1500 Personen zwischen 14 bis 69 in der Deutsch- und Westschweiz wurden von der Werbeagentur Advico Young & Rubicam für die Studie “Media Use Index 2009” befragt. Ergebnisse: Das wichtigste Medium ist das Internet (54.8%) vor den Tageszeitungen (35.5%), TV (33.8%), Radio (33.5%) und Mobiltelefon (32.5%). Die wichtigsten Medienmarken der 14-27jährigen: Facebook (Social Media, 49.5%), 20 Minuten (Gratiszeitung, 42.2%), Pro7 (TV-Sender, 35.8%), SF2 (TV-Sender, 33.8%), msn (Chat, 29.0%), YouTube (Videoportal, 29%), SF1 (TV-Sender, 27.9%).
“Mehrere Medienverbände und Verbraucherschützer kritisieren die Absicht der Bundesländer, bezahlte Produktplatzierungen in Fernsehsendungen teilweise zuzulassen. Durch die Legalisierung des sogenannten Product-Placements verlören alle Medien, nicht nur das Fernsehen, ‘da ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt wird’, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), Dietmar Wolff, am 3. April in Berlin.”
“Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, vor allem mehr Unwahres: Was es zeigt, ist keine angetroffene, sondern eine vom Fotografen arrangierte Wirklichkeit. Gelegentlich gibt er das Konstruierte zu erkennen, in andern Fällen muss der Betrachter die verdeckte Absicht selbst entdecken.”
“Ohne viel Aufhebens ist in den USA ein seit 18 Jahren bestehendes Verbot aufgehoben worden: Erstmals dürfen Medien wieder in Bildern von der Heimkehr getöteter Soldaten aus dem Ausland berichten.”
“Ich stelle nur fest, dass dieses ‘Irgendwas mit Medien’-Gefühl momentan immer stärker verbreitet. Vor allem in der Gruppe derer, die dubios irgendetwas vor sich hin studieren oder vielleicht den FH-Kurs ‘Journalismus’ machen, verdichten sich diese Unklarheiten gerade zunehmend.”
Fangen wir mit einer kleinen, aber typischen Sache an.
Haben Sie vergangene Woche auch gehört, dass der Einzelhandel über die Abwrackprämie stöhnt? Weil die Menschen ihretwegen weniger Geld für Dinge ausgeben, die keine Autos sind? Möglicherweise stimmt das sogar. Aber die Zahlen, die der Anlass für die Behauptung sind, geben das nicht her.
Das Statistische Bundesamt hat errechnet, dass die Umsätze im Einzelhandel im Februar um beunruhigend klingende 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurückgegangen seien. Die Nachrichtenagentur Reuters begann ihre Meldung deshalb mit dem Satz:
Die Abwrackprämie verdirbt Kaufhäusern, Supermärkten und dem Versandhandel das Geschäft.
Nun hatte der Februar 2008 allerdings etwas, das der Februar 2009 nicht hatte: einen 29. Tag. Dank des Schaltjahres brachte er es auf 25 Einkaufstage, in diesem Jahr waren es nur 24. Das entspricht einem Rückgang von: 4 Prozent.
Reuters erwähnt den fehlenden Verkaufstag sogar beiläufig, zieht aber keine Schlüsse daraus, dass sich ein großer Teil des ach so dramatischen Umsatzrückgangs also ganz banal dadurch erklären ließe, dass der Februar kürzer war — was natürlich weder in die Stimmung passt, noch für knackigeÜberschriften taugt:
Die “Financial Times Deutschland” ging noch weiter, ließ den Hinweis auf den kürzeren Monat ganz weg und schloss aus dem Umsatzminus schlicht und laut:
Rezession würgt Umsätze im Einzelhandel ab
Immerhin: Spätestens im Februar 2012 müsste es dann ja abrupt wieder bergauf gehen.
Mit Dank an Matthias Schrade und sein Blog “Börsenalltag”.
Gibt es nicht schon viel zu viel Erbsenzählerei, Besserwisserei und Bastiansickness auf der Welt? Und muss es nicht auch irgendwie ungesund für einen netten Menschen wie Stefan Niggemeier sein, sich so viel mit dem Schlechtfinden anstatt mit dem Gutfinden oder dem Ausdenken neuer, ganz anderer Dinge zu befassen? Ja und ja, und trotzdem brauchen wir dringend mehr Watchblogs. Denn der Mensch ist ein träges Geschöpf, das sich durch gute Vorsätze wie “ordentlich recherchieren” und “nicht immer lauter haltlosen Unfug in die Zeitung schreiben” nur begrenzt motivieren lässt. Eine viel robustere Antriebskraft ist der Wunsch, von anderen Menschen nicht bescheuert gefunden zu werden. Das erklärt David Simon, Autor der Serie “The Wire”, in einem Interview, das Nick Hornby 2007 geführt hat:
“Ich will, dass Mordermittler, Dealer, Hafenarbeiter oder Politiker in Amerika sagen können: Tatsache, genau so sieht mein Tag aus. Das ist mein Ziel. Und zwar nicht aus Stolz oder Ehrgeiz oder irgendeiner Autoreneitelkeit heraus, sondern aus Angst. Nackter Angst. Wie viele Autoren beschäftigt mich ständig der vage Albtraum, dass sich eines Tages jemand, der mehr vom Thema versteht als ich, hinsetzt und in epischer Breite auflistet, in welchen Punkten meine Texte oberflächlicher Betrug sind und auf lahmen, halbherzigen Annahmen fußen. Ich trage das Autorenetikett, und ich kriege gute Rezensionen, aber bei allem Erfolg hege ich immer noch die gleichen latenten Zweifel. Ich nehme an, so geht es sehr vielen Autoren.”
Das mag stimmen, aber es gibt eben auch sehr viele Autoren, deren Texte oberflächlicher Betrug sind und auf lahmen, halbgaren Annahmen fußen, und die nie von solchen Vorstellungen heimgesucht werden. Was daran liegt, dass es in der Praxis einfach viel zu selten vorkommt, dass jemand, der mehr vom Thema versteht als man selbst, sich hinsetzt und ganz genau auflistet, wo man überall schlampig gearbeitet hat.
Der Ethnologe Richard K. Nelson hat in den 1960er Jahren Orientierungstechniken der Inuit in Alaska untersucht und dabei unter anderem die öffentliche Bloßstellung als Motivationsinstrument beschrieben. Junge Inuit begleiten Erfahrenere auf der Jagd und werden bei jedem Fehler zurechtgewiesen und verspottet. Später erzählt man die Fehler überall herum, damit auch die Nichtdabeigewesenen noch einmal wie Nelson Muntz bei den Simpsons mit dem Finger auf den armen Trottel zeigen und “Ha-ha!” rufen können. “Die Angst vor solchem Spott”, so Nelson (jetzt wieder der Ethnologe, nicht die Simpsonsfigur), “zwingt den Eskimo dazu, sich solide Navigationskenntnisse anzueignen und bei seinen Unternehmungen Vorsicht walten zu lassen”. (Ich habe die Originalquelle übrigens nicht gelesen und zitiere hier nur fahrlässig aus der Sekundärliteratur; diejenigen Leser, die ordentliche Journalisten sein oder werden wollen, machen das bitte zu Hause nicht nach.) (Immerhin habe ich mir die Mühe gemacht, herauszufinden, ob Nelson auch auf Deutsch ein “Kulturanthropologe” ist. Ist er nicht.)
Recherche ist ein zeitraubendes und oft gar nicht besonders interessantes Ding. Man wird in den seltensten Fällen für sie bezahlt, und 99,97% aller Leser des fertigen Artikels nehmen Dahinbehauptetes entweder für bare Münze oder sind zu träge, sich zu beschweren, selbst wenn offensichtlich erfundene Statistiken zum Einsatz kommen. Das macht das gründliche Recherchieren (wie so viele andere Tätigkeiten, die mit “gründlich” anfangen) zu einer Beschäftigung, der sich kein normaler Mensch freiwillig widmet. So wie Ärzte und anderes Krankenhauspersonal mehrmals täglich dazu angehalten werden müssen, sich die Hände zu waschen, weil sie es trotz aller Einsicht eben nicht von sich aus tun, so muss irgendjemand sich die Mühe machen, mehrmals täglich mit dem Finger auf schludrige Journalisten zeigen und “Ha-ha!” zu rufen. Weil es der Weltverbesserung dient.
Lisa Rank schreibt als freie Journalistin einen Text zur re:publica’09 für die taz. Doch dieser wird vom Chef vom Dienst so umgeschrieben, dass er nicht mehr im Sinne der Journalistin ist. In den Kommentaren zur gebloggten Korrektur reagiert der betreffende CvD, Sebastian Heiser (Kommentar 18): “Es war nicht meine Absicht, Lisa dort eine Meinung reinzuschreiben, die nicht ihre ist. Ich habe mich daher bei ihr bereits entschuldigt.”
“Meines Erachtens braucht die re:publica im nächsten Jahr ein neues Konzept, intensiveres Briefing der Vortragenden und eine gehörige Komplexitätsreduktion. Weniger parallele Veranstaltungen, mehr Fokus auf die Zukunft und bitte nicht immer die gleichen Nasen auf der Bühne. Bitte kein Status Quo mehr, auch das gehört zum Shift!”
“ein klassiker unter bloggern ist ja, den journalisten (zu recht) mangelnde recherche, oberflächlichkeit oder die falschen themen vorzuwerfen. selbst zu telefonieren, selbst nachzufragen oder selbst recherchieren, dazu hat aber auch keiner bock. blogger weisen dann gerne darauf hin, dass man ohne presseausweis ja eh nix machen könne als von anderen seiten zu zitieren. was natürlich quark ist wer o-töne haben, mit politikern reden, auf einen parteitag oder in den bundestag will, bekommt das auch so hin — wenn er will.”
“Es gibt Ausnahmen, aber Frauen schreiben vor allem über ihren Freundeskreis und Liebeleien, darüber, wie sie ihre kleine oder große Familie wuppen und wie anstrengend und frustrierend das bisweilen ist, wenn Männer mit Vorliebe alte Klischees bedienen.”
“So ganz sicher bin ich mir allerdings nach diesen Tagen nicht, ob ich wirklich Ahnung vom Internet habe. Diese Konferenz hat mich etwas durcheinander gebracht. Bisher dachte ich, überdurchschnittlich viel Internet zu konsumieren und zu wissen, was ich da mache. Aber da sind Leute vor Ort gewesen, die echte Ahnung hatten. Andere wiederrum waren einfach nur Freaks oder Geeks.”
Wer die hörenswerte Rede von Cory Doctorow verpasst hat oder wem er passagenweise doch etwas zu schnell redete, kann es ja nochmals versuchen. Andere Videobeiträge von der re:publica’09 gibt’s unter make.tv/republica2009, zum Beispiel die Vorträge von Lawrence Lessig, Peter Glaser oder Jimbo Wales.
Das Bildblog beschäftigt sich ab heute nicht mehr ausschliesslich mit der Bild-Zeitung, sondern nimmt sich neu auch anderer Medien an. Der abtretende Hauptblogger, Christoph Schultheis, spricht über seine viereinhalb Jahre bei Bildblog: “Ein Bild-Opfer hat mir beispielsweise mal glaubwürdig berichtet, es sei nach einem gewissenlosen Artikel in dem Blatt von Passanten auf der Straße angespuckt worden. Das wünsche ich niemandem.”
Patrik Müller wurde mit 31 Jahren Chefredakteur des Sonntag, einer neuen Schweizer Sonntagszeitung aus der Vorstadt, die sich wider Erwarten anderer Journalisten einen Platz erkämpfen konnte. Mutige Personalentscheide bleiben aber die Ausnahme: “Bei Ringier habe ich erlebt, dass gewisse Chefs Angst haben, bessere Leute zu engagieren, weil ihnen diese gefährlich werden könnten.”
Karl-Heinz Ruch, Geschäftsführer der taz, kommt die aktuelle Wirtschaftslage offenbar entgegen: “Man muss fast zynisch sagen: Hoffentlich geht die Krise weiter”. Dennoch sieht man sich als bürgerliche Zeitung: “Wir sind Teil einer bürgerlichen Gesellschaft, sind eine bürgerliche Zeitung. Aber das wissen nicht alle.“
Der Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, Bernd Buchholz, glaubt, dass sich einige Verlage “mit dem Schlucken unreifer Früchte den Magen verdorben” haben und meint damit die Internetstrategie. Auf die Frage, ob er Chef eines sterbenden Mediums geworden sei, sagt er: “So ein Quatsch.”
Die NZZ stellt das Projekt The Public Press vor, das sich aus “Redaktoren, Reporter und Fotografen, die in der Zeitungskrise ihren Job verloren haben”, rekrutiert: “Die Nachrichtenredaktorin ist die einzige Festangestellte mit einem Gehalt, alle anderen arbeiten ohne Bezahlung. Neun feste Schreiber und drei Fotografen stellen den Kern; der Rest wird von Freien zugeliefert.”
Nicht erschrecken: BILDblog verändert sich. Aber wir bleiben uns treu.
Aus BILDblog wird am Montag BILDblog für alle. Wir schauen über “Bild” hinaus und nehmen uns auch anderer Medien an. Sie haben es sich verdient.
Es ist nicht so, dass uns der Stoff ausgegangen wäre. Wir haben zwar den Eindruck, dass die Zahl der besonders krassen Lügengeschichten in “Bild” seit einiger Zeit zurück gegangen ist; der neue Unterhaltungsschef scheint weniger auf erpresserische Methoden bei der Informationsbeschaffung zu setzen, und Bild.de ist nicht mehr ganz das Schleichwerbeportal, das es einmal war.
Andererseits spricht wenig dafür, dass “Bild” im Kern eine bessere Zeitung geworden wäre und plötzlich Respekt vor so abwegigen Dingen wie der Wahrheit oder den Persönlichkeitsrechten von Menschen entwickelt hätte.
Aber es ging uns nie nur um die “Bild”-Zeitung, sondern um ihre Macht als (trotz allem noch) viel gelesenes und für wichtig genommenes Leitmedium. Von Anfang an stand über unserer Arbeit der Satz: “Was heute in ‘Bild’ steht, steht morgen überall”. In den vergangenen viereinhalb Jahren haben wir eine Menge darüber erzählt, was so “in ‘Bild'” steht. Jetzt haben wir Lust, uns dem “überall” zuzuwenden.
Beim Amoklauf von Winnenden zeigte nicht nur die “Bild”-Zeitung mit ihrer Mischung aus Schlampigkeit und Skrupellosigkeit ihr wahres Gesicht. Auch die Berichterstattung vieler anderer Medien über dieses Ereignis war erbärmlich. Am Sonntag versuchte die “Bild am Sonntag”, mit privaten Bildern der Opfer auf der Titelseite Auflage zu machen — am Montag erschien der “Focus” mit fast identischem Cover. Fernsehsender überschritten viele Grenzen. Die “Welt am Sonntag” veröffentlichte ein großes Foto von einem Jungen und erweckte den Eindruck, es handele sich um den Attentäter — dass es sich nur um einen unschuldigen Besucher der Trauerfeier handelte, stellte das Blatt auch im Nachhinein nicht klar; Nachfragen ignorierte der Chefredakteur Thomas Schmid einfach.
Es gibt viele Beispiele dafür, wie deutsche Medien ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Oft fehlt es schon an der schlichten Bereitschaft, eigene Fehler zu korrigieren. Sinkende Werbeerlöse und der Medienumbruch bedrohen gerade die Qualität: Die Verlockung wächst, mit Schleichwerbung die Einnahmen aufzupeppen; oft fehlt es an Geld oder Personal, um nicht nur Texte von Kollegen oder PR-Leuten abzuschreiben, sondern selbst zu recherchieren. Noch nie war es so leicht für Falschmeldungen, in kurzer Zeit weite Verbreitung zu finden.
Was wir dagegen setzen wollen, ist dasselbe wie bisher: Aufklärung. Wir glauben, dass es hilft, die Fehler und Abgründe öffentlich zu machen — die kleinen Pannen und die große Desinformation. Damit deutlich wird, wie wichtig es ist, in Qualität zu investieren.
Im vergangenen Dezember haben wir das Konzept “BILDblog für alle” schon einmal ausprobiert und unter anderem berichtet, wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” im Reiseteil für die Lufthansa wirbt und “Spiegel Online” im Autoteil für Audi, wie der “Remscheider General-Anzeiger” an dem Versuch scheitert, über HIV und Aids aufzuklären, und wie der “Spiegel” die Geschichte klittert, um Stimmung für ein Konjunkturprogramm zu machen. An diesen Versuch wollen wir ab Montag anknüpfen. Und wir sind dabei, wie schon bisher, auf Ihre Mithilfe angewiesen. Bitte unterstützen Sie uns durch “sachdienliche Hinweise”, wenn Ihnen Fehler und Falschmeldungen auffallen, in welchem Medium auch immer. Nach dem alten BILDblog-Motto: “Die kleinen Merkwürdigkeiten und das große Schlimme.”
Stefan Niggemeier und Lukas Heinser sind wie bisher dabei; neu ins Team kommt der freie Journalist, Blogger und Journalistenausbilder Christian Jakubetz. Den Namen BILDblog wollen wir beibehalten, weil er für die Art von unideologischer Medienkritik steht, die wir weiter pflegen wollen. Es ist zu befürchten, dass “Bild” darin auch in Zukunft eine tragende Rolle spielen wird.
Danke für die sensationelle Unterstützung in den vergangenen fast fünf Jahren! Wir hoffen, dass Sie uns gewogen bleiben.
Am Montag fand ein Spaziergänger in Bruckberg bei Landshut die Überreste einer Leiche. Die Polizei vermutet, es könnte sich um einen Mann handeln, der 1980 verschwand, um sich das Leben zu nehmen.
Der Mann sei “in elf Meter Höhe in einer Fichte” gefunden worden, weiß “Bild” und folgert:
Offenbar wuchs die Leiche nach dem Selbstmord mit dem Baum in die Höhe.
Das wäre allerdings eine botanische Sensation. Denn Bäume wachsen bekanntlich nur an ihrer Spitze. Kindern erklärt man das (aus naheliegenden Gründen) meist nicht mit festgebundenen Selbstmördern, sondern in die Borke geritzten Herzen: Die befinden sich auch Jahrzehnte später noch auf derselben Höhe.
Mit Dank an Alexander H., Gereon H., Florian J., Torsten R. und René K.!
“Ich frage mich, für wen diese Veranstaltung eigentlich gemacht ist? Zum einen tummelt sich die Blogger-Twitter-Internetgemüse-Riege in einem Kreis und schmiert sich entspannt Smalltalk auf die Tastatur, zum anderen werden in Panels und Diskussionsrunden Dinge erklärt, von denen ich dachte, die seien Grundvoraussetzungen, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen.”
“bei der re:publica soll es um netzkultur gehen, nicht um weltprobleme, und deshalb ist das babykotze-panel auch genau richtig und wichtig. wo, wenn nicht hier? was aber nicht gut ist, ist der inhalt der panels. das ist alles so verdammt basic. und dann auch noch größtenteils verdammt schlecht vorgetragen. und immer noch so ohne jeden diskurs, jeden streit, jedes disagreement, so vollkommen ohne eier.”
“Ausgerechnet auf einem Treffen von und für Blogger, deren Selbstverständnis verlangt, in Online-Tagebüchern permanent über ihren Alltag zu kommunizieren, war das Web weg, leuchteten die schicken Laptops funktionslos im Saal. Zum Trost fotografierte man sich gegenseitig mit dem I-Phone.”
“Im Friedrichstadtpalast projiziert ein Beamer Twitter-Kommentare und SMS-Beiträge auf die Leinwand. Alles flimmert sofort, in bunte Grafik-Blasen eingesetzt, im Raum – im Rücken derer, die auf der Bühne stehen. Was das Publikum teils diebisch freut. Bei der Diskussionsrunde ‘Die Medienwelt im Wandel’ beschwerte sich Helmut Lehnert, Leiter des Programmbereichs Film und Unterhaltung beim RBB, dass die Kommentare hinter ihm erscheinen, wo er sie gar nicht sehen kann. Reaktion auf der Twitterwall: ‘Heul doch.'”
“Auf der Web-Konferenz re:publica in Berlin stellte der US-Think Tank ‘Freedom House’ eine Untersuchung zur Online-Freiheit vor. Das Ergebnis: Das Netz ist fast überall zensiert.” (Studie als pdf-file auf freedomhouse.org)
“Es wird verflucht noch mal Zeit, dass die Akteure des Web 2.0, die Social Networker, Twitterer und vor allem die Blogger, von sich ablassen, die selbstbeschworene Macht ausüben und ihren Fokus auf die Probleme unserer Zeit richten! Vom Pathos hingerissen, möchte ich sagen: Nehmt die Zügel in die Hand, macht Stimmung im Land, reißt die Grenzen ein und zeigt der Politik wo der Hase läuft.”
“Viele traditionsreiche US-Zeitungen verlagern ihre Berichterstattung aufs Netz. Doch die E-Medien brauchen den ‘alten Journalismus’ – droht das Ende der Pressefreiheit?”
Klaus Meier, Professor für Journalistik an der Hochschule Darmstadt, hält nicht viel von der Studie “Journalismus 2009” des Marktforschungsinstituts YouGovPsychonomics (Pressemitteilung auf psychonomics.de). Eine Bastelanleitung mit 7 Tipps.
“Zeitungen spielen sich gerne als Hüter des Urheberrechts auf, das vom Internet ausgehöhlt werde. Die eigentliche Enteignung der Urheber findet aber in Zeitungen statt.”
“Der ORF ist das einzige öffentlich-rechtliche Medienunternehmen der Welt, das offiziell davon ausgeht, weiterhin 40 Prozent Marktanteil halten zu können. Internationalen Vergleichen zufolge wären in zehn Jahren dreißig Prozent durchaus ein Erfolg.”
“Und diese Geisteshaltung, Journalisten zu behandeln wie – im sowjetischen Jargon würde man sagen – Transmissionsriemen, das heißt, es wird etwas verlautbart und Journalisten haben es gefälligst weiterzugeben, vor allen Dingen aber nicht negativ zu sein, das ist mittlerweile auch eine Haltung, die auch an Journalistenschulen durchaus so weitergegeben wird und zum Berufsverständnis gehört.”
“Das hervorragende Finale von ‘Schmidt & Pocher’ dürfte auch dem Programmdirektor des Ersten gefallen haben. Da die Aufzeichnung etwas zu lang geraten war, musste gekürzt werden, wobei zufällig kritische Worte Oliver Pochers über Volker Herres herausgeschnitten wurden.”
Als die “Financial Times Deutschland” ihren Lesern am 16. September 2002 in einem ganzseitigen Leitartikel empfahl, bei der Bundestagswahl für die CDU/CSU zu stimmen, löste das große Aufregung aus. Die “Bild”-Zeitung sprach davon, dass die Zeitung “ein journalistisches Tabu in Deutschland” breche und behauptete: “Erstmals in der Pressegeschichte der Bundesrepublik gibt eine Zeitung eine Wahlempfehlung zugunsten einer Partei ab!”
Dabei gibt die “Bild”-Zeitung selbst regelmäßig Wahlempfehlungen ab — sie steht nur nicht dazu.
Quelle:
Frank Brettschneider und Bettina Wagner: “‘And the winner should be…’ Explizite und implizite Wahlempfehlungen in der ‘Bild-Zeitung’ und der ‘Sun’.” In: Massenmedien als politische Akteure. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008.
Die Politologin Bettina Wagner und der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider haben die Berichterstattung von “Bild” in den vier Wochen vor jener Bundestagswahl 2002 untersucht (siehe Kasten rechts). Sie werteten alle Berichte aus, die sich auf die SPD oder CDU/CSU oder ihre Spitzenkandidaten Gerhard Schröder und Edmund Stoiber bezogen, und untersuchten sie u.a. nach den enthaltenen Wertungen.
Das Ergebnis war eindeutig:
Über die Union und Stoiber berichtete “Bild” im Saldo neutral. Schröder und noch stärker die SPD wurden hingegen deutlich negativ bewertet. Dieser negative Effekt wurde sogar noch dadurch verstärkt, dass “Bild” in den untersuchten Wochen viel häufiger über Schröder berichtete als über Stoiber.
Eine Zeitung kann auch dadurch implizite Wahlempfehlungen aussprechen, dass sie “opportune Zeugen” auswählt, also solche Akteure zu Wort kommen lässt, die sich im Einklang mit den eigenen Einstellungen oder der redaktionellen Linie befinden. Brettschneider und Wagner haben auch untersucht, wer sich in “Bild” über die jeweiligen Kandidaten äußern darf — und mit welcher Tendenz. Auf einer Skala von -1 (ausschließlich negativ) bis +1 (ausschließlich positiv) ergab sich folgendes Bild:
Dass sich Unions-Politiker negativ über Schröder äußerten und SPD-Politiker negativ über Stoiber, ist kein Wunder. Frappierend ist aber, dass die Aussagen von SPD-Politikern über ihren eigenen Kandidaten, die in “Bild” wiedergegeben wurden, nur moderat positiv sind — und nicht annähernd so überschwänglich wie die Aussagen von Unions-Politikern über ihren eigenen Kandidaten, die “Bild” zitierte.
Die Parteilichkeit von “Bild” wird auch dadurch deutlich, wen das Blatt zu Wort kommen ließ. In den vier Wochen vor der Wahl fanden sich in “Bild” über Gerhard Schröder fast doppelt so viele Aussagen von Unions-Politikern wie von SPD-Politikern. Bei Stoiber ist das Verhältnis noch deutlicher: 46 Aussagen von SPD-Politikern über den Spitzenkandidaten der CDU/CSU stehen 111 Aussagen von Unions-Politikern gegenüber.
Die Berichterstattung von “Bild” im Wahlkampf 2002 hatte also in jeder Hinsicht Schlagseite. Oder wie die Forscher formulierten:
“Insgesamt betrachtet kann also eindeutig von einer Bevorzugung der Union gesprochen werden.”
Sie stellten zudem fest, dass die Wirtschaftspolitik, die eher als Kompetenzbereich der Union wahrgenommen wurde, die Berichterstattung von “Bild” dominierte — die dieses Thema deutlich prominenter behandelte als andere deutsche Medien, was man ebenfalls als einen Hinweis auf eine implizite Wahlempfehlung deuten könne.
Das Fazit der Wissenschaftler:
“Bild” berichtete häufiger und negativer über die SPD als über die Union
In “Bild” kamen häufiger Befürworter der Union zu Wort
In “Bild” stand ein für die Union günstiges Thema an der Spitze der Agenda
Die Untersuchung verglich die Berichterstattung von “Bild” auch mit der der britischen Boulevardzeitung “Sun” im Wahlkampf zum Unterhaus 2001. Die “Sun” hatte sich explizit für Labour und Tony Blair ausgesprochen. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass die implizite Wahlempfehlung von “Bild” dennoch intensiver war als die implizite Wahlempfehlung der “Sun”:
Demnach war die “Bild”-Berichterstattung auch ohne offenes Endorsement weniger objektiv als die Berichterstattung der “Sun”. Medien können auch dann als politischer Akteur auftreten, wenn sie nicht eine explizite Wahlempfehlung aussprechen.
Die Untersuchung zeigt, dass dabei die Parteinahme nicht einmal so offensichtlich sein muss wie zuletzt im Fall des thüringischen Ministerpräsidenten. Insgesamt finden in diesem Jahr übrigens fünf Landtagswahlen, acht Kommunalwahlen, die Europawahl, die Bundestagswahl und die Bundespräsidentenwahl statt.
Apropos. Heute “meldet” “Bild”:
Erst im nächsten Satz stellt sich heraus, dass es sich dabei nicht um eine Tatsache handelt und das Zitat trotz der Formulierung “Für die SPD…” nicht von der SPD stammt. Der Artikel geht nämlich so weiter: