Das muss man auch erst einmal können: Sich auf die Straße hocken, wo gerade ein Unfall passiert ist und ein junger Mann tot auf dem Asphalt liegt, und ein Foto davon machen, wie der Vater sein Gesicht in der Hand des Jungen vergräbt und weint und um seinen Sohn trauert.
Das muss man auch erst einmal können. Das muss man auch erst einmal wollen.
Der Fotograf Tim Foltin kann das und will das. Auf seiner Internetseite steht:
In seinem Portfolio zeigt er auch eindrucksvolle Fotos, die er von den Toten auf der Loveparade in Duisburg gemacht hat, wie sie im Müll liegen, ihre nackten Arme und Füße ragen unter den notdürftigen Abdeckungen heraus.
In der Nacht zum Samstag überfuhr ein alkoholisierter Autofahrer vor einer Discothek in Dinslaken zwei Fußgänger, die die Straße überquerten. Einer kam mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus, der andere verstarb noch am Unfallort. Hier machte Foltin das eingangs beschriebene Foto.
Foltin arbeitet für die “Bild”-Zeitung. Am nächsten Tag erschien die “Bild am Sonntag”:
Der Artikel liest sich, als zeige “Bild am Sonntag” das Foto aus pädagogischen Gründen. Als diene die Veröffentlichung nicht, die Schaulust zu befriedigen, sondern als könne sie helfen, die Zahl der Opfer von alkoholisierten Autofahrern zu reduzieren. Der Text endet mit den Worten:
Vielleicht wird der Totraser irgendwann dieses Foto sehen. Und mit ihm jeder, der immer wieder betrunken Auto fährt und damit das Leben anderer aufs Spiel setzt.
Vielleicht wollte “Bild” bloß ganz sicher gehen, dass der “Totraser und mit ihm jeder, der immer wieder betrunken Auto fährt” das Foto sieht, und hat es deshalb am Montag noch einmal gebracht:
Diesmal soll das Foto — ergänzt u.a. um eine Aufnahme, wie die eingepackte Leiche weggetragen wird — offenbar nicht nur andere aufrütteln, sondern auch Teil der Strafe für den Verursacher des Unfalls sein:
Schau her, Suffraser, das hast DU angerichtet! Vielleicht sehen dieses Foto auch andere Fahrer, die gerne mal ein Gläschen trinken — und lassen das Auto jetzt lieber stehen!
Ist das eine realistische Annahme? Ist das ein legitimes Anliegen?
Das sind ernst gemeinte, keine rhetorische Fragen. Aber dazu kommt die folgende: Ist das eine glaubwürdige Rechtfertigung für die Veröffentlichung, wenn sie von einem Blatt kommt, das regelmäßig beweist, dass ihm die Befriedigung niederer menschlicher Instinkte im Zweifel wichtiger sind als die Möglichkeit, Positives zu bewirken?
Und noch eine Frage: Wäre nicht trotzdem die Einwilligung der Familie des getöteten Jungen notwendig, die Zustimmung des Vaters, bevor man ihn in diesem intimsten Moment zeigt?
Wir haben Tim Foltin, den Fotografen gefragt, ob er eine Genehmigung hatte und ob er sie für notwendig hält. Seine Antwort:
Eine Einwilligung des Vaters habe ich nicht.
Sowas macht im Prinzip aber niemand bei Unfällen.
Wie aber da die genaue Rechtslage aussieht, weiß ich leider nicht.
Gedruckt wurde das Foto ja und von daher wird das so auch OK sein.
Die “Bild”-Zeitung teilte uns mit, sie äußere sich grundsätzlich nicht zu “Redaktionsinterna”.
Nachtrag, 23:45 Uhr. Foltins Homepage ist nicht mehr zugänglich. Und Bild.de hat seinen Namen unter dem Foto entfernt.
Nachtrag, 20. März. Jetzt ist Foltins Homepage wieder da — anscheinend auch in ihrer ursprünglichen Form.
Es ist nicht ohne Fallstricke, das Geschäft, aus irgendwelchen oft viertelseriösen Quellen Klatschnachrichten abzuschreiben und durch freie Improvisation daraus so etwas wie eine eigene Meldung zu machen.
Das Panorama-Ressort von “Spiegel Online” ist voll solcher Geschichten. Heute berichtet es darüber, dass der britische Starkoch Jamie Oliver von einer Reporterin auf sein Gewicht angesprochen wurde:
Auf die Frage nämlich, ob Oliver zugenommen hätte, soll er der britischen “Sun” zufolge gesagt haben: “Sind Sie von einem Boulevardblatt? Vielen Dank für die Feststellung, Sie Schlampe!” Was seine Körpermaße betrifft, versteht Jamie Oliver also nicht allzu viel Spaß.
Allerdings ist dies in Anbetracht der britischen Boulevardpresse fast schon verständlich. Es gibt wohl keine fiesere und menschenverachtendere Darstellung von möglichen Gewichtsproblemen bei Stars. Überflüssige oder neue Pfunde werden gern auch mit riesigen roten Pfeilen versehen.
“Etwa das falsche Schulessen gegessen?”, titelte zum Beispiel die “Daily Mail” hämisch und veräppelte damit Olivers Programm “Jamie’s School Dinners”. Mit dem Projekt setzt sich der Starkoch für gesünderes Essen in Schulkantinen ein.
Kleines Problem: Es ist nicht die britische “Sun”, die über die Frage und Olivers Reaktion berichtet hat. Es ist die australische “Herald Sun”.
Das ist auch kein Wunder, denn Jamie Oliver ist zur Zeit in Australien. Und dort fragte ihn die Reporterin, ob er seit seinem letzten Besuch im Land zugenommen habe …
… was die ganze freie “Spiegel Online”-Interpretation des “Schlampen”-Ausbruchs als Reaktion auf die angebliche Menschenverachtendstität der Boulevardpresse in Großbritannien einigermaßen deplatziert wirken lässt.
Die Katholische Nachrichtenagentur KNA hatte es besonders eilig. Keine zehn Minuten, nachdem die “Bild”-Zeitung in ihrer Online-Ausgabe über eine ihr exklusiv vorliegende Studie des Bundeninnenministeriums berichtet hatte, verbreitete die KNA in einer eigenen Meldung die “Bild”-Behauptungen ungeprüft weiter.
Die Agentur verfügte zu diesem Zeitpunkt allem Anschein nach über keinerlei eigene Informationen, was die Studie “Lebenswelten junger Muslime” herausgefunden hatte oder auch nur, was genau ihr Gegenstand war. Die KNA-Meldung beruht vollständig und ausschließlich aus dem, was die “Bild”-Zeitung behauptete, und macht es sich zu eigen, bis hin zur Überschrift: “Studie: Viele junge Muslime sind gegen Integration”
Dies ist die Geschichte, wie “Bild” vorab die Studie über “Lebenswelten junger Muslime in Deutschland” zugespielt wurde, wie das Blatt sie nutzte, um Stimmung gegen Muslime in Deutschland zu machen, und wie andere Medien dabei zu Komplizen wurden. Ein Lehrstück.
Wolfgang Frindte, einer der Autoren der Studie, formulierte im Nachhinein seine Fassungslosigkeit über die Rezeption der Untersuchung so:
Manche Journalisten suchen sich bei komplexen Dingen das heraus, was spannend ist und in die Philosophie des Mediums passt. In unserem Team hat es nach der Veröffentlichung in einer Boulevardzeitung große Entrüstung gegeben, sogar Verzweiflung. Da wurde ein Detail der Studie auf eine Weise in die Öffentlichkeit getragen, dass sich die von uns befragten Muslime missbraucht fühlen könnten — das ist traurig. Und wir haben uns in den vergangenen drei Tagen ziemlich alleingelassen gefühlt.
Der Psychologe Peter Holtz, ebenfalls einer der Autoren der Studie, schildert auf “Spiegel Online”, wie er drei Jahre lang Gespräche mit jungen Musliminnen und Muslimen führte, und wie skeptisch die ihm teilweise gegenüber traten.
Ein jüngerer Diskussionsteilnehmer sagte (…): “Egal was Ihr wollt und egal was Ihr macht, letztendlich heißt es doch wieder so und so viele Muslime sind radikal und wollen sich nicht integrieren.” Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde es für mich auch zum Ziel, diesen Menschen, über die in Deutschland so viel geredet wird und mit denen so wenig geredet wird, durch meine Arbeit eine Stimme zu geben.
Er hat dieses Ziel nicht erreicht. Es kam die “Bild”-Zeitung dazwischen. Jemand hatte ihr die Studie schon vorab zugesteckt. Bild.de machte aus ihr eine “Schock-Studie”. Und “Bild” am nächsten Tag die Schlagzeile:
“Bild” behauptete:
Gut 20 Prozent aller Muslime in Deutschland lehnen eine Integration ab. Besonders radikal sind junge Muslime ohne deutschen Pass.
Das ergibt eine Studie des Bundesinnenministeriums, die BILD exklusiv vorliegt. Laut der Untersuchung lehnt jeder vierte nichtdeutsche Muslim Integration ab, ist tendenziell gewaltbereit und stellt westliche Werte in Frage.
In den nächsten Stunden übernahmen die Nachrichtenagenturen den verzerrten “Bild”-Blick auf die Studie.
dpa:
Jeder vierte nichtdeutsche Muslim lehnt Integration ab
dapd:
Studie: Ein Viertel aller junger Muslime nicht integrationswillig
AFP:
Ein Viertel aller jungen Muslime ohne deutsche Staatsbürgerschaft ist einer Studie im Regierungsauftrag zufolge latent gewaltbereit und nicht an Integration in Deutschland interessiert.
Später am Abend war die Studie immer noch nicht öffentlich. Die “Schock-Studien”-Interpretation von “Bild” bildete weiter die alleinige Grundlage für die Auseinandersetzung mit ihr. Die Agentur dpa verbreitete, dass der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion der “Neuen Osnabrücker Zeitung” gesagt habe, die hohe Zahl nicht integrierter und auch nicht integrationswilliger Muslime sei “erschreckend”.
Die evangelische Agentur epd kam spät, war aber auch nicht schlauer, als sie am Donnerstagmorgen meldete:
Rund ein Fünftel der Muslime will sich offenbar nicht in Deutschland integrieren. Das geht laut “Bild”-Zeitung (Donnerstagsausgabe) aus einer noch unveröffentlichten Studie des Bundesinnenministeriums hervor.
Erst um 12:21 Uhr brachte sie eine längere Meldung, die sich erstmals von der “Bild”-Perspektive löst und differenziert über die Studienergebnisse berichtet:
Studie: Mehrheit deutscher Muslime für Integration – Teil junger Muslime hat jedoch radikale Einstellungen
In der Meldung findet sich auch der folgende Absatz, der angesichts der gerade demonstrierten medialen Reflexe besonders bemerkenswert ist:
Gemein ist den in Deutschland lebenden Generationen von Muslimen laut einer Auswertung von Interviews, dass sie eine Pauschalverurteilung der Muslime als Terroristen und eine vorschnelle Verknüpfung des Islam mit dem Terrorismus erleben. Eine stark negative Rolle wird demnach auch den Medien zugeschrieben, die aus Sicht der Befragten oft negativ und undifferenziert berichteten. Insgesamt fühlen Muslime sich in Deutschland wohl, auch wenn sie die deutsche Bevölkerung oft als distanziert und abweisend erlebten.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hatte inzwischen die Studie selbst vorgestellt, so dass sich die Gelegenheit zu einem differenzierteren, nicht von “Bild” verzerrten Blick auf ihre Ergebnisse ergab. Genau umgekehrt stellte es dpa in einer Meldung vom Donnerstagnachmittag dar und behauptete:
Kaum ist die Studie des Bundesinnenministeriums über junge Muslime bekanntgeworden, sieht sich Ressortchef Friedrich veranlasst, sie zu relativieren: Kein Generalverdacht gegen junge Andersgläubige.
So ist das also für dpa: Das “Bild”-Zerrbild der Studie ist die Wahrheit, und der genaue Blick auf die Studie ist eine Relativierung ihrer Ergebnisse.
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger warnte ebenfalls am Donnerstagnachmittag vor verkürzten Interpretationen:
“Ich warne davor, aus einer wissenschaftlichen Studie nur Schlagzeilen zu produzieren. (…) Wir sollten die Vorurteile der Vergangenheit und althergebrachte Reflexe endlich hinter uns lassen. Wir brauchen keine Debatte, die ein Zerrbild des Einwanderungslandes Deutschland vermittelt.”
“Bild” fühlte sich — sicher nicht zu unrecht — gemeint und machte Leutheusser-Schnarrenberger dafür am Freitag zum “Verlierer des Tages” (Ausriss rechts).
Am selben Tag zeigte die “Frankfurter Allgemeine Zeitung”, was man überraschendes entdecken kann, wenn man die Studie tatsächlich liest. Auf Seite 399 betonen die Forscher den Zusammenhang: Wer sich als nichtintegrierbar wahrgenommen fühle, fühle sich auch nichtintegrierbar. Und auf Seite 277 steht folgender Warnhinweis:
Was für ein Schock: Die Zahlen der “Schock-Studie” über junge Muslime sind nicht repräsentativ.
Aber noch einmal zurück zum Mittwochnachmittag, als Bild.de zum ersten Mal über die Untersuchung berichtete. Der Innenminister hatte der “Bild”-Zeitung für ihre Vorabveröffentlichung ein Zitat gegeben, das deren Interpretation als “Schock-Studie” stützte und ergänzte:
“Deutschland achtet die Herkunft und kulturelle Identität seiner Zuwanderer. Aber wir akzeptieren nicht den Import autoritärer, antidemokratischer und religiös-fanatischer Ansichten.”
Am Donnerstagabend stellte sich Friedrich im “heute journal” den Fragen von Marietta Slomka:
Friedrich: Die Studie hat 760 Seiten und sagt auf 760 Seiten, dass es um sehr viele komplexe Fragestellungen geht. Und es wäre sicher falsch, eine spezielle Randerscheinung rauszugreifen.
Slomka: Aber genau das ist jetzt natürlich geschehen, weil Sie oder Ihr Sprecher oder sonst jemand in Ihrem Ministerium diese Studie vorab, bevor sie veröffentlicht wurde, an die “Bild”-Zeitung weitergegeben hat. Daraus wurde dann prompt eine “Schock-Studie”.
Friedrich: Also, diese Studie ist nicht aus meinem Haus herausgegeben worden. Sie ist heute veröffentlicht worden. Sie ist heute auch ins Internet gestellt worden. Und kann von jedem eingesehen werden.
Slomka: Nachmittags. Die “Bild”-Zeitung hatte sie schon gestern.
Friedrich: Ja, das weiß ich nicht, müssen Sie die “Bild”-Zeitung fragen, woher sie sie hat. Von mir nicht. (…)
Slomka: Aber auch Sie haben sich in den Zitaten, die Sie abgegeben haben, gegenüber der “Bild”-Zeitung, sehr stark auf diese eine Untergruppe konzentriert, die nicht integrationswillligen Muslimen. Die werden dadurch in den Fokus gerückt. Was nicht gesagt wird, und worauf nicht die Betonung liegt, ist, dass die allermeisten Muslime zum Beispiel strikt gegen islamistischen Terrorismus sind und sich alle sehr unter Generalverdacht fühlen. Wird das nicht durch eine solche Veröffentlichung in der Form eher noch wieder verstärkt?
Man könnte das als rhetorische Frage betrachen.
PS (Nachtrag, 16:40): Auch Marietta Slomka wurde wegen ihrer Kritik von “Bild” zum “Verlierer des Tages” erklärt:
Gestern war der “Bild”-Redakteur Paul Ronzheimer zu Gast bei Maybritt Illner. Ronzheimer ist 26 Jahre alt und macht seit zwei Jahren im Blatt Stimmung gegen die Griechen. Das Online-Angebot der “Stern” nennt ihn einen “zuverlässigen Brandbeschleuniger im griechisch-deutschen Missverhältnis”.
Im April 2010 verteilte der Deutsche auf dem Omonia-Platz in Athen Drachmen an die Griechen: “BILD gibt den Pleite-Griechen die Drachmen zurück.” In der Talkrunde wurde er als Kenner der griechischen Gefühlslage behandelt.
Zu Beginn fragte Maybrit Illner ihn:
Hat Ihre Zeitung, hat die “Bild”-Zeitung, die Stimmung, die es zwischen beiden Ländern momentan gibt, nämlich zwischen Deutschland und Griecheland, zusätzlich vergift, weil neben solchen Gigs [wie der Drachmen-Verteilaktion] tatsächlich auch ziemlich viele Überschriften zu lesen waren, die da hießen: “Pleite-Griechen”, “Bettler-Griechen”… Haben Sie im wahrsten Sinne des Wortes da ganze Arbeit geleistet?
Ronzheimers Antwort:
Nein, also, ich glaube nicht, dass die Berichterstattung einer Zeitung und auch nicht der “Bild”-Zeitung die Stimmung zwischen Ländern vergiften kann.
PS: Am Ende der Sendung stand ein Mann aus dem Publikum auf und steckte Ronzheimer ein Geldbündel zu. “Damit er mal bessere Reportagen schreibt.”
Nachtrag/Korrektur, 8. März. Es handelte sich nicht um ein Geldbündel, sondern einen Zehn-Euro-Schein.
Nach dem Amoklauf von Winnenden hatte der örtliche Schulfotograf plötzlich etwas, das alle wollten: Fotos von Täter und Opfern. Zuerst verbreiteten viele Medien die Aufnahmen ohne seine Genehmigung. Dann suchte er sich Partner und machte ein Geschäft daraus. Nun erschienen die Fotos mit seiner Einwilligung und brachten ihm Geld. Nur die Angehörigen der Opfer wurden weiterhin nicht gefragt.
Sechs Eltern von getöteten Kindern erstatteten daraufhin Anzeige gegen die Bilderhändler. Die Beschuldigten erhielten zunächst einen Strafbefehl, gegen den sie Widerspruch einlegten. Gestern hat das Amtsgericht Schorndorf das Verfahren gegen die Zahlung von 5700 Euro an den Förderverein der Albertville-Realschule eingestellt.
Die “Winnender Zeitung” berichtet ausführlich über das Verfahren und seine Vorgeschichte:
Eine besonders traurige Rolle spielt in dem Fall die Hamburger Illustrierte “Stern”. Sie hatte laut “Winnender Zeitung” mit dem Anwalt des Fotografen sogar für eine begrenzte Zeit einen Exklusivvertrag für alle Schulfotos abgeschlossen. Als verzweifelte Eltern eines der ermordeten Mädchens wissen wollten, wie ein privates Foto ihrer Tochter unter anderem in den “Stern” gelangen konnte, mauerte das Blatt und verweigerte die Auskunft. Auf Nachfrage des NDR-Magazins “Panorama”, woher die vom “Stern” gezeigten Bilder der Opfer stammen, ob die Angehörigen ihrer Veröffentlichung zugestimmt haben und wenn nein, warum man sie trotzdem zeigte, hatte der “Stern” damals lapidar geantwortet:
“Zu Redaktions-Interna erteilen wir keine Auskunft.”
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Acta oder der Schutz der Raubritter” (faz.net, Volker Grossmann und Guy Kirsch)
Zwei Ökonomen aus der Schweiz argumentieren, dass das geltende Urheberrecht dem Rechtsempfinden vieler Menschen widerspricht, weil es in Wahrheit gar nicht die Interessen der Urheber selbst schütze, sondern die der Unterhaltungsindustrie: “Urheberrechte manifestieren oftmals eine im vordigitalen Zeitalter erworbene Machtposition, mittels derer die Unterhaltungsindustrie eine Rente, das heißt ein leistungsloses Einkommen, erwirtschaftet. Wie ehedem die Raubritter: Auch diese nahmen die Bauern aus, die ihre Waren in die Stadt bringen wollten, ebenso die Städter, die auf dem Markt einkaufen wollten – und rechtfertigten dies damit, dass sie die Sicherheit der Wege gewährleisteten.”
2. “Syria Correspondent Wanted Her Reporting Read Outside Pay Walls” (mediadecoder.blogs.nytimes.com, Brian Stelter, englisch)
Kurz vor ihrem Tod in Syrien hat die amerikanische Kriegskorrespondentin Marie Colvin darüber geklagt, dass ihr Auftraggeber, die “Sunday Times”, ihren Bericht über die mörderische Situation in Homs online hinter einer Paywall versteckt und er dadurch nicht die größtmögliche Aufmerksamkeit bekommt.
3. “Talkshow-Leaks” (V.i.S.d.P.)
“Die interne ARD-Talkkoordinierungs-Webseite zeigt, wie die Redaktionen um Themen und Gäste kämpfen. V.i.S.d.P. veröffentlich exklusiv Screenshots daraus.” So gab “Hart aber fair” an, das Thema “Jetzt sage ich endlich die Wahrheit” u.a. mit Helmut Kohl und den Baronen Guttenberg und Münchhausen besetzen zu wollen.
4. “Pressefreiheit für Baku” (pressefreiheit-fuer-baku.de)
Mit Interviews, Dokumenten und einer Chronik über Verletzungen der Pressefreiheit (pdf) macht “Reporter ohne Grenzen” vor dem Eurovision Song Contest in Baku auf die “Diskrepanz zwischen der glitzernden PR-Fassade und der bitteren Wirklichkeit Aserbaidschans” aufmerksam. “Juli 2011: FAZ-Journalist Michael Ludwig und sein aserbaidschanischer Kollege Hakimeldostu Mehdijew werden bei Recherchen in der Autonomen Republik Nachitschewan behindert. Mehdijew, der als Korrespondent für das Institut für die Freiheit und Sicherheit von Journalisten arbeitet und Ludwig bei seinen Recherchen begleitete, wird am 27. September 2011 wegen ‘illegalen Gebrauchs von Elektrizität’ zu einer Geldstrafe verurteilt.”
5. “Boulevard Of Breaking News” (coffeeandtv.de, Lukas Heinser)
“Bei ‘Spiegel Online’ wollen sie auch ganz dringend Boulevard machen, aber sie können es nicht”, schreibt Lukas Heinser und dokumentiert aktuelle Anschauungsstücke wie einen nacherzählten und erklärten Witz von Russell Brand. “Die gute Nachricht: Den vierten Absatz erreichen die wenigsten Leser wach oder lebendig.”
6. “Japan Earthquake: Before and After” (theatlantic.com, englisch)
20 großformatige Fotos zeigen die Verwüstungen in Japan nach dem Tsunami und wie es heute, fast ein Jahr später, an exakt denselben Stellen aussieht.
Das Geschäft mit der toten Whitney Houston († 48) kennt keine Skrupel! Das US-Magazin “National Enquirer” hat jetzt ein Foto der Sängerin im offenen Sarg veröffentlicht.
In Frieden ruhen… Das kann Whitney Houston wohl vorerst nicht!
Bild.de zitiert eine Twitter-Userin, die den Verkäufer des Fotos als “niederträchtigen, verdorbenen, skrupellosen Untermensch” bezeichnet, und den Promi-Blogger Perez Hilton, der die Veröffentlichung “geschmacklos, unsensibel und morbide” nennt.
Bild.de ist der Online-Ableger des Blattes, das am 27. Juni 2009 auf der Titelseite mit einem riesigen Foto aufgemacht hatte, auf dem Michael Jackson auf einer Trage liegend und an Beatmungsgeräte angeschlossen zu sehen war. Die Schlagzeile lautete: “Hier verliert er den Kampf um sein Leben”.
Bild.de selbst brachte wenig später ein computergeneriertes Bild eines entstellten Michael Jackson ohne Haare, unter dem stand: “so in etwa könnte Jackson bei der Obduktion ausgesehen haben”. Beide Veröffentlichungen wurden als “unangemessen sensationell” vom Presserat gerügt.
Im Vergleich dazu ist das Foto von Whitney Houston im offenen Sarg harmlos — schon weil sie natürlich eigens dafür hergerichtet worden war, angesehen zu werden (wenn auch mutmaßlich nicht von der Weltöffentlichkeit). Wie Bild.de selbst schreibt, zeigt das Foto die Sängerin “mit sorgfältigem Make-up, hochgesteckten Haaren, in einem violetten Kleid und goldenen Schuhen”.
Skrupellos das Sterben eines Prominenten ausschlachten. Und anderen vorwerfen, skrupellos den Tod eines Prominenten auszuschlachten. Das ist die ganz spezielle doppelte Skrupellosigkeit von “Bild”.
BILD fragte bei allen 50 Lokalen nach, die der Super-Koch [Christian Rach] seit September 2005 für RTL testete und auf Vordermann bringen wollte.
Die “Rach-Bilanz von BILD”:
Von den 50 Lokalen, in denen er der Tabula rasa machte, sind 27 nie wieder auf die Beine gekommen oder wechselten den Besitzer (siehe Liste).
Der Blick auf diese Liste war für Barbara Ullrich eine böse Überraschung. Dort war auch das Parkhotel in Villingen-Schwenningen als Misserfolg aufgeführt, mit dem sie 2007 in einer Folge von “Rach, der Restauranttester” zu sehen war.
Eigentlich, sagt eine Freundin von ihr, sei der Laden damals ohnehin gut gelaufen, und man hätte sich nur als “Stammtisch-Gag” bei RTL beworben. Das RTL-Team hätte das auch gewusst, man habe halt vor der Kamera so getan, als würde es Probleme geben. Der Besuch von Rach hat jedenfalls nicht geschadet. Barbara Ullrich selbst sagt, er habe dem Team seine “Scheuklappen” entfernt; man sei mit seinen Tipps “immer sehr gut gefahren”.
Im Februar 2011 nutzte Ullrich die Chance, in ihre Heimatgemeinde Mönchweiler zurückzugehen und dort den Gasthof Hirschen zu übernehmen. Deshalb wird das Parkhotel heute von anderen Leuten betrieben.
Das muss den eifrigen Rechercheuren von “Bild” entgangen sein, und mit Frau Ullrich haben sie nach deren Auskunft gar nicht gesprochen. Jedenfalls liest es sich nun so, als wären die alten Betreiber des Parkhotels in Villingen gescheitert. Seit heute morgen wird Ullrich mit Anrufen überschüttet: Viele Gäste meinten, sie hätte ihnen eine Pleite verheimlicht. Und die Vermieterin des neuen Hotels machte sich plötzlich Sorgen über die Zuverlässigkeit ihrer Pächter.
Bild.de hat die Hotel-Liste heute Mittag unauffällig und ohne jeden Hinweis geändert. Nun steht dort zum Parkhotel immerhin:
Neuer Besitzer. Die Betreiber eröffneten in Mönchweiler ein neues Hotel (“Zum Hirschen”).
Bekannt ist der Lehrsatz, dass ein Affe, der unendlich lange zufällig auf einer Schreibmaschine herumtippt, irgendwann die Werke Shakespeares geschrieben haben wird. Nicht bekannt ist, wie viele Artikel von Bild.de dadurch entstehen, dass Springer das gerade experimentell zu beweisen versucht.
Es geht um Mark Zuckerberg. Der Vorstandsvorsitzende von Facebook hatte im Mai der Zeitschrift “Fortune” gesagt, dass er in diesem Jahr nur Fleisch von Tieren essen wolle, die er selbst getötet hat. Im September berichtete “Fortune” dann, dass Zuckerberg eine Jagdlizenz erworben und einen Bison geschossen habe. Bei der Konferenz F8 habe er dann seine “Timeline” gezeigt, auf der man ein Foto von einem Gericht sehen konnte, unter dem die Worte “Bison-Burger” standen.
TIMELINE-PANNE BEI FACEBOOK
Zuckerberg outet sich als Bison-Jäger
Um es vorwegzunehmen: Der Bild.de-Artikel, den wir gleich gemeinsam durchgehen werden, verrät weder, worin die “Timeline-Panne” besteht, noch inwiefern sich Zuckerberg jetzt oder dadurch als Bison-Jäger geoutet haben soll.
“Ich esse nur das Fleisch von Tieren, die ich selber getötet habe.”
Dieser Satz von Facebook-Chef Mark Zuckerberg bekommt eine ganz neue Bedeutung. DENN: Der 26-Jährige entpuppt sich als Bison-Jäger.
(Falls Sie wissen, worin die “ganz neue Bedeutung” des Satzes besteht, schreiben Sie es uns gerne… ja warum nicht: auf unsere Facebook-Seite.)
Aber alles der Reihe nach.
Der war gut.
(…) Bei der Präsentation des neuen Facebook-Tools Timeline …
… von der Bild.de fälschlich annimmt, sie habe “in der vergangenen Woche” stattgefunden …
… benutzte Zuckerberg sein eigenes Profil als Anschauungsobjekt. Aufmerksame Beobachter fanden dort ein Foto mit der Unterschrift “Bison Bugers”.
Burrrr… Okay das ist nun auch egal.
Zwar wollte Zuckerberg selbst dazu keine Stellung nehmen, doch nun…
… im Sinne von “vor drei Monaten” …
… meldet “Fortune”:
Ja, es stimme. Zuckerberg hat den Bison tatsächlich selbst erlegt.
Er habe dafür extra einen Jagdschein erworben.
Immerhin: Zuckerberg wird das Tier vermutlich auch selbst verspeist haben — streng nach seiner eigenen Doktrin.
Zuckerbergs “Doktrin” lautet eigentlich: Es wird selbst getötet, was auf den Tisch kommt. Nicht: Was selbst getötet wird, kommt auch auf den Tisch. Aber das viel größere Rätsel ist natürlich das Wort “Immerhin” an dieser Stelle.
Sowie natürlich die Frage, wie und warum es dieses Wort- und Logikgeknäuel überhaupt gestern auf Bild.de geschafft hat.
Vielleicht hat der VersuchsRessortleiter bloß in den Raum gerufen: Mach doch mal einer was über diese Geschichte mit Zuckerberg und dem Bison, die gerade überall steht.
Korrektur, 15:20 Uhr. Wir hatten “Forbes” mit “Fortune” verwechselt.
Der Mann ist Journalist und Fotograf. Hier sitzt er im Frühling 2011 in der Nähe der Wohnung von Jörg Kachelmann und wartet auf eine neue Gelegenheit, den Wetter-Moderator vor die Kamera zu bekommen.
Das ist ihm schon einmal auf spektakuläre Weise gelungen. Im April vergangenen Jahres hatte Völkerling von der “Bild am Sonntag” den Auftrag bekommen, den damaligen Untersuchungshäftling Kachelmann in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Mannheim zu zeigen. Er baute seine Foto- und Videoausrüstung in der Küche eines Gebäudes auf, das sich gegenüber der Justizvollzugsanstalt Mannheim befindet. Von dort aus gelang es ihm — bevor er erwischt und der Wohnung verwiesen wurde — Kachelmann beim Hofgang zu fotografieren. Die Aufnahmen wurden von “Bild”, Bild.de, RTL und dem Online-Auftritt des Schweizer “Blick” veröffentlicht.
Nun ist Völkerling ein Mensch, der durchaus anerkennt, dass es so etwas wie Persönlichkeitsrechte gibt. Er meint nicht, dass man einfach jeden fotografieren und die Bilder dann veröffentlichen darf. Das Foto von ihm im Auto, zum Beispiel, hätte Kachelmann nicht über Twitter verbreiten dürfen, meint er.
Das Bild von Kachelmann beim Hofgang hingegen sei zulässig, denn Kachelmann sei außerordentlich prominent und nehme öffentlich zu sozialen Problemen Stellung. Dass er sich als Häftling in einer Justizvollzugsanstalt befunden habe, sei ein Vorgang der Zeitgeschichte, der durch die Fotos dokumentiert werde. Die Bilder ermöglichten es dem Leser, sich über die Unterbringung Kachelmanns eine eigene Meinung zu bilden. Außerdem habe sich Kachelmann selbst hinterher öffentlich zu den Haftumständen geäußert — warum sollte man dann nicht Fotos, die diese Umstände dokumentieren, veröffentlichen dürfen?
Das Landgericht Köln widersprach Völkerlings Vorstellungen vom Persönlichkeitsrecht jetzt gleich doppelt: Er durfte Kachelmann nicht fotografieren. Kachelmann ihn schon.
Das Gericht urteilte, Kachelmann habe sich
in einem abgeschiedenen, jedenfalls der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raum [befunden] und musste nicht damit rechnen, dass Lichtbilder von ihm angefertigt werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger selbst durch seine Inhaftierung keine Möglichkeit hatte, sich weiter in einen privaten Raum zurückzuziehen. Vielmehr war er aufgrund der Umstände gezwungen, den Gefängnishof zu nutzen. (…) Dieser Bereich ist (…) als Rückzugsbereich anzusehen, der im Rahmen der Bildberichterstattung den Einblicken Dritter grundsätzlich zu entziehen ist, zumal auch der Nachrichtenwert der Lichtbilder von untergeordneter Bedeutung ist.
Das Gericht gab der Klage Kachelmanns statt, Völkerling die Verbreitung der Fotos, die ihn nach seiner Ansicht stigmatisierten und vorverurteilten, zu untersagen. Es bestätigte eine entsprechende einstweilige Verfügung (BILDblog berichtete).
Die Gegenklage, mit der Völkerling Kachelmann das Foto von sich verbieten lassen wollte, wies das Gericht hingegen zurück. Das Bild sei “von zeitgeschichtlichem Interesse”:
Der Umgang der Medien mit Prominenten, insbesondere die Art und Weise wie die Berichterstattung über Prominente und die Bebilderung derselben erfolgt, ist bereits grundsätzlich von gesellschaftlicher Relevanz und von öffentlichem Interesse, da der Umgang miteinander die gesellschaftlichen Grundlagen berührt. Dieses öffentliche Interesse ist im vorliegenden Fall zudem noch dadurch gesteigert, dass die Berichterstattung über den Kläger, das gegen diesen geführte Strafverfahren aber auch der Umgang der Medien hiermit, ein wesentliches Thema der Jahre 2010 und 2011 war und großen öffentlichen Widerhall gefunden hat. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse daran zu erfahren, wie diese Berichterstattung zustande kommt. Der Beklagte, wenn auch selbst nicht bekannt, war in seiner Eigenschaft als Journalist und Fotograf – wie auch die Klage zeigt – an dieser vielfach persönlichkeitsrechtsverletzenden (Bild-) Berichterstattung über den Kläger beteiligt. Dies und seine Arbeitsweise wird durch die streitgegenständliche zeitnah veröffentlichte Fotografie dokumentiert, die geeignet ist, einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung über die Umstände von Medienberichterstattung zu erbringen.
Völkerling, der keine Unterlassungserklärung unterschreiben wollte und gegen die einstweilige Verfügung Berufung eingelegt hatte, muss die Kosten des Verfahrens tragen.