Diese Meldung geht gerade um die Welt: In der nordenglischen Stadt Middlesbrough hat sich die Zahl der jährlichen Syphilis-Erkrankungen von unter zehn auf 30 erhöht. Peter Kelly, ein Verantwortlicher der örtlichen Gesundheitsbehörde, warnt deshalb vor ungeschütztem Sex mit wechselnden Geschlechtspartnern.
Das ist in dieser Form natürlich noch kein Anlass für internationale Schlagzeilen. Doch die Medien haben ihre industrielle Entenproduktion inzwischen soweit perfektioniert, dass das als Rohstoff schon ausreicht.
Ausgangspunkt war, wie so oft, das britische Revolverblatt “The Sun”. Es griff einen Satz Kellys aus der Safer-Sex-Warnung auf: “Soziale-Netzwerk-Seiten erleichtern es Menschen, sich mit anderen für zwanglosen Sex zu treffen.” Die “Sun” verknüpfte diese schlichte Beobachtung mit Zahlen aus dem vergangenen Monat, wonach die Menschen (zwar nicht in Middlesbrough, aber in Städten in der Nähe) überdurchschnittlich häufig solche sozialen Netzwerke nutzten. Sie spitzte beides auf “Facebook” zu, erfand einen kausalen Zusammenhang und titelte konsequent: “Sex diseases soaring due to Facebook romps” (frei übersetzt: Geschlechtskrankheiten explodieren wegen Facebook-Sex).
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Damit war die Geschichte zwar falsch, aber spektakulär genug, ihre Reise um die Welt anzutreten, wobei die Lügen, die ihr zugrunde lagen, immer weiter ausgeschmückt wurden. Als eine der ersten schrieb die Online-Redaktion des “Daily Telegraph” die “Sun”-Meldung ab und veröffentlichte sie ohne Quellenangabe. Das war praktisch, weil sich weitere Abschreiber nun auf diese vermeintlich seriösere Zeitung berufen konnten. “Facebook ‘linked to rise in syphilis'” (“Facebook ‘mit Syphilis-Anstieg in Verbindung gebracht'”) titelte der “Telegraph” und legte somit gleich dem Gesundheitsbeamten den Zusammenhang in den Mund, den die “Sun” erfunden hatte.
Die britische Zeitung “Daily Mail”, der amerikanische Fernsehsender “Fox News” und viele andere verbreiteten die Falschmeldung der “Sun” weiter. Nach Deutschland schaffte es die Meldung mit tatkräftiger Unterstützung einer Hallenser Firma namens dts (“Deutsche Textservice Nachrichtenagentur”), die dem schon vorhandenen Unsinn weitere Fehler hinzufügte. Auch die einschlägig bekannte Düsseldorfer Agentur “Global Press” mischte mit ihrem Dienst “Medical Press” wieder mit.
Vor allem Online-Redaktionen, die auf irgendeinem Weg mit der offenbar ansteckenden Geschichte in Kontakt kamen, waren sofort von ihr infiziert. Sie breitete sich in Österreich (“Kurier”) ebenso aus wie in der Schweiz (“20 Minuten”), erreichte das deutschen Schwulen-Portal “queer.de” und das Jugendportal der “Süddeutschen Zeitung” “jetzt.de” — und natürlich: Bild.de.
“Facebook wird in Großbritannien als Sex-Kontaktbörse benutzt”, heißt es dort einigermaßen sinnlos in der Titelzeile, um dann erstaunlich skeptisch von einer “gewagten These” zu sprechen. Die Geschichte von Peter Kelly hat auf Bild.de inzwischen folgende Märchenform angenommen:
Nachdem er beobachtete, dass die Zahl der Syphilis-Erkrankungen in den britischen Orten Sunderland, Durham und Teesside um das Vierfache angestiegen sind, schaute er sich das Nutzerverhalten von Facebook an. Das Ergebnis: In den Orten mit hoher Syphilis-Rate nutzten auffällig viele Personen den Online-Dienst.
Macht Facebook krank?
Eine britische Untersuchung lässt vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen häufiger Facebook-Nutzung und der Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an Syphilis gibt. “Diese Seite vereinfacht die Suche nach Sexabenteuern”, so die Forscher.
(“B.Z.”, 25. März)
Nichts davon ist wahr; mit Sunderland und Durham hat Kelly ohnehin gar nichts zu tun, die Städte waren nur die beiden mit den hohen Facebook-Nutzerzahlen, die die “Sun” unauffällig mit in das Gemenge eingerührt hatte, um überhaupt erst einen Schein-Zusammenhang zu konstruieren.
Die Gesundheitsbehörde hat inzwischen klargestellt, dass sie mit ihrer Mitteilung nur die Risiken von Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern herausstellen wollte: “Wir haben nicht behauptet, dass Soziale Netzwerke den Anstieg in der Zahl von Syphilis-Fällen verursachen.”
Und vielleicht lohnt es sich, am Ende den einen Satz von Kelly aus der “Sun” zu zitieren, von dem aus sich die ganze Falschmeldungsepidemie weltweit ausbreitete. Gesagt hatte er bloß: “Ich habe gesehen, dass mehrere der [von Syphilis] Betroffenen ihre Sex-Partner durch solche Sozialen Netzwerke kennen gelernt hatten.”
Das Erstaunliche ist, dass die Medien sich überhaupt noch die Mühe geben, von einer Tatsache auszugehen, die sie dann verdrehen, verfälschen und übertreiben, anstatt sich gleich Geschichten komplett selbst auszudenken — wenn ihnen doch so offenkundig egal ist, ob es stimmt, was sie berichten. Aber vielleicht wäre gerade das Selbstausdenken viel mehr Arbeit als die routinierte Methode der Produktion falscher, aber gut verkäuflicher Geschichten.
PS: So illustiert die “Sun” ihren Service-Artikel zur Frage, woran man erkennt, sich mit Syphilis infiziert zu haben: