Archiv für April 6th, 2009

Abwrackprämie jetzt auch für alte Monate

Fangen wir mit einer kleinen, aber typischen Sache an.

Haben Sie vergangene Woche auch gehört, dass der Einzelhandel über die Abwrackprämie stöhnt? Weil die Menschen ihretwegen weniger Geld für Dinge ausgeben, die keine Autos sind? Möglicherweise stimmt das sogar. Aber die Zahlen, die der Anlass für die Behauptung sind, geben das nicht her.

Das Statistische Bundesamt hat errechnet, dass die Umsätze im Einzelhandel im Februar um beunruhigend klingende 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurückgegangen seien. Die Nachrichtenagentur Reuters begann ihre Meldung deshalb mit dem Satz:

Die Abwrackprämie verdirbt Kaufhäusern, Supermärkten und dem Versandhandel das Geschäft.

Nun hatte der Februar 2008 allerdings etwas, das der Februar 2009 nicht hatte: einen 29. Tag. Dank des Schaltjahres brachte er es auf 25 Einkaufstage, in diesem Jahr waren es nur 24. Das entspricht einem Rückgang von: 4 Prozent.

Reuters erwähnt den fehlenden Verkaufstag sogar beiläufig, zieht aber keine Schlüsse daraus, dass sich ein großer Teil des ach so dramatischen Umsatzrückgangs also ganz banal dadurch erklären ließe, dass der Februar kürzer war — was natürlich weder in die Stimmung passt, noch für knackige Überschriften taugt:


Die “Financial Times Deutschland” ging noch weiter, ließ den Hinweis auf den kürzeren Monat ganz weg und schloss aus dem Umsatzminus schlicht und laut:

Rezession würgt Umsätze im Einzelhandel ab

Immerhin: Spätestens im Februar 2012 müsste es dann ja abrupt wieder bergauf gehen.

Mit Dank an Matthias Schrade und sein Blog “Börsenalltag”.

All Along the Watchblog

von Kathrin Passig

Gibt es nicht schon viel zu viel Erbsenzählerei, Besserwisserei und Bastiansickness auf der Welt? Und muss es nicht auch irgendwie ungesund für einen netten Menschen wie Stefan Niggemeier sein, sich so viel mit dem Schlechtfinden anstatt mit dem Gutfinden oder dem Ausdenken neuer, ganz anderer Dinge zu befassen? Ja und ja, und trotzdem brauchen wir dringend mehr Watchblogs. Denn der Mensch ist ein träges Geschöpf, das sich durch gute Vorsätze wie “ordentlich recherchieren” und “nicht immer lauter haltlosen Unfug in die Zeitung schreiben” nur begrenzt motivieren lässt. Eine viel robustere Antriebskraft ist der Wunsch, von anderen Menschen nicht bescheuert gefunden zu werden. Das erklärt David Simon, Autor der Serie “The Wire”, in einem Interview, das Nick Hornby 2007 geführt hat:

“Ich will, dass Mordermittler, Dealer, Hafenarbeiter oder Politiker in Amerika sagen können: Tatsache, genau so sieht mein Tag aus. Das ist mein Ziel. Und zwar nicht aus Stolz oder Ehrgeiz oder irgendeiner Autoreneitelkeit heraus, sondern aus Angst. Nackter Angst. Wie viele Autoren beschäftigt mich ständig der vage Albtraum, dass sich eines Tages jemand, der mehr vom Thema versteht als ich, hinsetzt und in epischer Breite auflistet, in welchen Punkten meine Texte oberflächlicher Betrug sind und auf lahmen, halbherzigen Annahmen fußen. Ich trage das Autorenetikett, und ich kriege gute Rezensionen, aber bei allem Erfolg hege ich immer noch die gleichen latenten Zweifel. Ich nehme an, so geht es sehr vielen Autoren.”

Das mag stimmen, aber es gibt eben auch sehr viele Autoren, deren Texte oberflächlicher Betrug sind und auf lahmen, halbgaren Annahmen fußen, und die nie von solchen Vorstellungen heimgesucht werden. Was daran liegt, dass es in der Praxis einfach viel zu selten vorkommt, dass jemand, der mehr vom Thema versteht als man selbst, sich hinsetzt und ganz genau auflistet, wo man überall schlampig gearbeitet hat.

Der Ethnologe Richard K. Nelson hat in den 1960er Jahren Orientierungstechniken der Inuit in Alaska untersucht und dabei unter anderem die öffentliche Bloßstellung als Motivationsinstrument beschrieben. Junge Inuit begleiten Erfahrenere auf der Jagd und werden bei jedem Fehler zurechtgewiesen und verspottet. Später erzählt man die Fehler überall herum, damit auch die Nichtdabeigewesenen noch einmal wie Nelson Muntz bei den Simpsons mit dem Finger auf den armen Trottel zeigen und “Ha-ha!” rufen können. “Die Angst vor solchem Spott”, so Nelson (jetzt wieder der Ethnologe, nicht die Simpsonsfigur), “zwingt den Eskimo dazu, sich solide Navigationskenntnisse anzueignen und bei seinen Unternehmungen Vorsicht walten zu lassen”. (Ich habe die Originalquelle übrigens nicht gelesen und zitiere hier nur fahrlässig aus der Sekundärliteratur; diejenigen Leser, die ordentliche Journalisten sein oder werden wollen, machen das bitte zu Hause nicht nach.) (Immerhin habe ich mir die Mühe gemacht, herauszufinden, ob Nelson auch auf Deutsch ein “Kulturanthropologe” ist. Ist er nicht.)

Recherche ist ein zeitraubendes und oft gar nicht besonders interessantes Ding. Man wird in den seltensten Fällen für sie bezahlt, und 99,97% aller Leser des fertigen Artikels nehmen Dahinbehauptetes entweder für bare Münze oder sind zu träge, sich zu beschweren, selbst wenn offensichtlich erfundene Statistiken zum Einsatz kommen. Das macht das gründliche Recherchieren (wie so viele andere Tätigkeiten, die mit “gründlich” anfangen) zu einer Beschäftigung, der sich kein normaler Mensch freiwillig widmet. So wie Ärzte und anderes Krankenhauspersonal mehrmals täglich dazu angehalten werden müssen, sich die Hände zu waschen, weil sie es trotz aller Einsicht eben nicht von sich aus tun, so muss irgendjemand sich die Mühe machen, mehrmals täglich mit dem Finger auf schludrige Journalisten zeigen und “Ha-ha!” zu rufen. Weil es der Weltverbesserung dient.

Kathrin Passig ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie ist Mitglied der “Zentralen Intelligenz-Agentur” (ZIA), bloggt in der Riesenmaschine, hat 2006 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen und u.a. die Bücher “Lexikon des Unwissens” (mit Aleks Scholz) und “Dinge geregelt kriegen — ohne einen Funken Selbstdisziplin” (mit Sascha Lobo) geschrieben.

6 zur re:publica'09: Frauen, Freaks oder Geeks

1. “taz-Text-Korrektur”

(mevme.com/lizblog, Lisa Rank)

Lisa Rank schreibt als freie Journalistin einen Text zur re:publica’09 für die taz. Doch dieser wird vom Chef vom Dienst so umgeschrieben, dass er nicht mehr im Sinne der Journalistin ist. In den Kommentaren zur gebloggten Korrektur reagiert der betreffende CvD, Sebastian Heiser (Kommentar 18): “Es war nicht meine Absicht, Lisa dort eine Meinung reinzuschreiben, die nicht ihre ist. Ich habe mich daher bei ihr bereits entschuldigt.”

2. “Kritik an der re:publica ’09”

(praegnanz.de/weblog, Gerrit van Aaken)

“Meines Erachtens braucht die re:publica im nächsten Jahr ein neues Konzept, intensiveres Briefing der Vortragenden und eine gehörige Komplexitätsreduktion. Weniger parallele Veranstaltungen, mehr Fokus auf die Zukunft und bitte nicht immer die gleichen Nasen auf der Bühne. Bitte kein Status Quo mehr, auch das gehört zum Shift!”

3. “dieses diffuse, pauschale rumnörgeln nervt”

(wirres.net, Felix Schwenzel)

“ein klassiker unter bloggern ist ja, den journalisten (zu recht) mangelnde recherche, oberflächlichkeit oder die falschen themen vorzuwerfen. selbst zu telefonieren, selbst nachzufragen oder selbst recherchieren, dazu hat aber auch keiner bock. blogger weisen dann gerne darauf hin, dass man ohne presseausweis ja eh nix machen könne als von anderen seiten zu zitieren. was natürlich quark ist wer o-töne haben, mit politikern reden, auf einen parteitag oder in den bundestag will, bekommt das auch so hin — wenn er will.”

4. “Wenn Frauen bloggen”

(zwilobit.de, Jette)

“Es gibt Ausnahmen, aber Frauen schreiben vor allem über ihren Freundeskreis und Liebeleien, darüber, wie sie ihre kleine oder große Familie wuppen und wie anstrengend und frustrierend das bisweilen ist, wenn Männer mit Vorliebe alte Klischees bedienen.”

5. “Internetkonferenz ohne Internet”

(konniwinkler.de)

“So ganz sicher bin ich mir allerdings nach diesen Tagen nicht, ob ich wirklich Ahnung vom Internet habe. Diese Konferenz hat mich etwas durcheinander gebracht. Bisher dachte ich, überdurchschnittlich viel Internet zu konsumieren und zu wissen, was ich da mache. Aber da sind Leute vor Ort gewesen, die echte Ahnung hatten. Andere wiederrum waren einfach nur Freaks oder Geeks.”

6. “Cory Doctorow: How to survive the Web without embracing it “

(make.tv/republica2009, Video, 48:06 Minuten)

Wer die hörenswerte Rede von Cory Doctorow verpasst hat oder wem er passagenweise doch etwas zu schnell redete, kann es ja nochmals versuchen. Andere Videobeiträge von der re:publica’09 gibt’s unter make.tv/republica2009, zum Beispiel die Vorträge von Lawrence Lessig, Peter Glaser oder Jimbo Wales.

Bildblog, Buchholz, Public Press

1. Interview mit Christoph Schultheis

(zeit.de, Sven Stockrahm)

Das Bildblog beschäftigt sich ab heute nicht mehr ausschliesslich mit der Bild-Zeitung, sondern nimmt sich neu auch anderer Medien an. Der abtretende Hauptblogger, Christoph Schultheis, spricht über seine viereinhalb Jahre bei Bildblog: “Ein Bild-Opfer hat mir beispielsweise mal glaubwürdig berichtet, es sei nach einem gewissenlosen Artikel in dem Blatt von Passanten auf der Straße angespuckt worden. Das wünsche ich niemandem.”

2. Interview mit Patrik Müller

(persoenlich.com, Matthias Ackeret)

Patrik Müller wurde mit 31 Jahren Chefredakteur des Sonntag, einer neuen Schweizer Sonntagszeitung aus der Vorstadt, die sich wider Erwarten anderer Journalisten einen Platz erkämpfen konnte. Mutige Personalentscheide bleiben aber die Ausnahme: “Bei Ringier habe ich erlebt, dass gewisse Chefs Angst haben, bessere Leute zu engagieren, weil ihnen diese gefährlich werden könnten.”

3. “Hoffentlich geht die Krise weiter”

(kress.de, Christian Meier)

Karl-Heinz Ruch, Geschäftsführer der taz, kommt die aktuelle Wirtschaftslage offenbar entgegen: “Man muss fast zynisch sagen: Hoffentlich geht die Krise weiter”. Dennoch sieht man sich als bürgerliche Zeitung: “Wir sind Teil einer bürgerlichen Gesellschaft, sind eine bürgerliche Zeitung. Aber das wissen nicht alle.“

4. Interview mit Bernd Buchholz

(sueddeutsche.de, Christopher Keil)

Der Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, Bernd Buchholz, glaubt, dass sich einige Verlage “mit dem Schlucken unreifer Früchte den Magen verdorben” haben und meint damit die Internetstrategie. Auf die Frage, ob er Chef eines sterbenden Mediums geworden sei, sagt er: “So ein Quatsch.”

5. “Amerikanische Initiative will dem Tod der Tageszeitung trotzen”

(nzz.ch, Andrea Köhler)

Die NZZ stellt das Projekt The Public Press vor, das sich aus “Redaktoren, Reporter und Fotografen, die in der Zeitungskrise ihren Job verloren haben”, rekrutiert: “Die Nachrichtenredaktorin ist die einzige Festangestellte mit einem Gehalt, alle anderen arbeiten ohne Bezahlung. Neun feste Schreiber und drei Fotografen stellen den Kern; der Rest wird von Freien zugeliefert.”

6. “Ratloser Verlegerverbandspräsident”

(medienspiegel.ch, Video, 5 Minuten)

“Schon fast etwas gemein, wie Stephen Colbert hier den Vorsitzenden der Newspaper Association of America vorführt”.