Archiv für März 8th, 2005

Schock-Urteil

Das Landgericht Landau hat am Montag die Eltern eines verhungerten Säuglings zu Bewährungsstrafen verurteilt. Es befand sie, wie die Nachrichtenagentur AP berichtet, der Körperverletzung mit Todesfolge und der Verletzung der Fürsorgepflicht schuldig.

Für “Bild” ist das ein “Schock-Urteil”:

Die Rabeneltern kamen mit Bewährung davon!

Nicht nur “Bild” ist schockiert, auch die “Bild”-Leser werden es sein. Nach dem Lesen des Artikels muss man einfach schockiert sein über das Urteil. Das liegt allerdings nicht nur am Urteil, sondern auch am Artikel.

“Bild” stellt den Landauer Fall in den Zusammenhang mit dem der vor wenigen Tagen in Hamburg verhungerten Jessica. Dabei haben beide Fälle wenig gemein. Der Mutter in Landau wurde nicht vorgeworfen, ihren Sohn nicht ernährt zu haben. Sie hat das Kind gestillt — warum es trotzdem so extrem unterernährt war, blieb ungeklärt. Die Eltern hätten trotz der offensichtlichen Todesgefahr für das Kind viel zu lange keinen Arzt aufgesucht, urteilte der Richter. Der Tod sei von den Eltern nicht beabsichtigt gewesen, aber “billigend in Kauf genommen” worden. Die Vorwürfe im Fall der Hamburger Eltern sind ungleich schwerwiegender.

Um den Eindruck von einem “Schock-Urteil” zu erreichen, lässt “Bild” wichtige Informationen weg. “Bild” verschweigt, dass auch der Staatsanwalt nur Bewährungsstrafen für die Eltern beantragt hatte — für die am Verfahren Beteiligten war das Urteil also keineswegs schockierend. “Bild” verschweigt, dass sich der Fall vor fast vier Jahren ereignet hat und der Vorsitzende Richter die lange Dauer des Verfahrens strafmildernd wertete. “Bild” verschweigt auch, dass die beiden verurteilten Eltern als Bewährungsauflage 1500 bzw. 1300 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten müssen.

Wenn man all das weiß, kann man das Urteil natürlich immer noch für falsch halten.

Mit “Bild” im Kopierraum

Interessante Frage, die Bild.de heute aufwirft:

Sex am Arbeitsplatz:
Wie weit darf ich gehen?

Unser Antwortvorschlag lautet: “17,5 Kilometer”, was natürlich ziemlich albern ist, aber nicht halb so albern wie das, was Bild.de antwortet. Dort hat man die Überschriftenfrage noch ergänzt um die Zusatzfragen: “Wohin, wenn das Verlangen zu groß wird?” und: “Wann kostet’s mich den Job?” — “Klicken Sie sich durch!”.

Das “Wohin” beantwortet Bild.de recht detailliert mit folgenden Vorschlägen: gleich im Büro (“verlockend” — wenn man die Gefahr liebt); auf die Toilette (“doppelt prickend” — wenn man die Gefahr liebt); auf den Balkon (aber nur zum Knutschen); ins Parkhaus (gut auf Auto-Rücksitz und hinter “dicker Säule”); in den Kopierraum (geil — wenn man die Gefahr liebt); in den Park (rundum empfehlenswert).

Die Frage “Wann kostet’s mich den Job” beantwortet Bild.de nicht, bzw. implizit mit: “Wenn ich erwischt werde”. Und die Frage “Wie weit darf ich gehen” beantwortet Bild.de nicht, bzw. implizit mit: “So weit ich will, wenn es mir nichts ausmacht, gefeuert zu werden”.

Schön wäre es natürlich gewesen, wenn in dem Text wenigstens irgendein Arbeitsrechts-Experte zu Wort kommen wäre, aber das darf man nicht Bild.de vorwerfen — vermutlich hat sich im Archiv der “Süddeutschen Zeitung” einfach kein Interview mit einem gefunden, bei dem man sich ohne Quellenangabe hätte bedienen können.

Zum Glück ist wenigstens auf das Umfrage-Archiv der “Jungen Karriere” Verlass. Und so kann Bild.de seine gefährlichen Sex-im-Kopierraum-Fantasien wenigstens anreichern mit zwei Umfrage-Ergebnissen, von denen das eine aus dem Juni 2004 stammt und das andere aus dem Februar 2002 und die überhaupt beide als Online-Umfragen so wenig verlässlich sind, dass man sie am besten gar nicht zitieren sollte, geschweige denn drei Jahre später.

Übrigens hat die “Junge Karriere” unbemerkt von Bild.de mit dem Februar-Heft ihren Namen in “karriere” geändert. Aber bis sich Bild.de einer Umfrage bedienen wird, die unter diesem neuen Titel geführt wurde, werden ja ohnehin noch ein paar Jahre vergehen.

Was stinkt

“Fast 38 Prozent der Deutschen können mindestens einen ihrer Kollegen ‘nicht riechen’. Das belegt eine Online-Umfrage des Wirtschaftsmagazins ‘Junge Karriere’.”

So steht es mit Datum vom 7.3.2005 auf Bild.de. Anschließend dann kommt in der (mit “Mir stinkt’s” überschriebenen) Meldung die Unternehmensberaterin Catrin Lenfers zu Wort – und hernach geht’s auch schon flugs zu weiteren, interessanten Ergebnissen der erwähnten Online-Umfrage.

So weit, so gut und warum nicht.

Nur: Die Umfrage, über die Bild.de mit Datum vom 7.3.2005 berichtet, stammt zwar tatsächlich aus dem Wirtschaftsmagazin “Junge Karriere”, allerdings aus Heft 12/04, erschienen am 23.11.2004. Und die O-Töne der Unternehmensberaterin Catrin Lenfers hat Bild.de nicht einmal aus dem zitierten Magazin, sondern offenbar Wort für Wort und ohne Quellenangabe aus einem Interview in der “Süddeutschen Zeitung” abgeschrieben, erschienen am 30.8.2003.

Mit Dank an demaja für den Hinweis.