Archiv für September 23rd, 2009

Nach Berechnungen, die niemand berechnet hat

Wenn es um das Thema staatliche Versorgungsleistungen geht, begibt man sich als Journalist schnell auf dünnes Eis. Ein schönes Beispiel dafür stammt aus der “Augsburger Allgemeinen”, die über den Fall des Deutsch-Libanesen Khaled al-Masri (der zuletzt Schlagzeilen machte, weil er den Oberbürgermeister von Neu-Ulm angriff und deswegen derzeit in Haft sitzt) folgendes berichtet:

Der  Überschrift schiebt das Blatt dann noch eine Einleitung hinterher, die Raum für Interpretationen lässt:

Wenn der Vater schon im Gefängnis sitzt, dann soll wenigstens die Familie nicht allzu sehr darunter leiden.

Um kurz darauf nochmal ausdrücklich klarzustellen:

Am Hungertuch werden die Frau und ihre Kinder nicht nagen müssen. Ihre wirtschaftliche Situation ist geregelt.

Und dann geht’s los:

Die Frau bekommt nach den Berechnungen des Jugendamtschefs monatlich rund 3000 Euro für sich und ihre Kinder. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus etwa 250 Euro Hartz IV für jedes Kind plus annähernd 170 Euro Kindergeld je Kind sowie 359 Euro Hartz IV für die Eltern.

Das Problem ist nur: Die Rechnung stimmt nicht.

Und was noch viel schlimmer ist: Hätte die Zeitung mal zum ungewöhnlichen Instrument der Recherche gegriffen, sie hätte es selber merken können. Das Gesetz ist nämlich völlig klar: Hartz IV, also das “Arbeitslosengeld II”, ist eine einkommensabhängige Leistung. Das bedeutet, dass nicht jeder einfach einen Einheitssatz zugewiesen bekommt, sondern sich die Leistungen nach den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen richten. Hat jemand Vermögen, muss er es zunächst einbringen. Hat jemand Einkommen, wird es angerechnet. Zudem muss das Einkommen nicht zwingend eines aus eigener Arbeit sein; auch Kindergeld z.B. gilt als Einkommen. Weswegen wohl auch bei al-Masris Familie die ausgezahlten Sozialleistungen entsprechend geringer ausfallen. (Ob und wie viel hängt, wie gesagt, vom Einzelfall ab.) Außerdem ist per Gesetz ausgeschlossen, das beispielsweise sowohl al-Masri als auch seine Frau 359 Euro Regelsatz erhalten. Sie erhalten lediglich je 323 Euro.*. Und schließlich schreibt die “Augsburger” kurioserweise sogar selbst: Während seines Aufenthalts im Gefängnis werden Khaled al-Masri seine Hartz-IV-Bezüge “natürlich gestrichen”.

Kurzum: Womöglich bekommt die Familie pro Monat nicht “rund 3000 Euro”, sondern im ungünstigsten Fall nur etwa 1800 Euro.

Hinzu kommt, dass das Jugendamt Neu-Ulm, auf das sich die “Augsburger” beruft, die “3000 Euro” offenbar überhaupt nicht in den Raum gestellt hat: Uns gegenüber erklärte die Behörde, man habe die Zeitung auf Anfrage lediglich darüber informiert, was den Bedürftigen grundsätzlich zustehe. Das (nicht legitime) Zusammenzählen der Hilfsleistungen wurde offenbar in der Redaktion vorgenommen.

Nun könnte man dies mehr oder minder achselzuckend hinnehmen — als ein Resultat schlechter Recherche, als ein Ergebnis von Fahrlässigkeit, schlimmstenfalls sogar als Vorsatz. Sicher ist jedenfalls, dass es Leute gibt, die auf solche Berichte geradezu warten, weil sie sich prima als islamfeindliche Propaganda missbrauchen lassen.

Mit Dank an Christoph!

*) Nachtrag/Korrektur, 24.9.2009: Leider hatten sich auch bei uns zwei kleine Hartz-IV-Ungenauigkeiten eingeschlichen. Wir bitten um Entschuldigung.

Ansbach, Musikantenstadl, Neininger

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Zuspruch für ein weinendes Mädchen”
(sueddeutsche.de, U. Ritzer)
Die Medienjagd nach dem Amoklauf von Ansbach: “In bei Jugendlichen beliebten Chatrooms und Foren wanzten sich Boulevardreporter mit falschen Namen und als angeblich gleichaltrige Schülerreporter an Carolinum-Gymnasiasten an, erzählen Helene Hellmuth und Rahel Herzog. Aus geschützten Forenbereichen seien Bilder von Sandra und Georg R. herauskopiert und veröffentlicht worden.”

2. “Musikantenstadl – ARD bricht ab”
(youtube.com, Video, 1:59 Minuten)
Die ARD-Sendung “Musikantenstadl” kündigt zum Schluß der Sendung eine “Sensation” an: Neun (9!) durch den Saal ziehende Blaskapellen. Die Übertragung wird aber (offenbar aus Zeitgründen) bereits nach zwei Blaskapellen abgebrochen. Einige Zuschauer guckten sich den Rest der Eurovisionssendung auf ORF2 an.

3. “Unser täglich Bernd gib uns heute”
(print-würgt.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris macht sich Gedanken zum Marktplatz Internet: “Journalisten sind dafür da, die Informationen der Welt unters Volk zu bringen. Genau: zu bringen. Dahin, wo das Volk ist. Man muss das nicht dumm tun, man darf es auch intellektuell tun, so wie man auf einem Markt eben jedes Angebot machen darf. Aber hier. Nicht vom Turm aus.”

4. “Unterwegs als digitaler Nomade – ein Selbstversuch”
(blog.persoenlich.com, Norbert Neininger)
Noch vor einem Jahr behauptete Norbert Neininger, Präsidiumsmitglied des Verbandes Schweizer Presse: “Was Google macht, ist illegal.” Doch dann wollte er es genauer wissen: “In unserer Branche aber reden die Leute über Twitter, Facebook und die Blogs, ohne zu wissen, was ein Retweet, eine Facebook-Gruppe oder ein Blog-Feed ist. Und so habe ich mich – zum Entsetzen meiner Tochter und vom milden Lächeln ernsthafter Kollegen begleitet – ins volle Social- Media-Leben im Netz gestürzt und bin so manchem begegnet, den ich dort eigentlich nicht erwartet hätte.”

5. “Eine neue Form und neuer Inhalt”
(nzz.ch, Dossier)
Die “Neue Zürcher Zeitung” erscheint heute in erneuerter Form: “Bis auf einige wenige gestalterische und inhaltliche Anpassungen ist es die erste umfassende Überarbeitung der Zeitung seit der Umstellung von der Fraktur- auf die Antiqua-Schrift 1946.”

6. “Verdacht auf Internet”
(stefan-niggemeier.de, Herm)
Markus Herrmann zeichnet ausführlich den Verlauf einer Folge der RTL-Doku-Soap “Verdachtsfälle” nach.