Archiv für April, 2010

AFP, dpa  

Früher haben 138 % der Frauen geheiratet

Üben wir mit einem fiktiven Beispiel. Nehmen wir an, von zehn Journalisten versteht einer was von Statistik. Dann besucht einer von den anderen erfolgreich einen Kurs “Statistik für Journalisten”. Damit verdoppelt sich die Zahl der Journalisten, die was von Statistik verstehen. Aber es halbiert sich nicht die Zahl der Journalisten, die nichts von Statistik verstehen.

Klar?

Gut, dann schauen wir uns jetzt die Statistikfähigkeiten von Journalisten in der Praxis an. Die “Welt am Sonntag” ist heute mit einem großen, mehrseitigen “Ehe-Report” erschienen. Unter der Überschrift “Heiraten? Ja, bitte! Oder?” berichtet sie unter anderem über Prognosen des Bevölkerungsforschers Jürgen Dorbritz, wonach ein erheblicher Teil der heute 20-Jährigen nie heiraten wird. Als Werbemaßnahme hat die “Welt am Sonntag” einige Ergebnisse und Zitate bestürzter konservativer Politiker vorab an die Agenturen gegeben, und so meldet dpa unter Berufung auf die “Welt am Sonntag” unter Berufung auf Dorbritz:

Gegenüber 1980 habe sich die Heiratswahrscheinlichkeit damit halbiert.

AFP echot:

Im Vergleich zu 1980 habe sich die Heiratswahrscheinlichkeit damit halbiert.

Das wäre allerdings überraschend, denn die Wahrscheinlichkeit der heute 20-Jährigen, irgendwann mindestens einmal zu heiraten, liegt laut Dorbritz bei 69 Prozent (Frauen) und 62 Prozent (Männer). Demnach müsste die Heiratswahrscheinlichkeit 1980 bei weit über 100 Prozent gelegen haben, was schwer zu erklären, um nicht zu sagen: unmöglich wäre.

In Wahrheit hat sich nicht die Zahl derjenigen halbiert, die heiraten werden. Vielmehr hat sich bloß die Zahl derjenigen verdoppelt, die nicht heiraten werden.

Und dass diesen offenkundigen Fehler weder dpa gemerkt hat noch AFP noch sueddeutsche.de, wo man einen eigenen Remix aus mehreren Agenturen produziert hat, lässt unser Eingangsbeispiel noch optimistisch wirken.

Nachtrag, 5. April. Auf sueddeutsche.de ist plötzlich der ganze Artikel nicht mehr vorhanden. AFP hingegen hat die fehlerhafte Meldung heute Vormittag als “Feiertagswiederholung” einfach noch einmal gesendet.

Mit Dank an Matthias S.!

Bild  

Hinter Gittern

12 Tage sitzt der Fernsehmoderator Jörg Kachelmann nun schon in Untersuchungshaft, weil er seine Ex-Freundin vergewaltigt haben soll. “Bild” hat die Zeit genutzt, um detailliert über die Vorwürfe gegen ihn zu berichten, sein Privatleben von allen Seiten auszuleuchten, um über Einstellung des Verfahrens und Kachelmanns mögliche Strafe zu spekulieren, um eine Rasur zu deuten, um zu erklären, was Kachelmann im Gefängnis zu Essen bekommt und wie er sich die Zeit vertreibt.

Und gerade, als es möglich erschien, dass “Bild” angesichts der unverändert dünnen Nachrichtenlage so langsam aber sicher die Ideen für weitere Kachelmann-Aufmacher ausgehen könnte, überraschte die Zeitung gestern mit dieser massiven Titelgeschichte:

Ausrisse: "Bild"

Auch ohne den Schweizer Kachelmann mitzuzählen, hat “Bild” genug Prominente (bzw. Menschen, die auch vorher schon mal in “Bild” erwähnt wurden) gefunden, um die 50 voll zu machen. Einzige Voraussetzung dabei war wirklich, dass die jeweilige Person mal mindestens “einige Stunden” (Fotomodell Veruschka von Lehndorff) hinter irgendwelchen Gittern verbracht hat.

Alles weitere war relativ egal:

BILD hat 50 Prominente mit Knasterfahrung gefunden. Einige saßen zu Recht im Gefängnis, andere unschuldig.

Und bei manch einem war’s einfach nur eine verzeihliche Jugendsünde…

Und so prangt das Foto des TV-Moderators Eduard Zimmermann, der wegen angeblicher Spionage vier Jahre im berüchtigten DDR-Gefängnis von Bautzen saß, fast direkt neben dem des früheren DDR-Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, der wegen Totschlags an vier DDR-Flüchtlingen verurteilt wurde.

Der Schauspieler Günther Kaufmann, der nach einem falschen Geständnis im Gefängnis saß, wird ebenso gezeigt wie Günter Wallraff, der in “Bild” sonst eigentlich nur Erwähnung findet, wenn gerade Stasi-Gerüchte um seine Person kursieren oder er von einem der Kommentatoren für irgendwas abgewatscht wird.

Zwischen “Bubi” Scholz (zwei Jahre wegen fahrlässiger Tötung) und Peter Graf (inkl. Untersuchungshaft zwei Jahre wegen Steuerhinterziehung eingesessen), Arabella Kiesbauer (eine Nacht wegen Angriffs auf zwei mallorcinische Polizisten) und Jürgen Brähmer (laut “Bild” insgesamt sechs Jahre wegen verschiedener Vergehen) war sogar noch Platz für Johann Sebastian Bach (“Streitigkeiten mit seinem Dienstherren”), Friedrich Schiller (Anstiftung zur Aufruhr, 14 Tage Gefängnis) und Karl May (zwei Diebstahlsfälle, vier Jahre Zuchthaus).

Auch der TV-Schauspieler, der wegen des Vorwurfs der zweifachen Vergewaltigung “in U-Haft auf seinen Prozess” “wartet”, ist wieder mit Foto und voller Namensnennung dabei. Wir erinnern uns: Qualifiziert für die Liste ist, wer überhaupt mal “im Knast” saß — rechtskräftig verurteilt muss niemand sein.

Etwas irreführend ist vor allem, was “Bild” über Rudolf Augstein schreibt:

Rudolf Augstein († 79), "Spiegel"-Gründer. Verdacht des Landesverrates ("Spiegel-Affäre"), Festnahme am 28.10.1962, 103 Tage U-Haft, Verfahren eingestellt wegen Beweis-Mangel

Als “Spiegel-Affäre” gilt eigentlich weniger der Verdacht des Landesverrats als viel mehr die Verhaftung von Augstein und einigen seiner Kollegen und die Durchsuchung der “Spiegel”-Redaktion. Die Affäre kostete Franz Josef Strauß sein Amt als Bundesverteidigungsminister und gilt als “Anfang vom Ende” der Kanzlerschaft Konrad Adenauers.

Eigentlich überraschend, dass ein Mann fehlt, der auch mal für neun Monate inhaftiert war — ist Adolf Hitler doch sonst gern gesehener Stammgast in “Bild”.

Mit Dank auch an Marc E. und kpep.

Innen Minister, außen Finanzen

Bei der Genesung von Patienten soll die so genannte Autosuggestion ja eine wichtige Rolle spielen. Wenn Wolfgang Schäuble also nur oft genug betont, dass es ihm wieder besser geht, hilft ihm das möglicherweise tatsächlich beim fit werden.

Weniger erfolgreich dürfte allerdings dieses Mantra von Bild.de sein:

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ... Bundesinnenminister scherzt über seinen Gesundheitszustand ... Wieder einmal musste der Bundesinnenminister diese Woche ins Krankenhaus. Eine OP-Wunde will nicht verheilen.

Auch bei mehrmaliger Wiederholung der Behauptung, Schäuble sei Bundesinnenminister, bleibt er doch Finanzminister.

Entsprechend ist auch Christine Lagarde, bei deren Besuch im Kanzleramt Wolfgang Schäuble “auf keinen Fall fehlen” wollte, nicht die “französische Innenministerin”, wie Bild.de behauptet, sondern Ministerin für Wirtschaft und Finanzen.

Mit Dank an Martin Sch., Stefan K. und Dejan I.

Nachtrag, 23 Uhr: An zwei der drei Stellen hat Bild.de Schäuble zum Finanzminister erklärt. Und Madame Lagarde ist jetzt auch Finanzministerin.

2. Nachtrag, 2. April, 11.20 Uhr: Inzwischen ist Schäuble vollständig zum Finanzminister geworden.

Bolzen mit Todesfall

In der Kategorie “geschmacklose Witze über den Selbstmord eines Torwarts” hatte das Satire-Magazin “Titanic” bisher weit vorne gelegen (und sich eine entsprechende Presserats-Rüge abgeholt).

Aber dann schrieb Thorsten Keller in seiner Kolumne “Bolzplatz” auf der Internetseite des “Kölner Stadt-Anzeigers” folgendes:

Der Karnevalsverein,* der Hannover 96 zuletzt so gnadenlos überrollte wie ein Regionalexpress einen Lebensmüden, ist gegen Hertha BSC ebenfalls eher Außenseiter, wenn man die Statistik zu Rate zieht.

*) Keller ist Fan von Borussia Mönchengladbach. Mit “Karnevalsverein” ist der 1. FC Köln gemeint.

Mit Dank an erz und xeniCds.

Nachtrag, 3. April: Seit gestern Abend lautet der Vergleich auf ksta.de:

Der Karnevalsverein, der Hannover 96 zuletzt so übel zurichtete wie Mel Gibson seinen Jesus-Darsteller, ist gegen Hertha BSC ebenfalls eher Außenseiter, wenn man die Statistik zu Rate zieht

Unter dem Artikel steht jetzt folgender Hinweis:

In eigener Sache:

Liebe Leser, die Redaktion hat diesen Text nach zahlreicher Leserkritik überarbeitet. Eine Formulierung war als Anspielung auf den Selbstmord des Torhüters Robert Enke verstanden worden. Wir bitten hierfür um Entschuldigung.

Bild.de  etc.

Geboren am 1. April

Bevor wir die Osterfeiertage vermutlich damit zubringen werden, die medialen Folgen der heutigen Aprilscherze zusammenzukehren, Flotter Dreier mit Shakira auf Sextape?haben wir mal ein bisschen in unseren Archiven gesucht, auf welche Scherze “Bild” und andere Medien in der Vergangenheit so reingefallen sind.

Gefunden haben wir:

Irgendwas, irgendwo, irgendwann

Noch immer schicken jeden Tag Menschen Fotos, die sie in ihrem Alltag aufgenommen haben, an die “Bild”-Redaktion, und noch immer werden solche Fotos jeden Tag auf Bild.de veröffentlicht.

Was genau auf den Fotos zu sehen ist, ist dabei nicht so wichtig, irgendwas wird sich schon finden, was man in die Bildunterschrift schreiben kann.

So auch hier:

In Wuppertal (NRW) wurde dieser Krankenwagen auf dem Weg zu einem Einsatz von einem Ford gerammt! Die beiden Insassen mussten von der Feuerwehr befreit werden. Auch der Ford-Fahrer wurde leicht verletzt

Zum einen ist das kein Krankenwagen, sondern ein Notarzteinsatzfahrzeug, wie man leicht an der Abkürzung “NEF” auf dem Dach des umgekippten Autos erkennen kann, zum anderen ereignete sich der Unfall nicht in Wuppertal, sondern in Herne. Was man anhand der Abkürzung “HER” oder dem Schriftzug “Feuerwehr Herne” auf dem Fahrzeug hätte erahnen können.

Mit Dank an Lukas F.

Faktenchecker, Neonazis, Schmidt

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Faktenchecker auf Fehlersuche”
(ndr.de, Mareike Fuchs, Video, 6:59 Minuten)
Zu Besuch in der Dokumentation des “Spiegel” und bei Günther Garde, dem Faktenprüfer des “Stern”. Obwohl die Glaubwürdigkeit der Medien von korrekten Fakten abhängt, ist der Beruf des Faktenprüfers bedroht.

2. “Der ORF und die Neonazis”
(brodnig.org, Ingrid Brodnig und Martin Gantner)
Wie viel Geld wurde von der ORF-Sendung “Schauplatz” an zwei junge Neonazis bezahlt? Während die ORF-Führung von je 100 Euro spricht, behaupten die beiden, es sei mehr Geld geflossen. “Philipp sagt, es seien 100 Euro pro Drehtag gewesen. Wie Falter-Recherchen im ORF ergaben, dürften die jungen Männer jedenfalls mehr Geld als 200 Euro erhalten haben. 50 Euro bekam zum Beispiel Philipp – bevor er vor laufender Kamera einen rechtsradikalen Shop betrat. Von dem Geld kaufte sich der Skinhead eine Fahne und zwei T-Shirts.”

3. “Bild Dir Deine Meinung”
(spiegel.de, Ingeborg Wiensowski)
“Mit Pressefotos von Mord und Totschlag, Demonstrationen und Explosionen will der Hamburger Kunstverein 60 Jahre Stadtgeschichte zeigen. Es entsteht ein schrilles und vor allem einseitiges Bild: Alle Fotos stammen aus der ‘Bild’-Zeitung.”

4. “Zwischen Märchenstunde und Motzki-Pöbelei”
(carta.info, Steffen Rutter)
Steffen Rutter, Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, kritisiert den Beitrag “Wie die FDP die Profiteure der Finanzkrise schützen will” (Video, 6:37 Minuten) der Sendung “Monitor”. Es gehe im Beitrag “nicht um einen dunklen Plan der FDP, sondern vielmehr um Werbung für eine Idee der Redaktion”.

5. Interview mit Helmut Schmidt
(zeit.de, Giovanni di Lorenzo)
Helmut Schmidt glaubt, dass Journalisten “insgesamt mindestens genauso empfindlich” sind wie die Politiker “und mindestens genauso geneigt, etwas übel zu nehmen”. “Wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man, dass die politischen Journalisten eigentlich mehr zur politischen Klasse gehören und weniger zum Journalismus.”

6. “What you shouldn’t say on the front page of a newspaper…”
(tabloid-watch.blogspot.com, englisch)
Eine Titelschlagzeile des “Irish Daily Star”.

Symbolfoto: Haftnotizen am Arbeitsplatz

Auseinandersetzung: Wer sich mit seinem Arbeitgeber streitet und danach wochenlang nicht zur Arbeit geht, riskiert eine fristlose Kündigung

Eine Frau, die unglücklich aussieht. Ein Mann, der auf sein Handy fokussiert ist und an ihr vorbei schaut.

Es ist vielleicht nicht unbedingt das, was die großen Meister gemalt hätten, wenn man sie gebeten hätte, den Sachverhalt “Wer sich mit seinem Arbeitgeber streitet und danach wochenlang nicht zur Arbeit geht, riskiert eine fristlose Kündigung” auf die Leinwand zu bannen, aber es ist doch ein einigermaßen ausdrucksstarkes Bild, das “Zeit Online” nutzt, um die aktuelle Kolumne zum Arbeitsrecht zu illustrieren.

Wenn man allerdings weiß, wer die Leute da auf dem Foto sind, erscheint die Verwendung als Symbolbild vielleicht doch ein bisschen zynisch: Das Bild zeigt die Mutter und den Stiefvater von Amanda Knox, einer jungen Amerikanerin, die in Italien wegen Mordes angeklagt war, nach den Schlussplädoyers im Gericht. Am nächsten Tag wurde ihre Tochter zu 26 Jahren Haft verurteilt.

Mit Dank an Andreas P.

Nachtrag, 10.50 Uhr: Direkt heute Morgen hat “Zeit Online” das Foto der Eltern durch eines einer Arbeitsagentur ersetzt.

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