In der Stadt Burg in der Nähe von Magdeburg ist es seit zwei Wochen nicht mehr erlaubt, Bettwäsche am offenen Fenster auszuschütteln, wenn das Fenster weniger als drei Meter von der Straße entfernt liegt. Das Gleiche gilt für Teppiche, Tücher, Kleider und Polster. Auch streunende Katzen zu füttern, ist in Burg nun verboten. Nicht mal mehr auf Laternen klettern darf man.
Das alles regelt die neue Gefahrenabwehrverordnung, die in Burg seit dem 11. Juli gilt. Wer sich nicht an sie hält, riskiert ein Bußgeld von bis zu 5000 Euro.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)
Damit auch klar ist, dass die Stadt es mit der neuen Regelung ernst meint, will sie nun vier “Ermittler” einstellen, die laut Stellenausschreibung sogar bereit sein müssen, Dienstkleidung zu tragen. Sie sollen die Einhaltung der neuen Verordnung überwachen.
Im Grunde ist das ja eine gute Nachricht, denn immer wenn man so etwas liest, kann man sich getrost noch mal auf die andere Seite drehen und zwei weitere Stündchen schlafen, weil offenbar alles in Ordnung ist. Nur ist im Moment genau das ja nicht der Fall.
Wir alle sind alarmiert. Es muss nur irgendwas passieren, und wir vermuten gleich das Schlimmste. Bei Twitter schrieb der Kollege Henning Sußebach, er hätte das Wort “Autokauf” gesehen und “Amoklauf” gelesen.
In Eschweiler in der Nähe von Aachen hat jemand den Notruf gewählt, weil er beobachtet hatte, wie ein Mann seine Frau vom Balkon stieß und die Frau dreieinhalb Meter kopfüber in die Tiefe stürzte. Polizei und Feuerwehr kamen mit Blaulicht, und normalerweise vergeht dann ja auch nicht mehr viel Zeit, bis die Reporter eintrudeln, und zum ersten Mal das unvermeidliche Wort “Familiendrama” fällt. Die Nachbarn sind natürlich bestürzt, und garantiert wird sich irgendwer finden, der bestätigen kann, dass es ja eigentlich ganz normale Leute waren.
Aber so weit kam es diesmal gar nicht, denn als die Frau unter ihrem Balkon gefunden wurde, konnte sie selbst sagen, was passiert war. Niemand hatte sie gestoßen. Sie war bei dem Versuch, einen Teppich aufzuhängen, über das Geländer gefallen. Und damit sieht alles ganz anders aus. Auch in Eschweiler ist die Welt doch noch in Ordnung. Nur im Rathaus müssten sie sich nun die unangenehme Frage gefallen lassen, warum es in der Stadt noch immer keine Gefahrenabwehrverordnung gibt. Mit der wäre das ja wahrscheinlich nicht passiert.
Nur wird diese Frage momentan vermutlich niemand stellen, denn eigentlich befinden wir uns ja mitten im Sommerloch, und da stellt niemand solche Fragen. Da bleibt normalerweise endlich Zeit, sich auf die unwichtigen Dinge zu konzentrieren, um hier und da auch mal einzuwerfen: Ach, und dafür ham’se Zeit.
Aber das ist noch nicht passiert. In diesem Jahr ist alles anders. Allein in den vergangenen Tagen sind so viele schreckliche Dinge passiert, dass man denken könnte, irgendwo da oben sitze Hiob ganz alleine am Newsdesk. Ein Montag reiht sich an den nächsten, und wir sind so sehr mit unserer Angst beschäftigt, dass wir nicht mal mitbekommen haben, wie das Huhn Gerda an der A4 in der Nähe von Dresdesn wochenlang mit der Autobahnpolizei Katz und Maus spielte. Es war nicht zu fassen — bis irgendwann ein Autofahrer anhielt und es einfach einfing:
Vielleicht hat diese Ignoranz aber auch gar nichts mit unserer Angst zu tun, sondern einfach damit, dass so ein Huhn, egal, wie es nun heißt, bei “Pokémon Go” keine Punkte bringt. Und darum scheint es in diesem Sommer ja eigentlich zu gehen. Vielleicht hat der Mann, der wegen des Huhns ausstieg, da einfach irgendwas verwechselt.
Immerhin ist sein Auto heil geblieben, und das ist ja auch schon mal was, denn wenn man sich die Warnungen der Polizei ansieht, dauert es vermutlich nicht mehr allzu lange, bis “Pokémon Go” auch in Unfallursachen-Charts an der Spitze steht. In den USA ist man da schon etwas weiter. Dort lassen sich bereits ganze Nachrichten-Spalten mit den mutmaßlichen Pokémon-Schäden füllen.
In Baltimore zum Beispiel ist ein Mann mit seinem Wagen in ein parkendes Polizeiauto gekracht, während ein Polizist danebenstand und das alles filmte. Man kann sich das Video ansehen.
Der Mann versucht nicht mal zu vertuschen, was er da gemacht hat. Als er aus seinem demolierten Wagen aussteigt, hält er sein Smartphone noch immer in der Hand und flucht: “Das hat man jetzt davon, wenn man dieses Spiel spielt.” Also in dem Fall: gar nichts. In Deutschland hätte man auch für dieses Manöver ja noch ein paar Punkte bekommen — wenn auch leider die falschen.
Die richtigen bekommt man anscheinend vor allem da, wo man bei klarem Verstand niemals hingehen würde. In Kalifornien sollen zwei Pokémon-Sammler 30 Meter in die Tiefe gestürzt sein, weil sie an einer Klippe hinter der Absperrung ein seltenes Pokémon vermuteten:
Bis in Bosnien etwas passiert, scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Dort suchen die fidelen Pokémon-Sammler offenbar sogar auf Landminen-Feldern. Dass ihr Jäger-Gruß lautet “Wir hören voneinander”, ist wiederum nur ein Gerücht.
“Pokémon Go” verbreitet sich wie eine Pandemie. Überall auf der Welt suchen Horden von Menschen in den Städten der Verzweiflung nahe nach imaginären Dingen, die dann doch nur auf Displays existieren. Das alles kommt einem so seltsam bekannt vor. Und natürlich, das gab es auch früher schon, aber da ging es nicht um Pokémons, sondern um freie Parkplätze.
Die Monsterjagd hat ja auch sonst etwas Vertrautes. Ich meine mich sogar zu erinnern, dass das Sommerloch damals extra für sie erfunden wurde. Früher verlief ja jedes Jahr sehr ähnlich (auch das eine vage Erinnerung). Kaum war im Sommer nichts mehr los, hatte relativ erwartbar wieder irgendwer das Ungeheuer von Loch Ness gesichtet, es aber durch einen unglücklichen Zufall nicht fotografieren können — oder wenn doch, dann nur so unscharf, dass das auf dem Bild abgebildete Ding auch ein Elefant, ein Auto oder ein Stück Holz in der Badewanne hätte sein können.
Über viele Jahre ging das so. Und während der erste “Pokémon Go”-Jäger schon nach gut drei Wochen behauptet, seine 142 Monster zusammen zu haben und mit dem Spiel damit durch zu sein, wartet Steve Feltham in den schottischen Highlands weiter auf sein zweites Erfolgserlebnis. Das erste war der Eintrag ins “Guinness-Buch der Rekorde” als ausdauerndster, aber eben auch erfolglosester Monsterjäger, von dem man jemals gehört hat.
Steve Feltham hat vor 25 Jahren seinen Job aufgegeben, um sich ganz seinem Hobby widmen zu können, der Suche nach Nessi. Um dieses Vorhaben zu finanzieren, verkauft er seit einigen Jahren kleine Figuren, die das im See vermutete Ungeheuer so zeigen, wie man sich so ein See-Ungeheuer vorstellt.
Das Geschäft scheint irgendwie zu laufen. Jedenfalls ist Feltham noch immer da. Seit einigen Wochen läuft es sogar etwas besser, und Feltham wundert sich nicht nur darüber, denn seitdem sieht er rund um den See immer wieder Menschen, die anscheinend etwas Ähnliches suchen wie er, das aber ganz anders anstellen. Sie schauen nicht auf den See, sondern auf dieses Gerät, das sie vor sich hertragen, und seltsamerweise sprechen sie auch nicht von Nessi. Sie nennen das Ding, das sie suchen, Lapras.
Das Pokémon Lapras sieht so aus wie die kleinen Figuren, die Feltham verkauft. Es wurde hier und da schon gefangen, gilt aber als sehr selten, und deshalb ziehen viele Monster-Jäger irgendwann entnervt wieder ab, ohne es gefunden zu haben. Einige von ihnen kaufen vorher als kleines Souvenir eine von Felthams Figuren. Und irgendwie schließt sich hier sehr schön der Kreis zwischen dem beschaulichen alten Sommerloch und dem globalisierten von heute.
Vielleicht kann man Felthams kleine Teilhabe am weltweiten Pokémon-Boom sogar als sein zweites Erfolgserlebnis bezeichnen. Das dritte wäre wahrscheinlich immer noch keine Nessi-Sichtung, aber es könnte ein neuer Geschäftszweig sein: Viel mehr Geld als mit seinen Figuren könnte Feltham wahrscheinlich mit dem Verkauf von Zweit-Akkus und Ladestationen machen, denn die Handy-Batterien von Pokémon-Jägern sind schneller leer als eine kleine Flasche Bier.
In Witten im nördlichen Ruhrgebiet haben sich vier junge Männer deshalb mit einer Kabeltrommel auf die Jagd begeben, die sie, als der Akku-Balken immer schmaler wurde, im Vorraum einer Sparkassen-Filiale an eine Steckdose schlossen. Im Übermut betrieben sie über die gleiche Steckdose auch eine Musik-Anlage, und nur das verriet sie.
Die Polizei kam leider zu spät. Die Akkus waren längst geladen. Die Beamten schrieben noch schnell eine Strafanzeige wegen illegalen Stromabzapfens. Doch danach mussten sie die vier Männer ziehen lassen und mitansehen, wie sie vor der Sparkassen-Filiale ihre Monster-Jagd fortsetzten. Dagegen kann bislang leider niemand etwas tun. Die Staatsgewalt ist vollkommen machtlos. Vielleicht braucht auch Witten eine neue Gefahrenabwehrverordnung.