Wenn irgendwo in Deutschland jemand ums Leben kommt, und “Bild” will darüber berichten, hat aber kein Foto der Person parat, dann zieht die Redaktion los, sucht nach Facebook-Profilen mit dem entsprechenden Namen und schnappt sich das zu schnappende Fotomaterial.
Wenn irgendwo in Deutschland jemand zur reichsten Person des Landes erklärt wird, und “Bild” will darüber berichten, hat aber kein Foto der Person parat, dann zieht die Redaktion los, sucht nach Facebook-Profilen mit dem entsprechenden Namen und schnappt sich das zu schnappende Fotomaterial.
Es geht um Lidl-Gründer Dieter Schwarz, der dem gestern erschienenen “Manager-Magazin”-Ranking zufolge der reichste Deutsche sein soll. Schwarz sei das “Phantom der Hochfinanzen”, “der geheimnisvollste Milliardär Deutschlands”, wie “Bild” vor zwei Jahren schrieb: “Keine Fotos, keine Interviews – aber 43 Milliarden Euro Vermögen”. Umso erstaunlicher ist, wo die “Bild”-Redaktion das Foto von Dieter Schwarz her hat. Als Quelle gibt sie an:
Dieter Schwarz/Facebook
Ein Mensch, der phantomartig zurückgezogen lebt, von dem es nur ganz wenige Aufnahmen gibt, der aber gleichzeitig ein Foto von sich bei Facebook postet?
Tatsächlich gibt es eine Facebook-Seite mit dem Namen “Dieter Schwarz”, auf dem das von Bild.de verwendete Foto zu sehen ist. Steckbrief: “Businessman”, 203 “Gefällt-mir”-Angaben, der letzte Post vor gut einem Jahr. Wer die Seite ins Leben gerufen hat, ist nicht klar. Jedenfalls zeigt die Aufnahme nicht Dieter Schwarz, sondern Unternehmer Michael Otto.
Die “Bild”-Redaktion hat das Foto inzwischen ausgetauscht. Nun ist im Artikel die “vom Thron gestoßene” BMW-Erbin Susanne Klatten zu sehen.
Wie gesagt: Auch bei Menschen, die ums Leben gekommen sind, gehen die “Bild”-Medien regelmäßig auf Facebook-Beutezug (was schon verachtenswert genug ist). Und auch bei ihnen liegen sie viel zuoftdaneben.
Einst war die Rap-Crew K.I.Z für die “Bild”-Redaktion eine “Berliner Hip-Hop-Band” mit “Kultstatus”, ihre Live-Auftritte galten als “absolute Weltspitze”, und die Gruppe sei “schon länger dafür bekannt, sich zu Gesellschaftsthemen zu äußern.” Aber nun, wo sich Tarek, Maxim und Nico in einem neuen Song dem Oktoberfest gewidmet haben, ist alles anders:
K.I.Z und das Frankfurter Rap-Duo Mehnersmoos haben kürzlich einen Song mit dem Titel “Oktoberfest” veröffentlicht. Das dazugehörige Video, eine Collage mit allerlei Saufeireien, Pinkeleien, Torkeleien, Kotzereien, Prügeleien, Koksereien und Fummeleien vom Oktoberfest, wurde erst bei Youtube hochgeladen, dann von Youtube gesperrt, genauso wie der gesamte K.I.Z-Kanal, der inzwischen wieder erreichbar ist, allerdings ohne das “Oktoberfest”-Video. Und nun ist die “Bild”-Redaktion wütend, aber nicht, weil sie wie sonst immer, wenn etwas Künstlerisches gelöscht wurde, irgendwas mit “Cancel Culture” vermutet, sondern weil “unsere Wiesn” von den “Berliner Deppen-Rappern” besudelt werden:
Das Video, das die Berliner Rapper Tarek, Maxim und Nico (“K.I.Z”) zu ihrem neuen Song “Oktoberfest” auf YouTube hochgeladen hatten, zeigt unsere Wiesn als Suff-Koks-Kotz-Vergewaltigungs-Arie.
Die Widerlich-Botschaft von K.I.Z: Oktoberfest heißt knutschen mit Uli Hoeneß, koksen mit Markus Söder, vollgepisste Lederhosen, tausende bayerische Frauenschläger, überall Schnapsleichen. Ein mit 3 Promille tot gefahrenes Kind.
Die “Bild”-Autorin zitiert einen empörten “Wiesn-Wirte-Sprecher” (und auch nur den, sonst niemanden) und gibt sich große Mühe, das Bild vom Oktoberfest geradezurücken:
“Billige Effekthascherei”, schimpft Wiesn-Wirte-Sprecher Peter Inselkammer. “Die Bilder und Worte entsprechen nicht der Realität. Es ist leider ein Trend, dass Menschen die Wiesn benutzen, um selbst Aufmerksamkeit zu bekommen.”
Aber dass die Tatsachen falsch dargestellt werden, das ist eine neue, unschöne Variante der Oktoberfest-Sonnen-Mitnutzer. Die Wiesn 2022 war eine friedliche, fröhliche, ausgelassene. Es gab keine Schnapsleichen unter Tischen in Zelten. Es flogen keine Bierkrüge durch die Menge. Keine Koks-Linien auf den Biertischen.
Für die “Bild”-Redaktion steht fest:
Von Skandal keine Spur: die Wiesn 2022 waren fröhlich, friedlich und herzlich
So lautet eine Bildunterschrift. Und eine andere:
Wiesnchef Clemens Baumgärtner ist zu Recht stolz auf unser Oktoberfest, wie es wirklich ist
Wie das gerade zu Ende gegangene Oktoberfest “wirklich” war, kann man unter anderem herausfinden, indem man in die “Wiesn-Abschlussbilanz der Münchner Polizei” (PDF) schaut: Die Gesamtzahl der Straftaten sei im Vergleich zum Oktoberfest 2019 “etwa gleichbleibend”. Bei den Gewaltdelikten habe es einen Rückgang gegeben, bei den angezeigten Sexualdelikten einen leichten Anstieg. Im direkten Umfeld des Oktoberfests kam es zu einem versuchten Totschlag.
Wenn “Bild” schreibt, es seien keine Bierkrüge durch die Menge geflogen, ist das entweder völlig unwissend oder gelogen, jedenfalls schlicht falsch. 35 Fälle zählte die Polizei, in denen es zu Körperverletzungen mit dem Tatwerkzeug Maßkrug kam, drei mehr als 2019. Ein Beispiel aus einem Polizeibericht:
Zeitgleich kam ein dritter Täter hinzu, der mit voller Wucht dem immer noch am Boden liegenden 23-jährigen Geschädigten einen Maßkrug auf den Kopf schlug.
Am Samstag, 24.09.2022, gegen 22:00 Uhr, gerieten ein 25-Jähriger mit Wohnsitz in München und ein 22-Jähriger aus dem Landkreis Schwandorf in Streit. Im weiteren Verlauf des Streites warf der 25-Jährige dem 22-Jährigen einen Maßkrug ins Gesicht.
Am Mittwoch, 28.09.2022, gegen 19:00 Uhr, kam es in einem Festzelt zwischen einem 38-jährigen Franzosen und seinen Begleitern zunächst zu einem verbalen Streit mit einem 25-jährigen Australier. Im Laufe der Auseinandersetzung griff der Franzose nacheinander mehrere auf dem Biertisch stehende Maßkrüge und warf diese in Richtung des 25-Jährigen. Durch die Würfe wurde der 25-Jährige am Kopf getroffen und ging daraufhin mit einer Platzwunde zu Boden. Ein weiterer Maßkrug traf einen bislang unbekannten Geschädigten, der sich jedoch anschließend unerkannt entfernte.
Wenn es im Song von K.I.Z und Mehnersmoos also heißt “Heute schieß’ ich mir die Birne weg, Bierkrüge fliegen durchs Wiesn-Zelt” oder “Ich haue einem Bauern die Augen lila, mit einem Bierkrug von Augustiner” oder “Ich steh’ mit Motorradhelm, mitten im Bierkrughagel, werd’ dir das Riesenmaß, über die Rübe schlagen” ist das nicht völlig entkoppelt von der Realität.
Genauso die Textzeile “Bin hacke und mache den Hitlergruß”. Die Polizei berichtet vonmehrerenFällen, in denen Personen den Hitlergruß gezeigt oder Äußerungen mit Bezug zur NS-Zeit getätigt haben sollen.
Und auch zur Songpassage “Heut begeh’ ich einen sexuellen Übergriff, Spießer sagen: ‘Vergewaltigung’, wir nennen es einfach nur ‘Tradition'” findet man Zahlen in der “Wiesn-Abschlussbilanz der Münchner Polizei”: Es gab in diesem Jahr Anzeigen zu drei Vergewaltigungen und einer versuchten Vergewaltigung auf dem Oktoberfestgelände. Insgesamt hat die Polizei 55 Sexualdelikte gezählt (2019: 47).
Dass es, wie “Bild” schreibt, “keine Koks-Linien auf den Biertischen” gegeben hat, ist eher unwahrscheinlich. Die Polizei schreibt in ihrer Abschlussbilanz:
Im Bereich der Aufgriffe von Betäubungsmittel wurde ein Rückgang festgestellt. Die Polizei leitete hier 184 (-22,7%; 2019: 238) Ermittlungsverfahren ein (Festnahmen: 2022: 174; 2019: 242). Hauptsächlich handelte es sich dabei um den unerlaubten Besitz von geringen Mengen von illegalen Betäubungsmitteln. Vorwiegend konnte Cannabis und Kokain festgestellt werden. Der Rückgang der Aufgriffe im Vergleich zu 2019 lässt sich vermutlich ebenfalls auf die schlechte Witterung zurückführen.
Angesichts der völligen Leugnung aller negativen Aspekte am Oktoberfest durch “Bild”, wo es noch nicht mal “Schnapsleichen unter Tischen in Zelten” geben darf, scheint ein Song mit dem gegrölten Refrain “O, o, o’zapft is, wenn du mich suchst, ich liege unterm Tisch, O, o, o’zapft is, die Lederhosen san vollgepisst” einer Band, die sich wahlweise als “Kannibalen in zivil” oder “Klosterschüler im Zölibat” bezeichnet, der Realität deutlich näher zu kommen als der Artikel einer Redaktion, die vorgibt, journalistisch zu arbeiten.
Auf der heutigen “Bild”-Titelseite findet man übrigens diese Geschichte:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Wo das passiert sein soll? Auf dem “fröhlichen, friedlichen und herzlichen” Oktoberfest.
Absolute Binsenweisheiten seien das, “allseits bekannte Spartipps”, manchmal müsse man “sich wirklich fragen: In welcher Welt leben unsere Politiker eigentlich?”, schreibt Ralf Schuler heute. Er und seine “Bild”-Redaktion haben noch eine weitere Frage:
Grund für den Furor sind zweiVideos der baden-württembergischen Landesregierung zum Energiesparen. Ralf Schuler schreibt dazu:
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (74, Grüne) fordert die Bürger in einer neuen Kampagne zum Energiesparen auf.
Darin gibt er ernsthaft die Tipps, z.B. tropfende Wasserhähne zu reparieren, nachts die Heizung herunterzudrehen, undichte Fenster abzudichten. Außerdem solle man die Spülmaschine nur mit viel Geschirr laufen lassen. (…)
Auch Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (62, CDU) gibt Spartipps, rät u.a.: bei Elektrogeräten dem Standby-Modus “den Stecker ziehen”.
Kretschmann und Strobl seien “nicht die ersten Top-Politiker, die mit allseits bekannten Spartipps belehren”:
So rief Wirtschaftsminister Robert Habeck (53, Grüne) zu kürzeren Duschzeiten auf.
Die “Bild”-Redaktion ärgert sich also über Politiker, die so bescheuert sind, völlig offensichtliche Ratschläge zu geben, die jeder schon kennt und niemand mehr hören muss. “Wie lebensfremd muss man sein, um ernsthaft zu glauben, man müsse den Menschen wirklich erklären, dass man die Heizung herunterdreht, wenn man sie nicht braucht?”, schreibt Schuler heute noch zusätzlich in einem Kommentar.
Die Antwort lautet offenbar: so lebensfremd wie die “Bild”-Redaktion.
Während Winfried Kretschmann rät, tropfende Wasserhähne zu reparieren, rät “Bild” in einem Artikel mit Tipps zum Sparen:
Reparieren Sie einen tropfenden Wasserhahn
Während Kretschmann rät, nachts die Heizung herunterzudrehen, rät “Bild” im selben Artikel:
Elektronische Thermostate einbauen, die zeitbasiertes Heizen erlauben (Kosten ab 60 Euro, Ersparnis bis 60 Euro)
Während Kretschmann rät, undichte Fenster abzudichten, rät “Bild” ebenda:
Fenster und Türen abdichten (Kosten ab 13 Euro, Ersparnis bis 35 Euro)
Während Kretschmann rät, die Spülmaschine nur mit viel Geschirr laufen zu lassen, rät “Bild” in einem weiteren Spartipp-Beitrag:
Spülmaschine nur voll anmachen und mit Öko-Taste nutzen. Das spart 110 Euro/Jahr.
Während Thomas Strobl rät, bei Elektrogeräten dem Standby-Modus “den Stecker zu ziehen”, rät “Bild”:
Geräte abschalten. Der Fernseher frisst im Standby-Modus 36 Euro pro Jahr, die Stereoanlage: 28 Euro, PC mit Monitor und Drucker: 25 Euro.
Und während Robert Habeck rät, kürzer zu duschen, rät “Bild”:
Kürzer duschen! Täglich acht Minuten duschen (bei 42 Grad) kostet 513 Euro/Jahr. Mit Sparduschkopf (kostet 20 Euro) und fünf Minuten (bei 38 Grad) sind es nur noch 146 Euro/Jahr. Ersparnis: 367 Euro/Jahr.
Mit einem Punkt hat Ralf Schuler übrigens recht: Für Menschen, “die täglich auf jeden Cent schauen müssen”, um irgendwie über die Runden zu kommen, und das häufig nicht erst, seit sich die Strom- und Gaspreise dramatisch erhöht haben, sind derartige Sparmaßnahmen gewiss nichts Neues und die Tipps wahrscheinlich blanker Hohn – ob sie nun von Winfried Kretschmann oder von der “Bild”-Redaktion kommen.
Joachim Nikolaus Steinhöfel, geboren 1962 in Hamburg, ist einer der profiliertesten deutschen Juristen.
So, so.
Schon 2004 stelle das Handelsblatt fest: “Fast 200 Fälle hat er zum BGH hoch prozessiert, rund 70 Prozent davon gewonnen.”
Sieh an.
Er erwirkte die erste, jemals erlassene einstweilige Verfügung wegen Löschungen auf Facebook und hat sich wie kaum ein anderer Jurist um die Meinungsfreiheit verdient gemacht.
Aha.
Steinhöfel moderierte Sendungen für RTL und RTL 2, trat als Werbe-Testimonial für Europas größten Anbieter von Unterhaltungselektronik und als Sachverständiger im Bundestag auf.
Sag bloß.
1999 gewann er den Werbepreis “Effie” in Silber.
Oho.
Für BILD schreibt er im Abstand von zwei Wochen über die Abgründe von Gegenwart und Gesellschaft.
Okay.
Das da oben ist der Autorentext, der unter der “Bild”-Kolumne “RECHT KLAR!” von Joachim Steinhöfel zu finden ist. Auch unter der aktuellen Ausgabe:
Steinhöfel schreibt darin über Firmen, die aus freien Stücken die Ausspielung ihrer eigenen Online-Werbeanzeigen auf Websites gestoppt haben, nachdem Twitter-User diese Firmen auf die Inhalte der Websites aufmerksam gemacht hatten.
Oder wie Joachim Steinhöfel es ausdrückt: Es geht um Unternehmen, die sonst keine “Berührungsängste” beim “Geld von Kinderschändern, Vergewaltigern oder Antisemiten” hätten (“Man kann bei Millionen von Kunden schließlich nicht jeden überprüfen.”) und die nun vor “anonymen Verleumdern”, vor “anonymen Denunzianten mit rechtlich fragwürdigen Boykottaufrufen” einknicken würden.
Steinhöfel zitiert auch vier konkrete Fälle, wie diese Unternehmen bei Twitter reagiert haben:
“Wird sofort geprüft. Sind dran!”, Kaufland.
Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.
“…vielen Dank für den Hinweis. Wir haben die [Werbung] sofort gestoppt,” Aktion Mensch.
Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.
“…für alle Werbeaktivitäten geblacklisted”, Eurowings.
Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.
“Wir werden den Fall prüfen und unsere Blacklist überarbeiten”, Audi.
Es geht dabei um eine Werbeanzeige auf der Website “Achse des Guten”.
Dass es ausschließlich um die “Achse des Guten” geht, erwähnt Joachim Steinhöfel in seinem Text merkwürdigerweise nicht. Und es ist leider auch nirgends zu lesen, dass Steinhöfel selbst Autor der “Achse des Guten” ist und sie als Anwalt rechtlich vertritt. Auch im oben zitierten, recht ausführlichen Autorentext war für einen Transparenzhinweis kein Platz.
Das geplante Bürgergeld, das am morgigen Mittwoch vom Kabinett beschlossen und kommendes Jahr das bisherige Arbeitslosengeld II (auch Hartz IV genannt) ablösen soll, sei eine Demotivation für Geringverdiener, findet der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Unter anderem die Erhöhung von 53 Euro pro Monat beim Bürgergeld im Vergleich zum Hartz-IV-Satz mache es für Personen mit niedrigem Einkommen unattraktiver, weiterhin arbeiten zu gehen.
“Bild”-Reporter Albert Link hat dafür auch eine passende Rechnung parat:
Rechenbeispiel: Beziehen in einer Familie (zwei Kinder zwischen 6 und 13) beide Partner Bürgergeld, dann summieren sich die Leistungen auf 902 Euro (zwei Erwachsene) plus 696 Euro für die Kinder – also 1598 Euro. Einem verheirateten Maler (gesetzlich versichert, kein Kirchen-Mitglied) mit zwei Kindern bleiben z. B. in Berlin von 2500 Euro Monatslohn im besten Fall 1967,12 Euro netto (Alleinverdiener, Berechnung: gehalt.de).
Doch weil er davon – anders als Bürgergeld-Bezieher – Miete und Heizkosten tragen muss, lohnt sich das Aufstehen für ihn NICHT mehr.
Bei der “Bild”-Rechnung fehlt allerdings was. Die Familie des Malers bekommt für jedes der zwei Kinder Kindergeld. Das sind aktuell 219 Euro pro Kind, zusammen also 438 Euro pro Monat. Diese Summe fehlt in Links Rechnung gänzlich. Die Familie mit dem Bürgergeld bekommt die 438 Euro theoretisch zwar auch, sie werden allerdings praktisch komplett als Einkommen bei den Leistungen für die Kinder angerechnet. Oder anders gesagt: Bei der Familie mit Bürgergeld gibt es das Kindergeld nicht obendrauf.
Allerdings fehlen in der “Bild”-Rechnung auch auf der Seite der Bürgergeld-Empfänger verschiedene Posten. So werden zumindest aktuell bei Hartz-IV-Berechtigten unter anderem die Kosten für die Kranken- und Pflegeversicherung übernommen (beim Maler sind die in der “Bild”-Rechnung mit drin), und es fällt der Rundfunkbeitrag weg. Dass bei Leistungsempfängern die Heizkosten immer in Gänze übernommen weden, ist wiederum nicht so eindeutig, wie “Bild” es wirken lässt. Es müsse sich dafür um einen “angemessenen” Verbauch handeln, so die Vorschrift.
Der Vergleich zwischen Bürgergeld-Beziehern und Familien mit geringem Einkommen ist also deutlich komplexer als von “Bild” dargestellt. Und sowieso pickt sich Albert Link einen speziellen Fall heraus: zwei Erwachsene, zwei Kinder, beim Bürgergeld beide Erwachsene als Bezieher, der Beispiel-Maler ist Alleinverdiener. Die zumindest theoretisch vorhandene Möglichkeit, dass auch die Ehefrau oder der Ehemann etwas dazuverdienen kann, kommt in der “Bild”-Rechnung nicht vor. Und auch gerade die zwei Kinder machen in dem Beispiel einen großen Unterschied. Für sie gibt es beim Bürgergeld zusätzliches Geld, bei Arbeitnehmern (neben dem Kindergeld, das “Bild” ja aber weglässt) hingegen nicht. Die Auswirkung wird deutlich, wenn man die Kinder sukzessive aus der Rechnung nimmt: Hätten die zwei Vergleichsfamilien jeweiles nur ein Kind, dann wäre der Unterschied nicht 1.598 Euro (Bürgergeld) zu 1.967 Euro (Maler), sondern 1.250 Euro zu 1.967 Euro. Wären die Erwachsenen kinderlos, läge der Unterschied bei 902 Euro zu 1.958 Euro (Veränderung durch den etwas höheren Beitrag für die Pflegeversicherung). Und würde es sich beim Bürgergeld-Bezieher und beim Maler um Singles handeln, betrüge der Unerschied 502 Euro zu 1.737 Euro (Veränderung durch die geänderte Lohnsteuerklasse).
Die “Bild”-Redaktion präsentiert ihrer Leserschaft aber nur das Beispiel der vierköpfigen Familie, erklärt das alles zum “HARTZ-IRRSINN” und stellt das geplante Bürgergeld zumindest implizit als zu hoch dar. Sie spielt einmal mehr arm gegen ganz arm aus. Dass es aber auch andersrum sein könnte, dass also nicht das Bürgergeld zu hoch ist, sondern viele Löhne viel zu niedrig sind, darauf wollen sie bei “Bild” offenbar nicht kommen.
Es sei der “AKWahnsinn”, schreibt “Bild” zu den Plänen von Robert Habeck. Der Wirtschaftsminister “druckst und trickst sich um die AKWende”, es sei “Habecks mieser Atom-Poker”, “Habecks MIESES SPIEL mit unserem Strom”, und “BILD ENTLARVT”: “Habecks größte AKWidersprüche”.
Wir haben das leichte Gefühl, in der “Bild”-Redaktion finden sie Robert Habecks Entscheidung, die drei in Deutschland noch laufenden Atomkraftwerke nicht weiter Strom produzieren zu lassen, sondern lediglich zwei davon als Notreserve zu behalten, nicht so gut. Um der eigenen Leserschaft zu zeigen, dass “unsere Nachbarn” sowie “das Ausland” das ganz genauso sehen, haben “Bild” und Bild.de mal bei EU-Politikern nachgefragt, was die von Habecks Plan halten:
“Entsetzt” zu Wort kommen:
ein polnischer EU-Abgeordneter der nationalistischen und konservativen PiS,
ein tschechischer EU-Abgeordneter der konservativen ODS,
eine niederländische EU-Abgeordnete der christdemokratischen CDA,
ein deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CSU,
ein weiterer deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CSU,
ein deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CDU
und noch ein deutscher EU-Abgeordneter der konservativen CDU.
Liz Truss, bisher Außenministerin Großbritanniens, wird neue Parteichefin der Tories und damit auch britische Premierministerin. Sie setzte sich bei einer parteiinternen Abstimmung gegen ihren Konkurrenten, den früheren Finanzminister Rishi Sunak, durch. Damit folgt Truss auf Boris Johnson, der Anfang Juli seinen Rücktritt als Tory-Chef bekannt gab und gleichzeitig ankündigte, auch als Premier zurücktreten zu wollen, sobald es eine neue Parteispitze gibt. Zuvor hatten Dutzende Regierungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ihr Amt aufgegeben, auch und vor allem aus Protest gegen Johnson.
Der “Bild”-Autor hat wirklich Überraschendes herausgefunden:
Truss war eine der Tory-Rebellen, die Boris Johnson (58) im Juli gestürzt haben.
Damit weiß Alexander von Schönburg mehr über Liz Truss’ Rolle beim Sturz Boris Johnsons als Liz Truss selbst. Die sprach eine Woche nach Johnsons Rücktrittsrede von ihrer großen Loyalität gegenüber ihrem Premier:
Speaking on her relationship with Boris Johnson, Ms Truss said she was “loyal person” and remains “loyal” to him despite a series of scandals triggering mass resignation of senior ministers and parliamentary private secretaries.
“I am a loyal person. I am loyal to Boris Johnson. I supported our Prime Minister’s aspirations and I want to deliver the promise of the 2019 manifesto.”
Diese Loyalität habe sie davon abgehalten, ihr Amt als Außenministerin niederzulegen. Dass Liz Truss dieses Amt bis zuletzt unter Noch-Premier Johnson weiterführen konnte, ist vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass sie nicht zu diesen “Tory-Rebellen” gehörte. Genauso ihr Vorschlag, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufzulösen, der sich mit möglichen Lügen Johnsons gegenünber Abgeordneten beschäftigt. Und auch sonst schreiben alle nur vonLizTruss’TreuegegenüberBorisJohnson. Alle, außer Alexander von Schönburg und “Bild”.
Die “Bild”-Redaktion glaubt, mal wieder was entdeckt zu haben:
Gemeint ist das Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. “Bild” schreibt dazu:
ARD, ZDF und Deutschlandradio verwenden weniger als die Häflte ihres Budgets fürs Programm. Das geht aus dem jüngsten KEF-Bericht (“Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten”) vom Februar 2022 hervor. Demnach beläuft sich der Gesamtaufwand über den Vierjahreszeitraum 2021 bis 2024 auf 38,3 Milliarden Euro. Davon gehen 16,65 Milliarden Euro (43,5 %) ins Programm.
Die Zahlen, die die Redaktion am Ende nennt, sind richtig – sie stehen so im erwähnten KEF-Bericht. Alles andere ist falsch.
Zweifel an der Behauptung, dass die Öffentlich-Rechlichten “weniger als die Hälfte ihres Budgets fürs Programm” verwenden, hätte “Bild” spätestens beim Erstellen dieser Grafik kommen müssen, die heute neben dem Artikel in der Zeitung zu finden ist:
“Bild” meint zu wissen, dass lediglich Gelder aus dem Bereich “Programmaufwand” für das Programm von ARD, ZDF und Deutschlandradio verwendet werden, eben 43,5 Prozent des Gesamtbudgets. Aber was ist zum Beispiel mit dem Bereich “Personal ohne Altersversorgung”? Sind das die Pförtnerinnen, die Hausmeister, das Kantinenpersonal – also all jene, die mit dem Programm nichts zu tun haben?
Im 23. Bericht der KEF, auf den sich die “Bild”-Redaktion bei ihrem Vorwurf bezieht, steht extra zu Beginn des Abschnitts “Programmaufwand” (PDF, Seite 92):
Die Kommission erfasst als Programmaufwand insbesondere Kosten für Produktionen, die außerhalb der Anstalten entstehen. Die Erläuterungen dazu sowie das methodische Vorgehen der Kommission sind im 22. Bericht ausführlich beschrieben (vgl. dort Tzn. 72 f.).
Also mal schnell in den 22. Bericht der KEF geschaut (PDF, Seite 80):
Die Kommission erfasst als Programmaufwand insbesondere Kosten für Produktionen, die außerhalb der Anstalten entstehen. Dazu gehören:
Ankauf fertiger Produktionen von Dritten,
Erstellung von Koproduktionen und Auftragsproduktionen,
Erwerb von Sende- und Übertragungsrechten, namentlich Sportrechten,
Leistungsvergütungen für freie Mitarbeiter,
Vergütungen für Urheberrechts- und Leistungsschutzberechtigte.
Kosten von Eigenproduktionen sind nur zum Teil im Programmaufwand enthalten. Sie werden daneben auch aus dem Personalaufwand und dem Sachaufwand finanziert.
Das heißt: Die vielen festangestellten Redakteurinnen und Redakteure zum Beispiel, die jeden Tag dazu beitragen, dass es im Fernsehen, im Radio und online Programm geben kann, oder die Korrespondetinnen und Korrespondenten, die selbst Beiträge erstellen, oder die Nachrichtensendungen, Politmagazine und Dokumentationen, die in den Häusern entstehen und nicht von außen eingekauft werden, oder selbstproduzierte fiktionale Serien – die dafür anfallenden Kosten fehlen in der “Bild”-Rechnung.
Es gibt zweifelsohne eine Menge zu kritisieren am öffentlich-rechtlichen System. Man kann den Anstalten gern alles mögliche vorwerfen: die träge Behördenhaftigkeit, die Programmgestaltung oder eben einen falschen Einsatz des vielen Geldes. Aber dann wäre es doch keine schlechte Idee, vorher wenigstens einmal ordentlich in den dafür maßgeblichen Bericht zu schauen.
“Wir betreiben hier keinen Elends-Tourismus, Drogenkranke werden nicht vorgeführt.”
Das sagen die zwei Männer, die in Frankfurt am Main für Interessierte eine Führung durch das Bahnhofsviertel anbieten, durch jene Gegend also, die auch und vor allem für ihre offene Drogenszene bekannt ist. Der Titel der Tour: “Crack, Koks, Heroin im Bahnhofsviertel – Warum Frankfurt auch ‘Crack-City’ heißt”.
Das Zitat der beiden stammt aus einem großen Artikel, der am vergangenen Freitag in der Frankfurt-Ausgabe der “Bild”-Zeitung und bei Bild.de erschienen ist. Der Ansatz, vorhandene Probleme sichtbar zu machen und die üble Situation der Drogenkranken zu thematisieren, dabei aber keinen Elends-Tourismus fördern und niemanden vorführen zu wollen, ist sehr lobenswert. Ob die “Bild”-Redaktion den gleichen Ansatz verfolgt, da haben wir allerdings Zweifel.
Bereits in der Überschrift klingt es stark nach Elends-Tourismus:
Im Artikel gibt es mehrere Fotos, auf denen Süchtige entweder gerade Drogen konsumieren oder anscheinend kürzlich konsumiert haben und nun benommen auf der Straße sitzen. Was gut ist: Die “Bild”-Redaktion hat alle Gesichter verpixelt oder so fotografiert, dass sie verdeckt sind (wobei wir vermuten, dass das nähere Umfeld der Personen sie durch andere, nicht verpixelte Merkmale trotzdem identifizieren können dürfte). Was hingegen schlecht ist und doch stark nach Vorführen von Drogenkranken aussieht: die dazugehörigen Bildunterschriften. Zu einem Foto eines Mannes, der in einem Hauseingang liegt, schreibt Bild.de beispielsweise:
Das Frankfurter Bahnhofsviertel: Elends-Gestalten, wo man hinblickt
Und noch etwas hämischer zu einem Foto eines Mannes, der offenbar zugedröhnt auf einer Treppe liegt:
Crack-Süchtiger am Ziel seiner Träume…
Einer der zwei Tour-Guides sagt gegenüber “Bild” noch: “Wir wollen eine Lanze für diese Leute brechen.” Auch das ist sehr lobenswert. Aber vielleicht sollte man dann beim nächsten Mal nicht “Bild” mit auf Tour nehmen.
Schlepper, die “auf LKW immer neue Ausländer nach Lichtenhagen” “karrten”
“die Politik”
die “überforderte Polizei”
Und irgendwie klingt es auch so, als hätten “die mittellosen Asylanten”, die damals in Rostock kampierten, eine Mitschuld am “Frust der Anwohner”:
Die mittellosen Asylanten schliefen unter Decken und Planen auf Wiesen und in Vorgärten. Ihre Notdurft verrichteten sie – aufgrund fehlender Toiletten – im Freien. Der Frust der Anwohner verstärkte sich. Mit ihren Problemen wurden sie alleingelassen.
Was in dem Bild.de-Artikel jedenfalls an keiner Stelle erwähnt wird: die Rolle der Medien damals, speziell die von “Bild”. Daher hier ein kleiner Ausschnitt aus der “Bild”-Berichterstattung im Jahr 1992:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
Die “Bild”-Redaktion schrieb damals auf der Titelseite:
Wir haben uns lange gefragt, ob wir Ihnen diese Geschichte schildern. Es geht um beispiellosen Mißbrauch des Asylrechts. Aber dieser Fall – er wurde uns von einer deutschen Behörde offziell mitgeteilt – ist kein Einzelfall, sondern ein Dokument. Es beweist, daß der Streit der Politiker um die Asylproblematik jetzt ganz schnell aufhören muß – es muß gehandelt werden. Der Mann, der im Mittelpunkt dieser Geschichte steht, heißt Henry […]. Er ist 41, stammt aus Ghana. Sein Foto zeigen wir aus naheliegenden Gründen nicht – zu aufgeheizt ist die Asyldiskussion. […] Zweimal wurde er ausgewiesen – er kam wieder. Auch jetzt lebt [Henry] wahrscheinlich wieder illegal unter uns. Der Schreckens-Asylant.
Keine drei Wochen, nachdem in Rostock-Lichtenhagen das Wohnheim der Vietnamesen mit Molotowcocktails in Brand gesteckt wurde, am 8. September, brachte die “Bild”-Redaktion diese Titelstory:
Was wirklich geschah: Familie Stegmann, Vater, Mutter und drei erwachsene Kinder, lebten in Lemförde bei Bremen in einer Sieben-Zimmer-Wohnung für 515 Mark kalt. Wegen Eigenbedarf mußten sie ausziehen. Die Gemeinde wies ihnen vorübergehend Räume in einem Obdachlosenhaus in der Pommernstraße zu. Obdachlose haben keine Mietverträge und müssen zweimal monatlich Wohnungssuche nachweisen. Stegmanns leben von drei Einkommen und einer Arbeitslosenunterstüzung. “Wir konnten uns bisher zu keiner neuen Wohnung entschließen”, so Frau Stegmann zur taz, “da uns 1.000 bis 1.200 Mark Miete zuviel sind.”
Gemeindedirektor Petering hat die Unterbringung der beiden polnischen Asylsuchenden in einem Zimmer der Pommernstraße verfügt. Im Zuge der Unterbringung von Obdachlosen und Flüchtlingen ein völlig üblicher Vorgang. […] Stegmanns bewohnen drei Räume. Allen Bewohnern steht mehr Platz zur Verfügung, als die vom Gesetz knapp bemessene Quadratmeterzahl. Bild weiß das! Zieht es aber vor, unberechtigte Ängste zu schüren und damit die alltägliche Hetze gegen Ausländer fortzusetzen. Dieses Blatt könnte der Fidibus am nächsten Molotowcocktail gegen ein Asylbewerberheim sein.