obama vor einer Ölplattform. Zwei Personen, die neben ihm stehen, wurden entfernt. In einer Stellungnahme schreibt die Zeitschrift: “We removed her not to make a political point, but because the presence of an unknown woman would have been puzzling to readers.”

2. “Wo man hinzappt, steht ein Herd”
(sueddeutsche.de, Rupert Sommer)
Kochsendungen im Fernsehen sollen sich im Niedergang befinden. “Die klassischen Tugenden der Sendungen, die Lust zum Mitkochen erwecken sollten, werden in der Flut der lieblosen Plagiate vernachlässigt.”

3. “Ätschi-Bätschi-Reklame oder Horizont-Testflug mit übler Bauchlandung”
(werbeblogger.de, Ralf Schwartz)
Ralf Schwartz fühlt sich von der Werbeabteilung des Magazins “Horizont” “für dumm verkauft und zum eMail-Click-Vieh degradiert”. Eine per E-Mail angebotene “Einladung zum Horizont-Testflug” stellte sich als Einladung zum Probeabo heraus.

4. “Online liebt den Boulevard”
(klartext.ch, Bettina Büsser)
Viele Medien setzen online auf Softnews, ergibt eine Dissertation von Medienwissenschaftler Patrick Rademacher: “Wenn man im Internet um jeden Preis die Klicks steigert, wird das Markenprofil verwässert oder gar aufgelöst. Ein einheitlicher Markenauftritt ist jedoch ausschlaggebend, um mittelfristig Erfolg zu haben.”

5. “Sex, Privatsphäre und Politik”
(nzz.ch, ras.)
Schweizer Boulevardmedien berichten derzeit über einen Gemeindeparlamentarier, der über das Internet Gruppensex-Partys organisiert haben soll. Eine Publikation sei “nur dann legitim, wenn sie auf einen Widerspruch zwischen öffentlicher und privater Tätigkeit einer Person aufmerksam machen kann”, stellt ras. fest. Das treffe nicht zu, es liege auch kein Gesetzesverstoss vor.

6. “DJV definiert Mehrheiten ganz neu”
(dondahlmann.de)
Don Dahlmann wundert sich über einen offenen Brief des Journalistenverbands DJV. “Wenn man es nicht traurig wäre, müsste man lachen. Eine Mehrheit ist also in einer Abstimmung unterlegen. Soso. Überlege dem DJV ein Lexikon zu schicken.”