Archiv für April 6th, 2010

Dramatik, Sex und George Clooney

Jeder Journalistenschüler weiß, was eine Nachricht zur Nachricht macht: Prominenz, Nähe, Gefühl, Sex, Fortschritt, Folgenschwere, Konflikt, Kampf, Dramatik, Kuriosität. Je mehr dieser Nachrichtenfaktoren in einer Meldung zu finden sind, desto mehr Leser interessieren sich dafür, Auflagen steigen, Klickzahlen schnellen in die Höhe.

Und so erschien es fast wie ein Sechser im Boulevard-Lotto, als die Nachricht bekannt wurde, dass am Karfreitag eine Frauenleiche in der Nähe von George Clooneys Villa am Comer See gefunden wurde. Am 4. April titelt der Schweizer “Blick” in seiner Online-Ausgabe:

Ihr wurde beim Sex die Kehle durchgeschnitten

Dicht gefolgt von der Redaktion von Bild.de, die sich die Recherche gleich spart und kurzerhand die “Blick”-Geschichte nacherzählt:

Beim Sex ermordet?  Wasserleiche vor George Clooneys Villa entdeckt

Allein — zu dem Zeitpunkt hatte sich die Hälfte der Nachrichtenfaktoren bereits in heiße Luft aufgelöst: Die Frau war identifiziert, die meisten Spekulationen von der Polizei widerlegt. Und George Clooney, dessen Villa laut italienischen Medien “weniger als einen Kilometer”, laut Blick.ch und Bild.de nur “wenige Meter” vom Fundort entfernt steht, hatte offensichtlich rein gar nichts mit dem Fall zu tun. Die Leiche war mehrere Tage von der Strömung des Sees getrieben worden. Wie kann man also die Prominenz in der Meldung halten?

Der “Blick” wählt diesen kreativen Weg:
Sie ist jung und schön. Langbeinig mit Model-Massen, der Busen chirurgisch vergrössert. Ein George Clooney-Typ. Doch vor dieser Schönen grauts dem Hollywood-Star.

Bild.de ist weniger kreativ, aber plakativer:
Schauspieler George Clooney: Noch ist unklar, ob er während des Leichenfundes in seiner Villa war

In Punkto “Sex” gibt sich die “Blick”-Autorin besser informiert als alle anderen: Sie zitiert einen anonymen Ermittler, wonach das Opfer vermutlich “beim Sex” getötet worden sei — in der Überschrift wird aus der Spekulation flugs ein Fakt gemacht. Der ist dazu noch sehr exklusiv: In der italienischen Presse findet sich kein Hinweis auf den Geschlechtsverkehr, aber immerhin ein Hinweis, dass die offizielle Obduktion noch gar nicht stattgefunden hatte, als die grausamen Details in der Schweizer Boulevardzeitung (und unter Berufung darauf auch bei Bild.de) zu lesen waren.

Ausriss: Bild.de

Weniger einfallsreich zeigen sich die Boulevard-Journalisten bei den Nachrichtenfaktoren Dramatik und Gefühl – denn was ist dramatischer und nahegehender als die Bilder einer echten Leiche? Dass die Fotos nur zu Fahndungszwecken veröffentlicht worden waren und nach der längst erfolgten Identifizierung nicht mehr verwendet werden sollten, interessiert – wie gewohnt – weder Blick.ch, noch Bild.de. Schließlich geht es um den Leser die Auflage.

Mit Dank an Carlotta R.

Schadensersatz für geklautes “Todes-Video”

Es war eine selbst für “Bild”-Verhältnisse außerordentliche Lügengeschichte.

Am 29. Juni 2007 machte das Blatt groß mit der Meldung auf, es sei ein Video “aufgetaucht”, das den tödlichen Fallschirmsprung des FDP-Politikers Jürgen Möllemann zeige. (In Wahrheit waren das Video und sein Inhalt längst bekannt; auch “Bild” hatte schon darüber berichtet.) Die Aufnahmen würden “alle Spekulationen” beenden und beweisen, dass Möllemann Selbstmord begangen habe. (In Wahrheit hatte die Staatsanwaltschaft das Video bei ihren Ermittlungen vier Jahre zuvor ausgewertet und war trotzdem zu dem Ergebnis gekommen, weder Unfall noch Selbstmord seien auszuschließen.) Fast die gesamten deutschen Medien übernahmen zunächst die falschen Behauptungen von “Bild”.

Am nächsten Tag drehte “Bild” die Desinformationsschraube noch weiter. Aus dem Hinweis der Staatsanwaltschaft, dass das alles alt sei, machte sie einen Satz, der das Gegenteil suggeriert: “Auch die Staatsanwaltschaft Essen meldete sich zu Wort.” Und als sich der Videofilmer meldete, gegen die Veröffentlichung seiner Aufnahmen auf Bild.de protestierte und ankündigte, rechtliche Schritte gegen “Bild” zu prüfen, tat “Bild” mit einem Mal so, als stehe gar nicht fest, dass dieser Mann unbestritten Urheber der Aufnahmen ist.

Der Videofilmer hat tatsächlich geklagt, gegen Bild.de und den Fernsehsender N24, der die Aufnahmen von Bild.de kaufte und mehrmals in seinem Programm zeigte. Er fordert Schadensersatz, und um seinen Anspruch berechnen zu können, will er von N24 und Bild.de wissen, wieviel Geld sie an dem Tag, an dem sie sein Video widerrechtlich zeigten, durch Werbung erlöst haben. Diese Auskunft wollen Bild.de und N24 ihm nicht erteilen. Sie bestreiten, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Video und den Werbeeinnahmen gibt. Die Werbung sei lange vorher gebucht, und wenn dort nicht das Video gelaufen wäre, hätte man eine andere Nachricht präsentiert. Bild.de, das sich darauf berief, von jemandem die Exklusiv-Rechte an dem Video gekauft zu haben, bezweifelte zudem die Urheberschaft des Klägers — obwohl die “Bild”-Zeitung selbst ihn zuvor als den Videofilmer identifiziert hatte.

Der Bundesgerichtshof entschied nun gegen Bild.de und N24 und urteilte:

“Die Beklagten haben das Recht des Klägers als Hersteller des Videofilms widerrechtlich und schuldhaft durch die unerlaubte Ausstrahlung verletzt. Sie sind dem Kläger deshalb zum Schadensersatz verpflichtet. Die Schadensersatzpflicht umfasst — je nach der Berechnungsart, die der Kläger wählt — die Herausgabe des Gewinns, den die Beklagten durch die Veröffentlichung erzielt haben. Um den Umfang dieses Gewinns berechnen zu können, benötigt der Kläger Angaben über die von den Beklagten am Tag der Veröffentlichung erzielten Werbeeinnahmen.”

Dass N24 und Bild.de statt des Films andere Nachrichten hätten senden können, hebe den Zusammenhang zwischen der Rechtsverletzung und den erzielten Werbeeinnahmen nicht auf.

Bedrohungsszenarien, Ohrfeigen, Stadl

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Bedrohungsszenarien: Der große Unernst”
(zeit.de, Thea Dorn)
Thea Dorn glaubt, der “global vernetzte Zuschauer des frühen 21.Jahrhunderts” habe “seinen Instinkt für die Realität verloren”: “Mit jedem Tag, an dem die Verhältnisse in seiner kleinen Welt stabil bleiben, erscheint dem Zuschauer der Katastrophenhorizont mehr und mehr als flirrender Bühnenprospekt.”

2. “CNN vs. Al Jazeera Landing Page”
(imgur.com, Screenshots, englisch)
Wie Nachrichten gewichtet werden bei CNN und bei Al Jazeera. Ein Vergleich zwischen den Online-Portalen der Newssender am 5. April.

3. “Der große Magazin-Reboot”
(praegnanz.de, Gerrit van Aaken)
Ein langer Text über die Chancen, die sich für Verlage mit dem iPad ergeben könnten. “Das freie, chaotische Web hat sich in der Vergangenheit stets gegen die aufgeräumten und kostenpflichtigen Walled Gardens duchgesetzt. Sollte es diesmal anders sein?”

4. “More Counterfeit Interviews”
(newyorker.com, Judith Thurman, englisch)
Sicher oder ziemlich sicher nicht vom italienischen Journalisten Tommaso Debenedetti interviewt wurden auch: Günter Grass, Herta Müller, Gore Vidal, Toni Morrison, E. L. Doctorow, Nadine Gordimer und Jean-Marie Gustave Le Clézio.

5. “Die Deutschen haben auch eine menschliche Seite”
(goethe.de)
Eine Befragung von drei Journalisten nach einem Journalistenaustausch. Munyao Mutinda aus Kenia: “Vor einiger Zeit hatten wir einen kritischen Bericht über die Frau des Präsidenten. Da tauchte die First Lady persönlich mit ihren Leibwächtern in unserer Redaktion auf. Sie setzte uns dort für mehrere Stunden fest und hielt uns einen Vortrag über Respekt. Einem Kollegen hat sie sogar eine Ohrfeige verpasst.”

6. “Stadlzeit 3”
(hermsfarm.de)
“Es ist schließlich etwas Schönes und Besonderes wenn man eine Heimoat hat. Aber hat das, ausser vielleicht Alf, nicht jeder?”