Archiv für Mai 13th, 2008

Schlimm & schlimmer

Es ist eine erschreckende Zahl und ein hochemotionales Thema, aber der “Bild”-Bericht dazu ist geradezu vorbildlich:

Die Gewalt an Berlins Schulen reißt nicht ab. Körperverletzung, Bedrohung, Mobbing. Die Opfer: Schüler und immer mehr Lehrer.

Allein im vergangenen Schuljahr wurden 1735 Gewaltvorfälle gezählt. Zehn Prozent mehr als 2005/2006 (1573 Fälle). Schlimm! (…)

Dennoch sieht Bildungssenator Jürgen Zöllner (62, SPD) eine Besserung der Situation: “Die Zunahme der Meldungen ist nicht mehr so stark.” Im Schuljahr 2005/2006 wurden 76 Prozent (!) mehr Gewalttaten gemeldet. (…)

Seit 1992 sind Berlins Schulleiter verpflichtet, Gewaltdelikte zu melden — deutschlandweit einmalig. Doch kaum ein Direktor hielt sich daran, aus Angst, seine Schule könnte in ein schlechtes Licht geraten. Das hat sich offenbar geändert.

Schwer zu sagen, ob dieser “Bild”-Artikel vom 28. März 2008 journalistisch so unangreifbar war, dass er im Nachheinein durch die interne “Bild”-Qualitätskontrolle fiel. Jedenfalls vermeldet “Bild” heute, sechs Wochen später, dieselbe Entwicklung einfach noch einmal…

…diesmal allerdings nach den üblichen journalistischen Standards des Blattes.

Von “Bild” gestrichen:

“Die Zahlen spiegelten aber nicht die Gewaltentwicklung an den Schulen wider, sondern das Meldeverhalten der Schulen, betonte Staatssekretär Eckart Schlemm.”

Aus einer aktuellen Meldung der Nachrichtenagentur dpa (wo man offenbar auch nicht gemerkt hat, dass die Zahlen längst bekannt sind [pdf]), die “Bild” als Grundlage diente, hat das Blatt zum Beispiel die Information gestrichen, dass nach Angaben des Senats die Zunahme damit zusammenhängt, dass ein höherer Anteil der Gewaltdelikte gemeldet wird. Überhaupt hat “Bild” die wichtige Unterscheidung entfernt, dass es sich um die Zahl der gemeldeten, nicht der tatsächlichen Fälle handelt.

Von “Bild” gestrichen:

“Die Zahl von 2007 liege aber immer noch deutlich unter den Steigerungsraten von 1998 bis 2004.”

In derselben Meldung verbreitet dpa auch noch einmal einige Zahlen aus der (vor neun Wochen veröffentlichten) Polizeistatistik über die Kinder- und Jugendkriminalität insgesamt. Auch dabei gibt es einen leichten Anstieg. Allerdings liegen die Zahlen immer noch weit unter den Werten früherer Jahre. Diese Information hat “Bild” ebenfalls säuberlich aus der dpa-Meldung entfernt.

Wenn man sich die Entwicklung im Überblick ansieht, versteht man auch die besondere Form selektiver Wahrnehmung bei “Bild”. Hätte “Bild” auch bei der Polizeistatistik einen Fünf-Jahres-Vergleich gemacht wie bei der Gewalt an Schulen (Grafik links oben), hätte das Blatt nämlich einen deutlichen Rückgang von Jugendgewalt feststellen müssen (Grafik links unten).

Aber wie unrealistisch wäre das denn?

Allgemein  

Heute anonym XVII

Es ist kein schöner Artikel, den die “Bild”-Reporter Oliver Löhr und Christian Stenzel da an Pfingsten geschrieben haben, nachdem auf einer Flugschau in Eisenach ein Pilot mit seinem Flugzeug aus bislang ungeklärter Ursache beim Start von der Bahn abgekommen war und mehrere Menschen z.T. tödlich verletzt hatte.

“Großes Unverständnis”

Opferjurist Thomas Kämmer (…): “Die Situation des Piloten ist in keiner Weise mit dem unermesslichen Leid der Angehörigen vergleichbar, weshalb der Brief auf großes Unverständnis stößt.”

Ingrid O. (14) überlebte das Unglück. Sie ist die Zwillingsschwester der getöteten Lisa: “Ich verstehe gar nicht, was der will. Der hat meine Schwester in den Tod geflogen.”

Auf Bild.de zitieren die “Bild”-Reporter Hinterbliebene und einen sie betreuenden Juristen (siehe Kasten), wie sie sich über einen Brief äußern, den der Pilot an die Angehörigen geschrieben habe — “hastig auf weißem Krankenhauspapier”.

Nun wissen wir nicht, ob der schwer verletzte Mann (die “Bild”-Reporter nennen ihn “Todespilot” und anonymisiert “Jan L.”) seinen Brief tatsächlich “hastig” geschrieben hat. “Hastig” war man wohl eher bei Bild.de, wo am Ende des veröffentlichten Briefes von “Jan L.” sein vollständiger Name zu lesen ist:

Mit Dank an Robert und die anderen Hinweisgeber.

Schwarz-Weiß-Malerei

Henning Lohse, der offenbar freier Journalist in Paris ist, hat einen Text über ein Musikvideo der Band “Justice” geschrieben. Oder besser: Er hat zwei Texte geschrieben. Einen für Bild.de und einen für “Spiegel Online”. Das Video, das in Frankreich derzeit für Kontroversen zu sorgen scheint, zeigt eine Gruppe Jugendlicher, die randalierend und prügelnd durch Paris zieht.

Während Lohse im “Spiegel Online”-Text schreibt…

Besonders schlimm: Die Schläger im Video sind in der Mehrheit arabischer Abstammung oder Schwarze, ihre Opfer sind weiß.

…steht im Bild.de-Text:

Besonders schlimm: Die Schläger im Video sind alle arabischer Abstammung oder Farbige, ihre Opfer sind weiß.

Es fällt nicht leicht, zu beurteilen, ob die Schläger nun bloß “in der Mehrheit” oder “alle” schwarz und arabischer Abstammung sind. Ihre “Opfer” allerdings sehen beispielsweise so aus:

Oder auch so:

Mit Dank an Martin S. für den sachdienlichen Hinweis.

Nachtrag, 19.35 Uhr: Jetzt raten Sie mal, aus welchem Medium diese Korrektur stammt. Bild.de oder “Spiegel Online”?

Kleiner Tipp: Die Antwort ist überhaupt nicht überraschend.

Nachtrag, 16.5.2008: “Spiegel Online” hat inzwischen zusätzlich zum Text von Henning Lohse eine etwas anspruchsvollere Besprechung des Justice-Videos veröffentlicht. Bild.de hingegen hat den Lohse-Text offenbar ganz aus dem Angebot entfernt. Warum auch immer…

6 vor 9

Der neue Nachmittag bei RTL
(Berliner Zeitung, Klaudia Wick)
“War der Nachmittag früher die Sendestrecke für das ‘junge Programm’, ist es nun für alle gemacht, die die Zeit bis zum Abend irgendwie rumkriegen müssen. Ein Programm, das nicht stört, aber auch nichts bietet, das man gedanklich jederzeit ein- und wieder ausschalten kann.”

ARD und das Erste starten Mediatheken
(onlinejournalismus.de, Thomas Mrazek)
“Mein erster Eindruck: Navigationstechnisch müssen sich die federführenden Köpfe vom Südwestrundfunk da dringend noch etwas einfallen lassen, die Orientierung fällt selbst einem einigermaßen geübten Nutzer schwer.”

Onlinepläne der Öffentlich-rechtlichen
(taz, Steffen Grimberg)
Was darf mit Gebührengeldern im Internet publiziert werden? “… die Medienpolitik scheint sich vom zunächst recht siegessicheren Verleger-Lager abgewendet zu haben, von ‘strategischen Fehlleistungen’ der Verlage ist die Rede.”

Die Jelinek-Österreicher triumphieren
(Joachim Lottmann)
“Endlich sind sie da, die man immer nur behauptet, ja herbeigebetet und -gebettelt hatte, und die es bis gestern partout nicht geben wollte: Pritzlowil oder wie er hieß, der Kampusch-Peiniger, Fritzl der Superfreak, der endlich den Monströsitätsgrad von Adolf erreicht.”

Sieben verstörende Minuten
(Spiegel Online, Henning Lohse)
Eine Gruppe Jugendlicher zieht durch Paris, schlägt wahllos Menschen nieder, randaliert, klaut – das ist das neue Musikvideo der französischen Elektro-Band Justice. Besonders an dem Gewaltclip sind die meisterhaft komponierten Szenen, die extrem sorgfältig ausgewählten und bearbeiteten Bildern, die geradezu eine Sogwirkung entwickeln. Vorsorglich fürchtet man schon neue Gewalt in den Banlieus.

Wie man im Internet Bilder findet
(Random knowledge, Kurt)
Ausführliche Liste mit Links zu Suchmaschinen und Archiven, darunter sowohl kommerzielle Anbietern als auch Behörden und freie Quellen.

In eigener Sache: Das Ergebnis unserer Umfrage zu den kleinen Bildern hier ist 50:50 ausgegangen, wir werden deshalb nur in Ausnahmefällen Bilder oder Videos zeigen. Ronnie Grob, den ich bei “6 vor 9” diesen Monat vertrete, schreibt solange aus China.