In Kurzform geht das Szenario so: Keine Visafreiheit für die Türken. Die Türkei stellt “ihre Maßnahmen zur Eindämmung der Migration” ein und löst Flüchtlingslager im Süden des Landes auf. Bus-Konvois machen sich auf zum Drei-Länder-Eck Bulgarien-Griechenland-Türkei. Bulgarien lässt die Geflüchteten durch. Serbien lässt die Geflüchteten durch. Kroatien lässt die Geflüchteten durch. Slowenien lässt die Geflüchteten durch. Österreich lässt die Geflüchteten durch. Tausende Geflüchtete stehen vor der deutschen Grenze. Und dazu noch all die anderen Punkte von oben.
Kurz gesagt: Sodom und Gomorra in Europa.
Es gab mal eine Zeit, da haben sich Julian Reichelt und Kai Diekmann und einige andere “Bild”-Mitarbeitern — zumindest theoretisch — bei den vielen Flüchtlingshelfern in diesem Land untergehakt und “refugees welcome” und “Wir helfen” geschrien. Diese Zeit ist offensichtlich vorbei. Inzwischen schüren die “Bild”-Medien wiederdie Angstvor Zuwanderern.
Nun also das bedrohliche Szenario, “WENN DER FLÜCHTLINGSDEAL PLATZT”. Und diese Panikmache in einer Zeit, in der eine Versachlichung dieser komplexen weltpolitischen Lage eine der größten Leistungen von Journalisten sein dürfte.
In der Einleitung zum “BILDplus-Szenario” schreibt Bild.de übrigens:
Was wirklich passiert, wenn die Türkei ihre Drohung wahrmacht, kann niemand präzise vorhersagen. Das Szenario, das BILD hier beschreibt, ist nur eine Option unter vielen.
Die Redaktion hat sich für eine der Optionen mit den dramatischsten Auswirkungen entschieden.
Vergangenen Freitag war letzter Schultag in Bayern, und damit sind aktuell alle 16 Bundesländer in den Schulferien (wenn auch manche nur noch bis morgen). Also: Koffer packen, rein ins Auto und ab Richtung Süden brettern.
Auslöser für die Artikel ist das oben zu sehende Schild an der Autobahn 8 bei Leonberg, auf Höhe einer Wanderbaustelle: ein rot durchgestrichener Schriftzug “Navigation” und darunter die Aufforderung, für die Weiterfahrt Richtung München und Stuttgart der normalen Verkehrsbeschilderung zu folgen.
Aufgestellt hat es das Regierungspräsidium Stuttgart. Denn es zeigte sich, dass Navigationsgeräte die Auto- und LKW-Fahrer am Autobahndreieck Leonberg fälschlicherweise immer wieder auffordern, auf die linke Spur zu wechseln, wenn sie nach München weiter wollen — obwohl alle drei Spuren nach München führen. Die Folge: einige riskante Manöver über eine durchgezogene Linie, die zum Teil zu Unfällen führten.
Die “Bild”-Medien schreiben dazu:
Blindes Vertrauen aufs Navi hat auf der A8 bei Leonberg schon mehrere Verkehrsunfälle verursacht. Jetzt hat das Regierungspräsidium die Nase voll. Die Behörde hat ein Navi-Verbot verhängt!
Doch bevor jetzt die deutsche Autofahrerlobby Schaum vor dem Mund bekommt (“Jetzt wollen die da oben auch noch bestimmen, ob ich mein Navi benutzen darf oder nicht?!”): Das mit dem “Navi-Verbot” stimmt gar nicht. Der Hinweis an der A8 ist lediglich ein Vorschlag.
“Das neue Schild ist kein offizielles Verkehrszeichen und auch kein Verbotsschild, es ist ein Hinweisschild, das die Autofahrer sensibiliseren soll”, sagte gestern Matthias Kreuzinger, vom Stuttgarter Regierungspräsidium.
Die “Bild”-Medien scheinen ein neues Thema für sich entdeckt zu haben: die Hartz-IV-Ausländer. Denn nach seinem Artikel von gestern hat Chefzahlenleser Dirk Hoeren heute noch einmal in “Bild” und bei Bild.de nachgelegt — mit einer großen Titelgeschichte und einem “Bild-plus”-Artikel:
Die “neuen Zahlen”, auf die sich Hoeren bezieht, waren gestern auch schon bekannt. Sie stammen aus derselben Statistik der “Bundesagentur für Arbeit” (PDF), auf die sich sein Artikel von Montag stützt. Aber anstatt einmal umfassend zu berichten, machen “Bild” und Bild.de offenbar lieber eine Kampagne eine Serie aus der Veröffentlichung der Bundesagentur.
Und so findet man in Dirk Hoerens heutigem Text fast ausschließlich die gleichen Zahlen, die er gestern schon aufgeschrieben hat. Dafür sind diese jetzt aber mit einer politischen Forderung verknüpft:
CDU/CSU-Fraktionsvize Michael Fuchs (67) zu BILD: “Das Problem der hohen Hartz-IV-Quote von Flüchtlingen lässt sich nur durch Integration lösen. Dazu müssen die Flüchtlinge Deutsch lernen. Deshalb sollten die Hartz-Leistungen an den Integrationswillen gekoppelt werden. Wer sich nicht integrieren will, sollte weniger Hartz IV bekommen.”
Um zu zeigen, wie hoch die “Hartz-IV-Quoten” so sind, präsentieren die “Bild”-Medien diese Tabelle, aufgeschlüsselt nach 20 Herkunftsländern:
Für eine weitere Spalte war natürlich kein Platz: Für die Anzahl der Personen, die aus den jeweiligen Ländern stammen und die in Deutschland einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Auch die weist die “Bundesagentur für Arbeit” in ihrer Statistik aus.
Und da wir finden — da hat sich unsere Meinung seit gestern nicht geändert –, dass zum gesamten Bild der Geschichte eben mindestens auch diese Zahlen gehören, liefern wir sie Ihnen hier für die 31 Nationalitäten, die die Bundesagentur gesondert auflistet, nach:
Herkunftsland
sv. Beschäftigte
Hartz-IV-Empfänger
Afghanistan
17.747
35.892
Albanien
18.852
8570
Bosnien und Herzeg.
63.133
17.055
Bulgarien
88.080
73.088
Eritrea
3796
16.764
Estland
2316
749
Griechenland
130.906
46.485
Irak
17.708
64.712
Iran
16.615
21.769
Italien
243.160
70.911
Kosovo
49.843
27.146
Kroatien
134.366
16.150
Lettland
11.779
4911
Litauen
18.267
6746
Mazedonien
24.790
14.717
Nigeria
9890
8573
Pakistan
13.173
16.213
Polen
342.768
92.506
Portugal
58.049
11.374
Rumänien
237.498
60.084
Russische Föderation
70.104
37.413
Serbien
62.882
55.065
Slowakei
26.087
4560
Slowenien
10.381
1976
Somalia
2513
5160
Spanien
63.736
16.779
Syrien
17.896
242.391
Tschechische Republik
43.496
5466
Türkei
515.630
295.260
Ukraine
36.525
24.033
Ungarn
88.523
9488
(Stand: die aktuellsten verfügbaren Zahlen von April 2016)
Bei sieben Ländern (Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Pakistan, Somalia, Syrien) ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger höher als die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, bei den anderen 24 ist es umgekehrt.
Wegen der starken Zuwanderung von Flüchtlingen steigt die Zahl der ausländischen Hartz-IV-Bezieher deutlich an. Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) stammte nach jüngsten Daten jeder 4. Stütze-Empfänger (26 %) aus dem Ausland.
Insgesamt bezogen 1,541 Millionen Ausländer Hartz IV, 170 207 (12,4 %) mehr als ein Jahr zuvor. Die Zahl der deutschen Hartz-Empfänger sank dagegen um 239 995 (–5,2 %) auf 4,36 Millionen. Im Schnitt sind 7,7 % der Deutschen auf Hartz angewiesen, bei Ausländern sind es 18 %.
Die meisten ausländischen Stütze-Empfänger kommen aus der Türkei (295 260), Syrien (242 391) und Polen (92 506). Am stärksten gestiegen gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger aus Eritrea (+229,4 %) auf 16 764 und Syrien (+195,1 %).
Obwohl dieses “Die”-und-“wir”-Stück von Dirk Hoeren stammt, ist es für sich genommen erstmal richtig. Die Zahlen stimmen. Man kann sie in einer Statistik der “Bundesagentur für Arbeit” (PDF) nachlesen.
Ein anderer Aspekt aus derselben Veröffentlichung der Bundesagentur war Hoeren aber nicht mal einen Halbsatz wert: Dass auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ausländer in Deutschland steigt. Im Mai 2016 — das sind die aktuellsten verfügbaren Zahlen — waren 3,119 Millionen Menschen aus dem Ausland hier sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das sind immerhin 312.996 mehr als ein Jahr zuvor, ein Plus von 11,2 Prozent.
Was in Hoerens Text ebenfalls nicht vorkommt: In der Statistik der “Bundesagentur für Arbeit” ist bei jedem Herkunftsland, das extra ausgewiesen wird (und das sind immerhin: Afghanistan, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Estland, Eritrea, Griechenland, Italien, Irak, Iran, Kosovo, Kroatien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Nigeria, Pakistan, Polen, Portugal, Rumänien, Russische Föderation, Serbien, Slowakei, Slowenien, Somalia, Spanien, Syrien, Tschechische Republik, Türkei, Ukraine und Ungarn), ein positiver Zuwachs von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten vermerkt.
Anders gesagt: 2016 sind mehr Ausländer in Arbeit als ein Jahr zuvor, unabhängig davon, woher sie kommen.
Der Trick mit dem Weglassen der halben Wahrheit hat bei Dirk Hoeren übrigens System, im vergangenen Oktober hat er ihn schon einmal angewendet. Damals ging es um die “Zahl der Hartz-IV-Empfänger aus Asyl-Ländern”. Das gleiche Schema: Hoeren schreibt über die steigenden Zahlen der sogenannten “Leistungsempfänger im SGB II” und erwähnt die steigende Zahl an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus “Asyl-Ländern” mit keinem Wort. Das kann man so machen — ist dann aber einseitig.
Bitte nicht falsch verstehen: Wenn die Zahl der ausländischen Hartz-IV-Empfänger steigt, dann kann und soll man darüber berichten. Wenn man dabei aber den anderen Teil der Geschichte weglässt und ein undifferenziertes Bild zeichnet, nützt das am Ende vor allem einer Gruppe — den Rechtspopulisten, die ihrer Gefolgschaft einen neuen Aufreger für den nächsten Stammtisch liefern können:
Per Eilmeldung ging die Nachricht heute an viele Smartphones in Deutschland: Bastian Schweinsteiger, bei der Europameisterschaft in Frankreich noch Kapitän der Deutschen Nationalmannschaft, beendet seine Karriere in der DFB-Elf. Fast zeitgleich kamen Gerüchte auf, dass bei seinem aktuellen Verein Manchester United bald ebenfalls Schluss sei, weil der neue Trainer José Mourinho nicht weiter mit Schweinsteiger plane.
Genau das richtige Material für Bild.de-Spekulationen:
Die Sportredaktion hat auch schon ein paar Ideen:
Englische Medien berichten, dass Fenerbahce Istanbul Interesse haben soll.
Oder geht Schweini in die Stadt der Liebe? Vor Wochen, also noch vor dem angeblichen United-Rauswurf, gab es bereits Gerüchte um Paris Saint-Germain.
Klassisch ein Wechsel in die USA. In der MLS könnte Schweini trotz schwindender Geschwindigkeit noch sportlich dominieren.
Oder vielleicht nach Botswana? Oder in die oberste kirgisische Liga? Wenn man nur lange genug rät, wird schon ein Treffer dabei sein.
Besonders angetan sind die Leute von Bild.de aber von dem Gedanken an einen möglichen Schweinsteiger-Wechsel zu einem Bundesliga-Verein:
Seit Wochen hält sich das Comeback-Gerücht um Schweini vor allem im Ruhrpott: Ist Schalke am Helden von Rio dran?
Tatsächlich soll es diese Schalke-Gerüchte geben. Nun ist ein Wechsel von Bastian Schweinsteiger nach Gelsenkirchen erstmal recht unwahrscheinlich, Bild.de hat aber zwei Hinweise gefunden, die das Ganze untermauern sollen:
Schon Anfang Juni tauchte ein Tweet auf, in dem die Verpflichtung als fix gemeldet wurde. Angeblicher Absender: der offizielle Schalke-Account. Aktuell wird Schweini schon im Schalke-Kader geführt.
Das Portal stützt sich bei dieser Aussage auf zwei Tweets des Twitter-Nutzers @Pilzeintopf, der zu seinem Lieblingsklub FC Schalke 04 und Fußball im Allgemeinen auch bloggt. Anfang Juni twitterte er ein Foto eines vermeintlich offiziellen Schalke-Tweets:
Und heute dann:
Mit ordentlich funktionierenden Augen und zweieinhalb Sekunden Hinschauen kann man sehen, dass mit der Kaderliste was nicht stimmt. Da wäre zum Beispiel die völlig andere Schriftgröße und Schriftfarbe bei Bastian Schweinsteiger. Oder der merkwürdige weiße Balken hinter Schweinsteigers Namen und seinem Geburtsdatum. Oder dass Schalke 04 Mittelfeldspieler Schweinsteiger in der Abwehr eingeordnet haben soll.
Um herauszufinden, dass es sich um eine billige Fälschung handelt, hätte man auch auf die Schalke-Website gehen, dort die richtige Kaderliste aufrufen und herausfinden können, dass die Nummer 28 bereits an den Nachwuchsspieler Joshua Bitter vergeben ist:
All das war Bild.de aber offensichtlich zu umständlich.
Bei dem Foto des angeblich offiziellen Schalke-Tweets aus dem Juni ist die Sache schon etwas kniffliger, die Fälschung deutlich besser. @Pilzeintopf bestätigte uns allerdings auf Nachfrage, dass es sich ebenfalls um einen Fake handelt und der FC Schalke 04 nie über seinen offiziellen Twitter-Account einen Wechsel von Bastian Schweinsteiger vermeldet hat.
Die mit Fake-Tweets gefüllte “Schweini”-Gerüchteküche von Bild.de ist übrigens ein “Bild-plus”-Artikel. Da zahlt man doch gerne.
Der “GfK Verein”, eine “Non-Profit-Organisation zur Förderung der Marktforschung”, hat am Dienstag eine neue Studie veröffentlicht. In der “Challenges of Nations 2016” geht es um “die dringendsten Aufgaben”, die die Befragten in ihrem jeweiligen Land sehen. 27.675 Interviews hat der “GfK Verein” dafür in 24 Nationen geführt, 2104 davon auch in Deutschland. Das zentrale Ergebnis laut Pressemitteilung:
Das Thema Zuwanderung bewegt die Deutschen wie kein anderes: Etwa vier von fünf Bundesbürgern (83 Prozent) halten Zuwanderung und Integration für eine der am dringendsten zu lösenden Aufgaben im Land.
Wumms! Das passt für das Portal bestens zu den Attentaten der vergangenen Tage:
Zwei Terroranschläge (Würzburg, Ansbach), ein Amoklauf (München) und eine Beziehungstat (Reutlingen) — Deutschland hat in der vergangenen Woche Gewalttaten erlebt, die vor allem eine Folge haben: Sie verunsichern die Bevölkerung.
Dass alle Taten von Männern mit Migrationshintergrund begangen wurden, sorgt zusätzlich für Spannung. Die Studie “Challenges of Nations 2016” vom GfK-Verein fragt daher: Was bereitet den Deutschen am meisten Kummer?
Wir haben uns die Pressemitteilung des “GfK Vereins” mal genauer angeschaut und per Telefon bei einer Sprecherin nachgefragt, ob die Umfrageergebnisse die Lesart von Bild.de zulassen.
Antwort: Nein.
Zwar schreibe auch der “GfK Verein” von “Sorge” und “Besorgnis”. Die Frage, die den Teilnehmern in der Studie gestellt wurde, sei aber ohne Wertung versehen gewesen — “Was sind Ihrer Meinung nach die dringendsten Aufgaben, die heute in [jeweiliges Land] zu lösen sind?” Man habe nicht nach Angst oder Kummer oder Sorgen oder Besorgnis gefragt.
Und auch die Verknüpfung mit den jüngsten Attentaten, die Bild.de herstellt, ist völliger Quatsch. Denn die Befragung fand im Frühjahr dieses Jahres statt, für Deutschland im März. Ohne seherische Fähigkeiten konnten die Teilnehmer nichts von den Vorfällen in Würzburg, Ansbach, München oder Reutlingen wissen. Die Sprecherin sagte uns, dass der “GfK Verein” die Studie jedes Jahr unabhängig von irgendwelchen Ereignissen durchführe.
Peter Harzheim, der Präsident des “Bundesverbands Deutscher Schwimmmeister” (BDS) hat in der “Rheinischen Post” neulich folgenden Vorschlag gemacht: Man könnte doch eine gewisse Zahl Geflüchteter zu Bademeistern ausbilden.
“Uns fehlen Fachkräfte. Darum wäre es fahrlässig, diese Ressourcen nicht zu nutzen”, betonte der BDS-Chef. Außerdem könnten zum Schwimmmeister ausgebildete Flüchtlinge dazu beitragen, dass es in den Bädern seltener zu interkulturellen Konflikten kommt.
Klingt nach einer Idee, die zumindest nichts schlimmer machen würde und vielleicht ein paar Probleme im Schwimm- und Freibadalltag lösen könnte. Sprachschwierigkeiten von ausländischen Badegästen zum Beispiel.
Joachim Nikolaus Steinhöfel, unter anderem Anwalt von Akif Pirinçci und Matthias Matussek, scheint kein Unterstützer von Harzheims Einfall zu sein. Er schreibt bei “The European”:
Full disclosure: Ich bin jetzt nicht mehr dazu gekommen, abschließend zu recherchieren, ab welcher Überdosis Chlorwasser mit nachhaltigen Schädigungen des Denkvermögen zu rechnen ist. Oder beim Springen vom Beckenrand, wenn das Wasser vorher abgelassen wurde.
Aber eigentlich geht es Steinhöfel auch gar nicht um die Sache mit den möglichen neuen Bademeistern. Er will viel lieber über ein anderes Thema sprechen. Das macht er schon im Teaser des Artikels klar, direkt unter der “Mohammad”-Überschrift:
Im Text führt er weiter aus:
Was gibt es bei diesen Temperaturen schöneres, als eine sachkundig ausgeführte Arschbombe in einem öffentlichen Schwimmbad. Sie muss ja nicht unbedingt vom sympathischen Peter Altmaier demonstriert werden, dem 16-Tonner unter den Bundespolitikern. Nur muss ich da gleich etwas Wasser in den Wein kippen. Denn die Meldungen über einem enormen Anstieg sexueller Übergriffe in Schwimmbädern häufen sich. Laut Auskunft der Kriminalpolizei insbesondere Vergewaltigung und sexueller Mißbrauch von Kindern. Die Täter seien in erster Linie “Zuwanderer”, zitiert die “Bild” aus einem internen Polizeidokument.
Folgendes Problem: Es ist längst bekannt, dass der “Bild”-Artikel, auf den Steinhöfel sich bezieht, und der damit verbundene “Sex-Mob-Alarm” völliger Unsinn sind.
Dass Joachim Nikolaus Steinhöfel die “Bild”-Geschichte dennoch vor wenigen Tagen aufgreift, obwohl sie schon längst entkräftet ist, verdeutlicht das Folgeproblem an unsauberer Berichterstattung über Geflüchtete und Zuwanderer: Einmal veröffentlicht, werden die Artikel von Leuten herangezogen, die populistische Thesen in die Welt jagen wollen und die sich nicht sonderlich dafür interessieren, ob eine Meldung stimmt oder nicht, solange sie eine Quelle haben, die zur eigenen Position passt. Da kann man noch so viel richtigstellen. Mit Dank an @Sancho_P für den Hinweis!
Nachtrag, 27. Juli: Joachim Nikolaus Steinhöfel hat sich zu diesem Beitrag geäußert und führt fünf Punkte an, warum doch alles in Ordnung ist mit seinem Text:
1. Fehler in der Berichterstattung unterlaufen jedem Medium. Sogar der „Süddeutschen“, „Neues Deutschland“ und der „Frankfurter Rundschau“. Ob man das „bildblog“ hier ausnehmen muss, kann ich nicht sagen, da ich ihn in der Regel nicht lese. Es genügt in jedem Falle journalistischen Standards auch der MSM, wenn man sich zum Beleg für eine Behauptung auf andere seriöse journalistische Quellen bezieht. Diese Arbeitsweise genügt auch den rechtlichen Anforderungen an Berichterstattung im Bereich des Persönlichkeits- und Presserechts. Wenn dieselbe Tatsache in der „Bild“ und im übrigen auch in der „Welt“ veröffentlicht wird, besteht kein Anlaß, sie ohne begründete Zweifel nochmals zu überprüfen. „bildblog“ gehört nicht zur notwendigen Lektüre eines Journalisten. Ob dort tatsächlich etwas entkräftet wurde, kann man durch Zufall erfahren. Eine Recherchepflicht auf gerade diesem Medium existiert nicht. Die erkennbare ideologische Schlagseite des Blogs macht es auch in der Regel verzichtbar.
2. Die Quellen hatten den Zweck, die Zunahme an Delikten, insb. Sexualdelikten durch „Flüchtlinge“, insb. in Schwimmbädern zu belegen. Hierbei ist der Tatort Schwimmbad nachrangig, da massenhafte Sexualdelikte durch „Flüchtlinge“, egal wo verübt, grundsätzlich kein Qualifikationskriterium für die Bademeisterschaft zu sein scheinen.
3. Wenn diese Masse an Sexualdelikten von „Flüchtlingen“ aber gegeben ist, ist es für die Zielrichtung des Artikel nachrangig, ob die Quelle stimmt. Stimmt die Behauptung trotzdem, wäre eine falsche Quelle unerfreulich, aber sekundär. Denn die aufgestellte Behauptung ist wahr.
4. Öffentlich zugänglichen Quellen wie Presseberichten und Angaben der Polizei sind mindestens 747 sexuelle Übergriffe, 107 (auch versuchte) Vergewaltigungen und 600, auch sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche durch „Flüchtlinge“ zu entnehmen.
5. Vor dem geschilderten Tatsachenhintergrund den von mir verfassten Artikel zu kritisieren, ist tatsächlich „unsaubere Berichterstattung“. Oder, um in der Terminologie des Autoren des „bildblog“ zu bleiben: Linke Hetze.
Zur Berichterstattung über das Attentat in München am vergangenen Freitag und all ihren Schwächen starteten noch am selben Abend viele Diskussionen. Sie drehten sich um grundsätzliche Fragen: Sollten Redaktionen besser erstmal abwarten, wie sich das Geschehen entwickelt, oder direkt live auf Sendung gehen? Tragen TV-Sender durch die Verbreitung von Gerüchten zu sehr zur Panik bei? Ist ein öffentlich-rechtlicher Newskanal nötig, der rund um die Uhr Nachrichten sendet und in Ausnahmesituationen schneller reagieren kann (übrigens eine Diskussion, die es schon länger gibt)?
In diesem Blogpost soll es um verschiedene Beobachtungen und ganz konkrete Beispiele gehen, in denen sich Medien unserer Meinung nach problematisch verhalten haben oder gar falsch berichtet wurde.
***
Am vergangenen Freitag um 18:24 Uhr, also noch elf Minuten, bevor die Polizei München bei Twitter zum ersten Mal vor der Situation am Olympia-Einkaufszentrum warnte und darum bat, den Bereich ums OEZ zu meiden, twitterte “BR24”, das Online- und App-Team des “Bayerischen Rundfunks”:
(Den Tweet hat die Redaktion recht schnell wieder gelöscht.)
Wie hätten die nächsten Anfragen ausgehen, wenn sich jemand bei “B24” gemeldet hätte? Vielleicht: “Könntest Du mal im Einkaufszentrum nachschauen, wie es da so aussieht und für uns mit dem Handy draufhalten?”?
***
Als dann die ersten Kamera-Teams und Live-Reporter am Einkaufszentrum angekommen waren, standen sie teilweise gefährlich nah am Tatort und/oder den Truppen der Polizei im Weg:
Bei RTL konnte man sogar live mitverfolgen, wie Fotografen von den Beamten weggeschickt werden mussten:
***
Positiv aufgefallen ist uns am Freitagabend, dass viele Medien ohne das Zeigen von verletzten oder getöteten Menschen auskamen. Möglicherweise lag die Zurückhaltung schlicht daran, dass den Redaktionen nicht viele Fotos oder Videoaufnahmen von Opfern zur Verfügung standen. Aber es gab sie. Und Bild.de wollte nicht auf das Zeigen von Blutlachen und Toten verzichten:
(Zusätzliche Unkenntlichmachungen durch uns.)
Die Redaktion fand das Foto so zeigenswert, dass sie es in den folgenden Stunden und Tagen gleich mehrfach verwendete:
Und auch “Bild” druckte den Mann ab, der durch einen Kopfschuss getötet wurde:
Immerhin: Bild.de und “Bild” haben mindestens das Gesicht, teilweise auch den kompletten Oberkörper des Mannes verpixelt. Und dennoch ist das Zeigen dieses Fotos, ob verpixelt oder nicht, problematisch — allein schon wegen der Uhrzeit der Veröffentlichung.
Erstmals ist uns das Foto um 20:42 Uhr bei Bild.de begegnet, ganz oben auf der Seite. Gut möglich, dass es da schon einige Minuten online war. Es handelt sich also um einen Zeitpunkt, zu dem die Identifizierung des Opfers aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht abgeschlossen war, und somit auch die Angehörigen noch nicht informiert gewesen sein dürften. Sollten diese (wohl wissend, dass ihr Vater/Sohn/Ehemann rund ums Olympia-Einkaufszentrum unterwegs war) auf der Suche nach Informationen zum Attentat auch bei Bild.de vorbeigeschaut haben, könnten sie beim Aufrufen der Website zumindest stark verunsichert worden sein. Denn das auffällige rote Oberteil des Mannes dürften sie wiedererkannt haben.
Dass dieses Szenario nicht gänzlich unwahrscheinlich ist, zeigt diese Passage aus einem “Focus Online”-Text zum Attentat in München:
Zu Hause wartete schon ihre kleine Schwester. “Sie lag weinend auf dem Sofa.” Jetzt wird Cahuans H. klar: Nicht alle Bekannten sind in Sicherheit. Sie erfährt: Der Bruder einer Freundin wurde erschossen. Auf einigen Fotos von Augenzeugen sieht man den Jungen, er trägt einen roten Pullover. Cahuans H. berichtet von Handyanrufen, in denen die Schwester des Erschossenen ins Telefon schreit. “Er ist tot, ich habe sein Handy, er ist tot!”
Und auch der Vater des Täters hat seinen Sohn kurz nach den ersten Schüssen anhand eines wackeligen Handyvideos, das im Internet kursierte, erkannt und sich bei der Polizei gemeldet.
Völlig allein waren “Bild” und Bild.de übrigens nicht — bei “N24” sollen ebenfalls Opfer zu sehen gewesen sein:
***
Neben all diesen hässlichen Vorgängen gab es am Freitagabend und in den vergangenen Tagen auch großes Lob: für das Social-Media-Team der Polizei München. Die Beamten twitterten in der Nacht von Freitag auf Samstag sachlich, aber sehr bestimmt, sie warnten in verschiedenen Sprachen, baten um Mithilfe bei der Aufklärung der Tat und um Zurückhaltung beim Streuen von Gerüchten.
Julian Röpcke, “Political editor” von “Bild” und Bild.de, gefiel das, was die Polizei München bei Twitter veranstaltete, hingegen gar nicht:
Röpckes Kritik bezog sich auf diesen Tweet der Polizei:
Wenn also eine offizielle Stelle in einer unübersichtlichen Situation darum bittet, vorsichtig zu sein, auch wenn noch nicht ganz klar ist, ob “in der City” Gefahr besteht, macht das Julian Röpcke “*sprachlos*”.
Sein “Bild”-Kollege Björn Stritzel, mit dem Röpcke am Freitagabend zusammen an einem Text zum Attentat arbeitete, verbreitete hingegen wirklich gefährliche Gerüchte:
Gerade einmal 70 Minuten später wurde aus dem möglichen “rightwing extremist” ein möglicher Islamist:
***
Das Gerücht, dass es sich bei dem Attentat um einen islamistischen Terroranschlag handeln könnte, schaffte es auch auf die Website der “Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen”. In einem Kommentar schrieb “HNA”-Redakteur Jörg-Stephan Carl um 21:17 Uhr — als also noch nicht wahnsinnig viel über die Tat und ihre Hintergründe bekannt war:
Die Islamisten haben der ganzen Welt den Krieg erklärt. Der Fanatismus, der religiös angestachelte Allmachtswahn, die Mordlust der Dschihadisten machen vor niemandem halt. Deutschland hatte bisher weitgehend Glück, der große Anschlag war ausgeblieben. Das Glück ist aufgebraucht.
Es deutet alles darauf hin: Der islamistische Terror ist in Deutschlands Großstädten angekommen. […]
Sich gegen Terror wehren, bedeutet immer auch, ihn aushalten zu müssen. Bei allem Entsetzen, bei aller Wut auf die Täter, bei aller Trauer über die Opfer — es klingt schal nach den Ereignissen in München: Aber das normale — das freie — Leben muss weitergehen, der Islamismus darf nicht triumphieren.
Am Samstag, als klar war, dass die Tat keinen islamistischen Hintergrund hatte, veröffentlichte die “HNA” den Kommentar um 8:42 Uhr noch einmal. Die Redaktion hatte den Text umgestellt und Textteile zum Islamismus gestrichen. Unter anderem findet man im Kommentar nun diese Passage:
Nach all dem durchlittenen Terror in den Metropolen Europas beschleicht einen sofort die bange Angst: Ist der islamistische Terror auch in einer deutschen Großstadt angekommen? Am Freitagabend wusste das noch niemand. Inzwischen geht die Polizei von einem jugendlichen Einzeltäter aus.
***
Am Samstag und Sonntag wurde die Berichterstattung, mit mehr Zeit für die Recherche, nicht zwingend besser. Die Redaktionen von Bild.de und “Bild am Sonntag” haben sie zum Beispiel dafür genutzt, sich Fotos der Opfer zu besorgen:
(Diese und alle weiteren Unkenntlichmachungen durch uns.)
(“Bild am Sonntag” hat die Fotos auf der Titelseite und noch ein weiteres Mal im Innern der Zeitung komplett ohne Verpixelung veröffentlicht, Bild.de mit einem sehr schmalen Balken über den Augen; inzwischen hat Bild.de die Gesichter einiger Opfer stärker verpixelt, andere zeigt die Seite wiederum ohne jegliche Verpixelung.)
Als Quelle gibt Bild.de bei den meisten Fotos “privat” an. Was in der Regel so viel heißt wie: in den Sozialen Medien zusammengeklaubt. Persönlichkeitsrechte und der Respekt vor der Trauer der Angehörigen spielen bei der Jagd nach Fotos offenbar keine Rolle.
***
Bei “Focus Online” hat die Redaktion die Zeit ebenfalls genutzt und ziemlich genau recherchiert, wo die Familie des Attentäters wohnt. In einem Artikel beschreibt das Portal seinen Lesern die Lage der Wohnung in München sehr detailliert — den Straßennamen, ein Foto des Hauses, das Stockwerk, in dem sich die Wohnung befinden soll, dazu Informationen aus dem Leben der Eltern, den Beruf des Vaters. Wer die Familie irgendwann mal aufsuchen will, muss sich nur den “Focus Online”-Text schnappen (auf einen Link oder einen Screenshot der Überschrift verzichten wir bewusst).
Hoffmann: Durch sehr vorsichtige Berichterstattung. Wir raten in solchen Fällen immer: Zeigt nicht das Gesicht des Täters, nennt nicht den Namen. Er soll nicht zur “Berühmtheit” werden, sondern dem Vergessen anheimfallen. Das kann Nachahmer abschrecken. Ich fand es eine sehr gute Entscheidung, das Gesicht des Täters in dem Video zu verpixeln, das ihn beim Schießen zeigt.
Dennoch zeigen viele Onlineportale, viele Zeitungen, viele TV-Sender Fotos des Attentäters. Ein Großteil kürzt seinen Namen ab, aber nicht alle. Die massive Berichterstattung über seine Person macht ihn jedenfalls zum Star. Er bekommt für seiner Tat Aufmerksamkeit und Reichweite.
Besondere hilfreich sind dabei die “Bild”-Medien:
Bild.de veröffentlicht sogar Artikel, die sich wie Manuskripte von Actionfilmen lesen:
Er rennt durch die Nacht. In Panik. Überall Polizei. Es ist erst wenige Stunden her, da erschoss A[.] kaltblütig neun Menschen. In einer Seitenstraße bleibt er stehen. Und richtet die Waffe auf seinen Kopf…
Der Text geht in diesem Ton weiter. Viel stärker kann man eine schreckliche Tat nicht auf ein Podest heben.
Aber auch andere Blätter machen mit und packen das Foto des Täters auf ihre Titelseiten (immerhin beide mit einem schmalen Balken über den Augen):
Dass es auch anders geht, selbst im Boulevard, hat am Sonntag die “B.Z.” gezeigt:
Was mag in Eltern und Freundin des Todes-Piloten vorgehen? Sind sie mit der Tat des Sohnes nicht gestraft genug?
Gemeint sind in diesen zwei Fragen die Eltern und die frühere Freundin von Andreas L., dem Co-Piloten des Germanwings-Flugs 4U9525. L. hatte im März vergangenen Jahres ein Flugzeug in die französischen Alpen gelenkt, wodurch er und 149 weitere Menschen ums Leben kamen. Die oben zitierte Passage stammt aus einem Artikel, den “Bild” und Bild.de am Dienstag veröffentlichten:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Artikel durch uns.)
Der Mann, der Anzeige gegen die Eltern von Andreas L. erstattet hat, hat bei dem Unglück vor 16 Monaten seine Tochter und sein Enkelkind verloren. Der Lebensgefährte seiner Tochter ist ebenfalls gestorben. Die “Bild”-Medien schreiben dazu:
Zur Berichterstattung über den Germanwings-Absturz:
Der schwere Vorwurf des Düsseldorfer Unternehmers: Die Eltern [von L.] hätten sich mitschuldig gemacht. […]
Konkret geht es um die zahlreichen Arztbesuche des kranken L[.]. Eltern und Freundin hätten davon gewusst und den späteren Amok-Piloten zu den Medizinern begleitet, ihn jedoch nicht davon abgehalten zu fliegen, so die Anzeige. […]
Sein juristischer Beistand, Klaus Brodbeck, zu BILD: “Die Anzeige ist für uns die einzige Möglichkeit, dass in diese Richtung ermittelt wird.” Für ihn komme der Straftatbestand der Beihilfe zur fahrlässigen Tötung in 149 Fällen in Frage.
Und nun fragt das Dreierautorenteam von “Bild” also mitfühlend, ob die Eltern von Andreas L. nicht schon genug gestraft seien.
Dass “Bild”-Mitarbeiter sich ums Wohlbefinden von Angehörigen von Tätern sorgen, ist, gelinde gesagt, überraschend. Gerade im Fall von Andreas L. Denn die “Bild”-Medien hatten wenige Tage nach der Tat von L. kein Problem damit, auch seine Eltern in den Fokus der Berichterstattung zu zerren:
Autor Tim Sönder nannte in dem Artikel die Berufe der beiden Eltern und ließ einen “Trauma-Experten” eine Ferndiagnose über sie anstellen.
Nur wenige Tage später ging es in einem weiteren Artikel noch einmal um das Ehepaar L.:
Erneut wurden die Berufe genannt, dieses Mal von “Bild”-Mitarbeiter Philipp Blanke. Er ließ den “Trauma-Experten” ebenfalls zu Wort kommen. Und bei seiner Recherche hat er offenbar auch im Umfeld der Familie rumgeschnüffelt — eine Nachbarin der Großeltern von L. erzählt in dem Text nämlich über die Kindheit des Piloten.
Nun kann man Andreas L. aufgrund seiner Tat als Person der Zeitgeschichte sehen. Doch seine Eltern sind kein Teil dieser Tat, dieses zeitgeschichtlichen Ereignisses. Sie haben das Recht auf Privatsphäre.
Davon unabhängig sollte man ihnen auch ein Recht auf Trauer zugestehen. Neben dem Verlust ihres Sohnes müssen sie auch verarbeiten, dass dieser für den Tod vieler weiterer Menschen verantwortlich ist. Doch wie soll das funktionieren, wenn die “Bild”-Medien jede Kleinigkeit nutzen, um über ihren Sohn zu berichten? Zum Beispiel wenn sich ein früherer Bekannter im Fernsehen über ihn äußert …
… oder wenn die “Tagesschau” zum Jahrestag des Unglücks sein Gesicht nur verpixelt zeigt …
… oder wenn “Bild” einen Mann findet, der genauso heißt wie ihr Sohn:
Und dass Bild.de, gerade erst vor zwei Wochen, Fotos aus Ermittlungsakten veröffentlicht, die die private Wohnung von L. …
… und auch sein Kinderzimmers im Haus der Eltern zeigen:
Autor des Artikels ist Mike Passmann. Passmann ist es auch, der am Dienstag mit seinen zwei Kollegen fragte, ob die Eltern von Andreas L. nicht schon gestraft genug seien.
In der Kindersendung “Kakadu” vom “Deutschlandradio Kultur” gibt es all die Themen, die Kindern beim Radiohören Spaß machen könnten: Eine Reportage vom “Kinderabenteuerhof in Freiburg” oder ein Hörspiel über einen “Elefanten im Krankenhaus” oder einen Beitrag über “Kaninchenköttel, Kuhfladen, Katzenkacke”.
Das wird jedes Jahr von einer Jury gekürt, und gewonnen hat dieses Mal das Sprachspiel “Codenames”. Um die diesjährige Entscheidung der Jury zu kommentieren, ist extra die “Spiele-Expertin” Christina Valentiner-Branth ins “Kakadu”-Studio gekommen. Und als die Moderatorin von Valentiner-Branth wissen will, ob die Wahl der Jury eine “gute Wahl” war, hat die eine klare Antwort:
Nee, leider nicht. Dieses Jahr leider überhaupt kein bisschen. Und ich bin auch echt, ich bin, ich bin sogar richtig ein bisschen böse.
In der Vergangenheit habe man sich als Käufer immer sicher sein können, dass das “Spiel des Jahres” ein “Super-Top-Familienspiel” ist. Das könne man mit Oma spielen, das könne man mit den Kindern spielen, das könne man mit der ganzen Familie spielen, nicht zu schwer, nicht zu viele Regeln. “Codenames” sei nun ab 14 Jahren empfohlen, dazu ein Sprachspiel, bei dem man gut lesen können müsse, und es funktioniere erst ab vier Leuten, “die richtig gut und kreativ sind.”
Also:
Finger weg vom diesjährigen “Spiel des Jahres”, wenn ihr eine Familie seid.
Soweit, so nachvollziehbar.
Moderatorin: Gucken wir doch dann, was bei den restlichen Nominierten, die aber heute keinen Preis bekommen haben, vielleicht noch dein Tipp wäre, was so ein Familienspiel ist.
Valentiner-Branth: Also wenn jetzt Weihnachten naht oder ihr demnächst Geburtstag habt, und ihr wollt euch was …
Moderatorin: Ja, “O Tannenbaum” lief schon im Radio.
Valentiner-Branth: Ja, du warst schon voll dabei. Also wenn ihr da irgendwie was sucht und ihr seid so Familie, habt vielleicht so einen Achtjährigen, einen Zehnjährigen, vielleicht auch noch einen Zwölfjährigen dabei, dann kann ich das Spiel “Karuba” empfehlen. “Karuba” stand auf der Nominierungsliste, also drei Spiele waren vorgeschlagen für den “Spiel des Jahres”-Preis. Das ist ein Spiel für Kinder ab acht Jahren. Die Regeln sind super einfach. Man kann es ganz schnell lernen. Und eigentlich hatten ganz viele gewettet, dass “Karuba” “Spiel des Jahres” wird. Die waren natürlich alle ein bisschen enttäuscht.
Einer, der besonders enttäuscht gewesen sein dürfte, ist der Ehemann von “Spiele-Expertin” Christina Valentiner-Branth. Der war als Redakteur nämlich maßgeblich an der Entwicklung von “Karuba” beteiligt (PDF) und dürfte großes Interesse daran haben, dass Achtjährige oder Zehnjährige oder auch Zwölfjährige bei “Kakadu” von seinem “Karuba” hören und es sich dann zu Weihnachten oder zum Geburtstag wünschen.
Die Kindersendung läuft täglich live im Programm von Deutschlandradio Kultur und ist bundesweit und werbefrei zu hören.
Der Werbeblock von Christina Valentiner-Branth hat es dann aber doch ins Programm geschafft.
Auf Nachfrage schreibt und das “Deutschlandradio Kultur”, dass Christina Valentiner-Branth die Redaktion darüber informiert habe, dass ihr Ehemann “an dem Spiel ‘Karuba’ beteiligt war, aber eben als Redakteur.” Man habe “keinerlei Anzeichen von Schleichwerbung o.ä. gesehen oder auch beabsichtigt. Insofern haben wir kein Problem darin gesehen, sie als Kritikerin für die Preisverleihung ‘Das Spiel des Jahres’ zu befragen.” Man schätze “Frau Valentiner-Branth wegen ihrer kritischen und objektiven Berichterstattung.”