Der Vater einer Braut hat zur Hochzeitsfeier seiner Tochter die Bundeskanzlerin eingeladen, und nun konnte Angela Merkel leider nicht persönlich vorbeikommen, sie ließ aber immerhin eine Grußkarte an das Hochzeitspaar schicken und wünschte Braut und Bräutigam alles Gute. Da der Bräutigam 2012, also während der Wirtschaftskrise in Irland, zu einer Gruppe irischer Fußballfans zählte, die bei der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine mit einem Banner mit der Aufschrift “Angela Merkel thinks we’re at work” rumlief, ist das alles auch eine Geschichte für die “Bild”-Medien.
In “Bild am Sonntag” und bei Bild.de leiten sie den Artikel so ein:
Wirtschaftskrise, Immobilienblase, Arbeitslosigkeit und Schuldenlast. Im Sommer 2012 war Irland am Boden, das Land musste EU-Hilfen beantragen, die Einwohner wurden als Pleite-Iren verspottet.
Wer ist denn bitte so bescheuert und “verspottet” die Einwohner eines ganzen Landes, das bereits “am Boden” liegt, pauschal als “Pleite-Iren”?
Der “Bild”-Zeitung ist heute eine geniale Verknüpfung gelungen: auf der einen Seite eines der Lieblingsthemen der vergangenen Wochen (Martin-Schulz-Kritik), auf der anderen eines der Lieblingsthemen der vergangenen Jahre (Griechenland-Kritik-Bashing). In dieser Geschichte hat die Redaktion beide zusammengebracht:
Fangen wir bei Martin Schulz an. Seit bekannt ist, dass Schulz als SPD-Kanzlerkandidat bei der kommenden Bundestagswahl antreten will, schaut die “Bild”-Redaktion ganz genau, was bei den Sozialdemokraten und ihrem neuen Spitzenmann so alles schiefläuft. Natürlich ist es journalistisch völlig richtig, einen neuen Kandidaten genauer zu beobachten. Und es gibt auch mal positive Geschichte über Schulz — gerade erst veröffentlichte “Bild” Auszüge aus seiner Biografie. Vor allem aber geht es in Berichten über ihn um Ärger, Fehler, Zweifel.
Die Redaktion thematisierte gleich die “erste Wahlkampf-Panne”:
Sie dokumentierte Kritik von Experten …
… oder politischen Gegnern:
Wenn Informationen von der SPD-Website verschwanden, schrieb “Bild” darüber:
Oder wenn es von irgendwo Rügenärger für Schulz gegeben hat:
Die “Bild”-Mitarbeiter zweifelten an Schulz’ Wahlkampfthema …
… schrieben über das schwache Abschneiden der SPD bei der Wahl im Saarland, als wäre es seine Niederlage, obwohl Martin Schulz dort gar nicht zur Wahl stand …
… und entdeckten selbst bei großen Erfolgen etwas Negatives:
Und wenn nicht mal der gute, alte Fußball …
… dabei helfen kann, die aktuell hohen SPD-Umfragewerte nach unten zu bugsieren, dann muss ein neues Thema her; eines, auf das der durchschnittliche “Bild”-Leser direkt mit Schaum vor dem Mund reagiert — die “Pleite-Griechen”:
Diese Griechen-SPD-Geschichte von heute wirkt ein wenig wie die Fortsetzung der SPD-Griechen-Geschichte von Montag, als “Bild” das sozialdemokratisch geführte Nordrhein-Westfalen mit Griechenland und all den damit verknüpften Problemen in Verbindung brachte:
Die neue These der schulzwilligen “Pleite-Griechen” basiert auf Aussagen von FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff (“‘Wer Schulz für die Wahl am meisten die Daumen drückt, ist klar: Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras'”), CSU-Politiker Markus Söder (“Schließlich stehe Schulz ‘für Geldtransfers ohne Reformen zulasten des deutschen Steuerzahlers'”) sowie einem EU-Abgeordneten der griechischen Syriza, der lediglich sagt, dass es “mit einer Koalition aus SPD, Grünen und Linken” beim Thema Griechenland “weniger um ständige Bestrafungen gehen” würde.
Aus den Aussagen zweier Deutscher und eines Griechen schließt “Bild” auf ein ganzes Volk und kramt dafür das grässlichen Wort “Pleite-Griechen” raus. Wie schon vor Jahren, als dieser Begriff bereits diffamierend und stigmatisierend und spaltend war, ist er auch heute noch diffamierend und stigmatisierend und spaltend.
Kein Schlagwort symbolisiert die “Bild”-Hetzkampagne gegen Griechenland und gegen die Griechen so sehr wie “Pleite-Griechen”. Als “Bild”-Reporter Paul Ronzheimer zum Beispiel im April 2010 durch Athen lief und mit Geldscheinen wedelte, verkündete “Bild” hämisch:
Als klar war, dass in Griechenland das Geld knapp wird, schlug “Bild” vor:
Als “Bild” von Angela Merkel eine Volksabstimmung über die Griechenlandhilfen forderte, schlug das Blatt schon mal zwei Antwortmöglichkeiten auf einem “Stimmzettel” vor: „JA, schmeißt ihnen weiter die Kohle hinterher!“ und „NEIN, keinen Cent mehr für die Pleite-Griechen, nehmt ihnen den Euro weg!“:
Das verallgemeinernde, verächtliche, populistische “Pleite-Griechen” wurde zur gängigen “Bild”-Vokabel:
Dank dieser jahrelangen Konditionierung der eigenen Leserschaft, bei der ein einfaches “Pleite-Griechen” direkt ein zorniges Grummeln in der Magengegend auslösen dürfte, kann “Bild” diese Wut nun mit nur einer Schlagzeile auf neue Feindbilder projizieren.
Nachtrag, 8. April: In ihrer heutigen Ausgabe macht “Bild” direkt weiter mit dem ätzenden “Pleite-Griechen”:
Die “Welt am Sonntag” nennt Yanis Varoufakis, den griechischen Finanzminister, einen “Laien-Darsteller”. Weil er griechische Vermögen, die auf Schweizer Konten liegen und womöglich nicht versteuert wurden, unbehelligt lasse. Es handele sich um 800 Milliarden Schweizer Franken, weiß das Blatt. 800 Milliarden!
800 Milliarden Schweizer Franken (was sehr grob auch 800 Milliarden Euro entspricht), das wären mehr als dreimal so viel, wie in Griechenland insgesamt im Laufe eines Jahres erwirtschaftet wird. Das komplette Bruttoinlandsprodukt Griechenlands von drei Jahren soll auf Schweizer Konten liegen?
Die Zahl ist natürlich falsch. Sie ist sogar um den Faktor 1000 falsch. Gemeint haben die Profi-Journalisten von der “Welt am Sonntag” 800 Millionen Schweizer Franken.
Es handelt sich nicht um einen einmaligen Tippfehler. Die falsche Angabe zieht sich durch den Artikel, über dem nicht weniger als drei Autorennamen stehen: Jan Dams, Martin Greive und Sebastian Jost. Sie findet sich auch in einem Kasten und einer Infografik, unter der verlockenden Überschrift “Ein Schatz, der nur gehoben werden muss”:
Die groteske Zahl hat es in besonders gehässiger Form auch auf die Titelseite der “Welt am Sonntag” geschafft:
Und ins Editorial des stellvertretenden Chefredakteurs Beat Balzli, der hämisch schreibt:
Das Netz spottet über einen Mann, der eigentlich Athens Finanzen in Ordnung bringen soll und stattdessen wie ein Popsternchen auf jede Bühne springt. So warten etwa die Schweizer bislang vergeblich auf seinen Besuch. Im Alpenland liegen griechische Vermögen im Umfang von mindestens 800 Milliarden Franken. Die Regierung in Bern ist längst bereit für ein Steuerabkommen. Varoufakis offenbar nicht.
Die Zahl ist so unglaublich, dass die Nachrichtenagentur dpa beschloss, sie ungeprüft weiter zu verbreiten. Am Sonntagmittag meldete sie unter Berufung auf die “Welt am Sonntag”:
Nach Statistiken der Schweizer Notenbank sind rund 800 Milliarden Euro griechisches Vermögen in der Schweiz. Diese Zahl wurde Ende 2013 ermittelt. Ein großer Teil der Zinseinnahmen auf dieses Geld dürfte unversteuert geblieben sein. Mittlerweile könnte es um noch mehr Geld gehen, weil viele Griechen in der aktuellen Krise ihre Bankkonten leergeräumt haben.
Es dauerte bis 20:38, bis dpa sich – wiederum unter Berufung auf die “Welt” – korrigierte. In einer neuen Version der Meldung “(Berichtigung: Vermögenssumme im 3. Absatz korrigiert)” standen nun Millionen statt Milliarden. “Welt Online” ergänzte seinen korrigierten Artikel um den Absatz:
In einer früheren Version des Textes hieß es, nach Statistiken der Schweizer Notenbank lagerten rund 800 Milliarden Franken griechisches Vermögen in der Schweiz. Richtig ist: Es lagerten 800 Millionen Franken griechisches Vermögen in der Schweiz. Wir bitten, dieses Versehen zu entschuldigen.
Trotzdem steht die falsche Zahl heute in vielen Tageszeitungen, im “Tagesspiegel”, in der “Berliner Zeitung”, im “Hamburger Abendblatt”, in der “Rheinischen Post”, in der “Nürnberger Zeitung”, in der “Neuen Osnabrücker Zeitung”, in den “Salzburger Nachrichten” …
In all diesen Redaktionen war keinem der Journalisten, deren Beruf es ist, Artikel über Griechenland zu verfassen oder redigieren, aufgefallen, dass die Zahl von 800 Milliarden Schweizer Franken so grotesk hoch ist, dass sie gar nicht stimmen kann. Sie alle haben eine um den Faktor tausend (oder in absoluten Zahlen: um 799,2 Milliarden Schweizer Franken) zu hohe Zahl für realistisch gehalten. Oder sich nicht damit aufgehalten, das, was sie in ihre Zeitung drucken, einem Realitätscheck zu unterziehen.
Sie alle haben die irrwitzige Zahl übernommen, die aus einem Artikel der “Welt am Sonntag” stammt, der dem griechischen Finanzminister vorwarf, laienhaft zu agieren.
Jaha, so kennt man sie, die Europäische Union: Erlässt völlig “irre” Verordnungen, damit die Pleite-Griechen, die alten Penner, weiter wie verrückt Schulden machen können, auf unsere Kosten, kennt man auch.
Aus dem Plan, die Berechnung der Wirtschaftsleistungen der europäischen Länder zu harmonisieren und internationalen Standards anzupassen, macht “Bild” ein Stück, das die rassistischen Ressentiments der eigenen Mitarbeiter und der Leser bedient und weiter befördert. Dabei geht es in keiner Weise um eine Sonderregelung für die EU-Krisenländer.
Soweit, so “Bild”. Aber Brüssel-Korrespondent Dirk Hoeren hat noch mehr getrickst, um zu seiner irren Schlagzeile zu kommen. Er behauptet:
EU-Krisenländer wie Griechenland und Italien können ab 1. September ihre Schuldenstände mit einem Trick drastisch senken. Dann werden auch Einkünfte aus Betrug, Schwarzarbeit, Prostitution und der Kauf von Drogen in der Wirtschafts-Statistik erfasst!
Schuldenabbau durch Kriminalität — wie schräg ist das denn?
Der Statistik-Trick geht auf eine neue EU-Verordnung zum EU-“System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen” zurück (BILD berichtete). Danach werden in der Wirtschaftsleistung bisher nicht erfasste Bereiche künftig berücksichtigt:
* Prostitution zählt dann als “Dienstleistung”.
* Betrug, illegale Geschäfte, Schwarzarbeit sind “Produktionstätigkeiten”.
* Drogenkauf fällt unter “Individualkonsum”.
Nur: Das ist alles gar nicht neu. Illegal erwirtschaftetes Geld soll längst in die Berechnung der Wirtschaftsleistung eingehen.
Diese Tätigkeiten sind auch dann einzubeziehen, wenn sie illegal ausgeübt werden oder den Steuer-, Sozialversicherungs-, Statistik- oder anderen
Behörden verborgen bleiben.
Und:
Illegale wirtschaftliche Vorgänge sind nur dann Transaktionen, wenn alle beteiligten Einheiten an ihnen freiwillig teilnehmen. Beim illegalen Kauf, Verkauf oder Tausch von Drogen oder Diebesgut handelt es sich daher um Transaktionen, bei Diebstahl dagegen nicht.
Dirk Hoeren schreibt über diese Unterscheidung spitz: “Das nennt man wohl EU-Logik.” Okay, nennen wir es halt EU-Logik. Es ist dann halt nur keine neue EU-Logik.
Die EU hat ihre Mitgliedsländer nur gerade daran erinnert, diese Regeln auch entsprechend anzuwenden. In Deutschland zum Beispiel ist das nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes bisher nicht der Fall. Posten wie der Handel mit Drogen oder der Schmuggel von Tabak fehlten bislang in der Berechnung des Bruttoinlandsproduktes. Prostitution dagegen ist darin enthalten (sie ist ja auch nicht illegal).
Das Bundesamt schätzt, dass die Einberechnung der illegalen Aktivitäten das deutsche Bruttoinlandsprodukt nur minimal steigern werde, vielleicht um einen Zehntelprozentpunkt. Europaweit soll es aber viel mehr sein — schreibt jedenfalls Dirk Hoeren:
(…) am 1. September gibt es einen gewaltigen Pusch [sic!]. Dann wächst die Wirtschaftsleistung in der gesamten EU auf einen Schlag um rd. 2,4 % — aber nur auf dem Papier. Denn künftig werden — und das ist kein vorweggenommener Aprilscherz — auch Einnahmen aus Verbrechen und der Prostitution in der EU-Wirtschaftsstatistik berücksichtigt.
Aha, naja, klar: Andere Völker sind halt viel krimineller als die Deutschen, auch das weiß man ja als “Bild”-Macher und -Leser.
Nur dass die 2,4 Prozent, auf die die Wachstumssteigerung tatsächlich geschätzt wird, gar nicht durch die Einnahmen aus Verbrechen und Prostitution zustande kommen. Der weitaus größte Teil (1,8 Prozent) des, äh, “Puschs” entsteht dadurch, dass in Zukunft erstmals Forschung und Entwicklung als Teil des Bruttoinlandsprodukt mitgezählt werden. Das ist die tatsächliche große Umstellung, die jetzt ansteht.
Kann Griechenland also, wie “Bild”-Hetzperte Hoeren meint, aufgrund einer “irren EU-Verordnung” mit Drogen und Sex seine Schulden senken? Nun: Wie es aussieht, sind “Prostitution” und “Drogen” in Griechenland längst Bestandteil der Berechnung der privaten Konsumausgaben, also Teil des Bruttoinlandsproduktes:
Irre. In der “Bild”-Logik ist das aber natürlich eine schlechte Nachricht, weil es bedeutet, dass “die Griechen” dann ihre Schulden gar nicht mehr weiter mit Sex und Drogen senken können.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Vor dem Kollaps” (nzz.ch, Panagis Galiatsatos)
Griechische Medien und der griechische Journalismus hätten fast niemals während der vergangenen zehn Jahre warnend auf die desolate Finanzlage des Staates hingewiesen, schreibt Panagis Galiatsatos: “Ein wichtiger Grund, weshalb die Griechen so willig allerlei Verschwörungstheorien über die Pleite des Landes glauben und weshalb sie immer noch an eine schmerzlose Rückkehr zu den Verhältnissen vor der Krise glauben, liegt darin, dass niemand sie in den Jahren zuvor über die Lage des Landes aufgeklärt hatte.”
2. “Crowdsourcing im Journalismus” (kopfzeiler.org, Johannes Kuhn)
Johannes Kuhn macht sich Gedanken zur Kollaboration zwischen den Medienhäusern und ihren Lesern: “Ich glaube, dass es in der nächsten Zeit deshalb für Medienmarken im Netz darum gehen wird, aus Kunden (wieder) Sympathisanten zu machen.”
3. “‘Zeitungen werden neu erfunden'” (stuttgarter-nachrichten.de, Reimund Abel)
Ein Interview mit dem Chefredakteur von Sueddeutsche.de, Stefan Plöchinger: “Die angelsächsischen Medien haben einen Vorsprung von etwa fünf Jahren. An Zeitungen wie dem britischen ‘Guardian’ oder der ‘New York Times’ können wir sehr genau absehen, was man richtig machen kann, wenn man sich auf diese neue Welt einlässt.”
4. “Ramsch für Kinder” (plus.google.com, Torsten Kleinz)
Torsten Kleinz analysiert einen Tweet, der “Spiegel Online” vorhält, “Bashing gegen die Schlecker-Mitarbeiter/innen” zu betreiben.
5. “Grandios, so was als Ausländerin zu leisten” (spiegel.de, Egzona Hyseni)
Egzona Hyseni beschreibt ihr Dasein als Kosovo-Albanerin in Deutschland: “Ich habe zwei Kulturen und den Ausländerbonus – auch wenn er manchmal ein Malus ist. Wenn ich gute Leistungen bringe, werde ich doppelt gelobt, bei schlechten schäme ich mich doppelt so sehr.”
6. “UN-Gesandter Kofi Annan ruft Waffenruhe zwischen 16 EM-Streitparteien aus” (der-postillon.com)
“‘Es darf nicht sein, dass Differenzen darüber, wer die beste Mannschaft Europas hat, ständig eskalieren und immer mehr Menschen mitreißen’, sagte der ehemalige UN-Generalsekretär am Montag, nachdem in den Abendstunden ein etwa 90-minütiges Gefecht zwischen Truppen aus der Ukraine und Schweden ausgebrochen war, bei dem wiederholt scharf geschossen wurde.”
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Journalisten, Rabatte und Moral” (berliner-zeitung.de, Götz Aly)
Während sie von Politikern “vollständige Transparenz” fordern, erfreuen sich “zehntausende Medienleute in aller Stille ihrer Rabatte und kleinen Vorteile”. “Der Fall Wulff ist eine schöne Gelegenheit, vor der eigenen Türe zu kehren.”
2. “Spiegel-Online & Co. zunehmend stärker in der Kritik” (ef-magazin.de, Arne Hoffmann)
Arne Hoffmann fasst verschiedene Kritiken am Verhalten von Journalisten in der Causa Wulff zusammen. “Wenn jeder nur noch das sagen könnte, was juristisch absolut wasserdicht ist und am besten unter Zitat der jeweiligen Rechtsgrundlage, dann könnten wir alle nur schweigen oder über Anwälte kommunizieren.”
3. “Die Krise in der Medienbranche ist noch größer als die Krise insgesamt” (dradio.de, Susanne Burg)
Die Journalistin Kaki Bali spricht über die Situation der Medien in Griechenland: “Die Zeitung meiner Jugend, die ich immer gelesen habe, die ist seit einem halben Jahr pleite. Die Leute versuchen, die noch zu publizieren, aber die sind seit dem August nicht bezahlt. Ein Fernsehsender, der rund um die Uhr Nachrichten praktisch hatte, ist auch pleite, und die Leute sind seit April nicht mehr bezahlt.”
4. “Innenministerium: Keine Verbote von iPhone und Blackberry” (heise.de, rei)
“Innenminister verbannt iPhones”, schreibt “Bild”. Das deutsche Bundesinnenministerium widerspricht: “Diesen Geräten bleibt nach Angaben vom BMI-Sprecher Philipp Spauschus innerhalb des Ministeriums lediglich der Zugang zum Regierungsnetz verwehrt, da sie die erforderliche Sicherheitslösung SiMKo 2 nicht unterstützen. Welche Geräte die Mitarbeiter privat mitführen, bleibt nach Angaben des Sprechers ihnen selbst überlassen.”
Schon früh hatte Ronzheimer “die Anti-Stimmung vieler Griechen zu spüren” bekommen, aber jetzt ist alles anders:
Ich, der BILD-Reporter, bin seit Ausbruch der Krise vor fast zwei Jahren insgesamt mehrere Monate im Land unterwegs gewesen, schrieb Klartext über die Zustände. BILD wurde fast täglich zum Thema in den griechischen Medien, im populären TV-Talk von Tatiana Stefanidou (Marktanteil 20 %) war ich 45 Minuten lang Gast. Zu Beginn der Krise wurde BILD mit Hass überzogen – heute bekommen wir Zustimmung!
Es folgen sechs überwiegend positive Zuschriften, die Ronzheimer von Griechen bekommen hat.
Oder in den Worten von Paul Ronzheimer:
Lesen Sie, was die Pleite-Griechen jetzt dem BILD-Reporter schreiben.
Die Kommentatoren bei Bild.de waren offenbar nicht ganz so begeistert von Ronzheimers Arbeit:
Aber “Bild” wäre nicht “Bild”, wenn nicht auch beim Abfeiern der eigenen Arbeit noch etwas schief gegangen wäre:
Das stimmte so offenbar nicht, wie Bild.de überraschend klarstellte:
Ganz spurlos geht die Kritik einiger Medien und Politiker an der “Bild”-Hetzkampagne gegen Griechenland nicht vorbei. Zumindest erachteten es die beiden Redakteure Nikolaus Blome und Paul Ronzheimer, die sich regelmäßig mit den “Pleite-Griechen” befassen, für notwendig, sich zu rechtfertigen.
Statt Selbstkritik zu üben, wie es in diesem Fall berechtigt wäre, holten die beiden vergangene Woche aber lieber zum Rundumschlag aus, bei dem das “leider” in der Überschrift vor Schadenfreude nur so trieft:
Anhand von neun äußerst willkürlich gewählten “Bild”-Aussagen über Griechenland aus dem Jahr 2010 versuchen Blome und Ronzheimer die Hetze zu rechtfertigen.
Und was soll man sagen? Natürlich hatte “Bild” nicht recht, aber die Aufzählung passt perfekt ins Bild der ganzen verlogenen Kampagne.
“Bild” zum Thema Privatisierungen:
“Verkauft doch eure Inseln!” schreibt BILD im März 2010.
Bundestagspräsident Norbert Lammert meint daraufhin, sich beim griechischen Parlamentspräsidenten entschuldigen zu müssen. (…)
Im Mai 2011 schreibt der britische “Economist” über den damaligen BILD-Bericht: “Damals klang es nach krassem Populismus. Heute ist es die Aussage der europäischen Finanzminister.”
Damals wie heute ist diese Forderung von “Bild” krasser Populismus — zumal die volle Schlagzeile lautete: “Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen …und die Akropolis gleich mit” (letztere Forderung wiederholte “Bild” zur Sicherheit vor zwei Wochen). Man stelle sich den Aufschrei hierzulande vor, wenn Deutschland aufgefordert würde, Teile des eigenen Staatsgebietes oder ein Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor zu verkaufen.
Michalis Pantelouris bringt es in einem Kommentar in seinem Blog “Print Würgt” auf den Punkt:
Für Griechen, die Deutsche noch als Besatzer kennen, ist das emotional hochbelastet, und das zu recht.
“Bild” weiter:
Tatsächlich hat Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen öffentlich kritisiert, dass Griechenland noch “für keinen Euro privatisiert hat”.
Nun will Griechenland im Höchsttempo 50 Mrd. Euro Staatsbesitz verkaufen (privatisieren): Beteiligungen an Konzernen – und Immobilien aus Staatsbesitz.
Nur weil Asmussen das sagt, ist es noch lange nicht richtig. Es mag dem Staatssekretär vielleicht nicht schnell genug gehen, aber seit Beginn der Krise wird in Griechenland privatisiert, was das Zeug hält, wovon auch deutsche Firmen wie etwa die Telekom profitieren.
“Bild” zum Thema Austritt aus der Eurozone:
“Tretet aus, Ihr Griechen!”, kommentiert BILD im April 2010.
Die Idee wird heftig attackiert. (…)
Ein Jahr später sieht es anders aus. In einem vertraulichen Papier des Bundesfinanzministeriums wird die Austritts-Variante ernsthaft diskutiert.
Viele Wirtschaftsexperten sind dafür, u. a. Ifo-Chef Sinn sagt: “Der Euro-Austritt wäre das kleinere Übel.”
Dass “Bild” alles daran setzt, um Stimmung für einen Austritt oder gar Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone zu machen, hat BILDblog erst kürzlich aufgezeigt. Aber: Auch wenn “Bild” etwas anderes behauptet, sind sich nahezualleWirtschaftsexperteneinig, dass ein Austritt Griechenlands nicht in Frage kommt. Auch Ifo-Chef Sinn betonte hinsichtlich seiner Äußerung, der Euro-Austritt wäre das kleinere Übel:
Dies sei aber keine Empfehlung gewesen, präzisiert er nun, er habe lediglich die Möglichkeiten aufgezählt; die Journalisten neigten dazu, Dinge zu überspitzen.
“Bild” zum Thema Pleite:
“Ihr Pleite-Griechen”, so nennt BILD im Frühjahr 2010 das Land, das um EU-Milliarden bitten muss.
Das will die griechische Regierung natürlich nicht wahrhaben. (…)
Heute klingt das ganz anders, dramatisch.
Finanzminister Giorgos Papakonstantinou warnte Anfang der Woche vor einem Ausbleiben weiterer Kredit-Milliarden: “Wenn das Geld bis Ende Juli nicht kommt, müssen wir die Rollläden runterlassen. Der Staat wird dann alle Zahlungen einstellen.” Das nennt man Staatspleite.
Auch wenn “Bild” das offensichtlich anders sieht: Das Problem bei einer Formulierung wie “Pleite-Griechen” ist weniger die Frage, ob Griechenland letztlich irgendwann wirklich pleite ist, sondern die Tatsache, dass es sich um eine verallgemeinernde Beleidigung handelt, bei der ein komplettes Volk stigmatisiert wird — und zwar immer und immer wieder. Eine Suche auf Bild.de ergibt 125 verschiedene Artikel, in denen der Begriff “Pleite-Griechen” verwendet wird.
Zudem fehlt der Hinweis, dass Griechenland bis heute in jedem einzelnen Fall jeden einzelnen Kredit pünktlich bedient hat und dass Deutschland sowie deutsche Banken durch Kredite und Investitionen in Griechenland bislang nur Geld verdient haben. Das nennt man eben nicht Staatspleite.
“Bild” zum Thema Misswirtschaft:
“So verbrennen die Griechen die schönen Euros!”, lautet Anfang März 2010 der Titel einer Auflistung von Steuerhinterziehungen, Korruption, Privilegien, die exemplarisch für Griechenlands Strukturkrise stehen.
Viele Politiker in Deutschland halten das für überzogen. SPD-Chef Sigmar Gabriel: “Es ist ein Unding, dass die Politik auf die Anti-Griechenland-Kampagne der BILD-Zeitung nicht reagiert hat, die Kanzlerin und der Außenminister vorweg.”
Gabriel reagierte damals nicht darauf, dass “Bild” griechische Missstände anprangerte, sondern er kritisierte Politiker von Union und FDP, die “Sprüche wie ‘Kein Cent den Griechen’ oder den Vorschlag, die Griechen sollen ihre Inseln verkaufen” von “Bild” übernommen hätten.
“Bild” weiter:
Ein Jahr später sind nicht wenige der kostspieligen Privilegien und Sonderleistungen für Staatsbedienstete (jeder 4. Arbeitnehmer) zumindest offiziell zusammengestrichen.
Der Schuldenberg des Landes ist dennoch schneller gewachsen als befürchtet. Die Strukturkrise Griechenlands ist nicht überwunden.
Inwiefern “Bild” in diesem Fall “leider recht” hatte oder nicht, ist irgendwie nicht erkennbar. Dass es in Griechenland gerade zu Beginn der Schuldenkrise viele Missstände gab, hat weder Gabriel noch sonst jemand bestritten. Kritikwürdig ist jedoch, wie “Bild” einzelne Probleme herausgreift und aus diesen heraus eine allgemeine mit Gier gepaarte griechische Sparunfähigkeit konstruiert (“… lesen Sie mal, was die sich alles leisten”). Darüber, dass die OECD Griechenland erst vor kurzem bescheinigte, so konsequent zu sparen wie kein anderes Land, haben bislang übrigens weder Blome noch Ronzheimer berichtet.
“Bild” zur Zukunft Griechenlands:
Griechenland ist ein “Fass ohne Boden”, schreibt BILD im Mai 2010.
Doch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hält dagegen: Er erwarte nicht, dass Griechenland über die jetzt beschlossenen (110 Mrd. Euro) Kredite hinaus weitere Finanzhilfen benötigt, sagte er in den ARD-“Tagesthemen”.
Inzwischen wird unter den EU-Finanzministern offen ein neues EU-Kreditpaket von zusätzlich 60 Mrd. Euro diskutiert.
“Bild” hat tatsächlich recht damit, dass die erste Finanzhilfe von 110 Milliarden Euro nicht ausreicht. Der Begriff “Fass ohne Boden” suggeriert jedoch, dass dieses Geld einfach verloren ist. Einmal mehr unterschlägt die Zeitung, dass Griechenland bislang alle Kredite bedient hat und dass Deutschland an dem “Fass ohne Boden” bis heute in Form von Zinsen fleißig mitverdient.
“Bild” über die Rückzahlungsfähigkeit Griechenlands:
“Sehen wir unser Geld jemals wieder?”, fragt BILD im April 2010. (…)
Premierminister Georgios Papandreou antwortet selbstbewusst: “Wir werden jeden Cent zurückzahlen.”
Doch es kommt anders. IWF, EU-Kommission und Europäische Zentralbank ziehen die sog. “Schuldentragfähigkeit” Griechenlands immer stärker in Zweifel.
Und noch mal: Bislang hat Griechenland jeden Cent zurückgezahlt. Ob das auch in Zukunft so sein wird, lässt sich schwer sagen, aber bislang ist “Bild” auch hier wieder im Unrecht.
“Bild” zur Effektivität der Finanzhilfen:
“Kann unser Geld die Griechen überhaupt noch retten?”, lautet eine andere BILD-Frage im Mai 2010.
Wieder hagelt es Kritik. (…)
Ein Jahr später ist allerdings klar, dass Griechenlands Anstrengungen nicht ausreichen.
Hier lohnt es sich, den besagten Artikel noch einmal zu lesen. Anders als von Blome und Ronzheimer dargestellt, wurde genau dieser Bericht von niemandem kritisiert: Er war nämlich einer der wenigen einigermaßen objektiven und unaufgeregten. Die Frage, ob “unser Geld” die Griechen überhaupt noch retten kann, hatte “Bild” ausnahmsweise völlig korrekt beantwortet:
Das kann niemand sagen.
“Bild” über das Verhältnis zur Politik der Bundesregierung:
“Verkauft uns nicht für dumm!”, fordert BILD von der Regierung in einem Kommentar Anfang Mai 2010.
Zuvor hatte u. a. Kanzlerin Merkel das Hilfspaket für Griechenland im Bundestag als “alternativlos” dargestellt.
Mit den jetzt diskutierten verschiedenen Formen von Umschuldung bzw. Schuldenerlass wird aber klar, dass es doch Alternativen gibt – und von Anfang an gab.
Dieser Punkt geht anstandslos an Nikolaus Blome, der neben einem Euro-Austritt auch die Umschuldung und einen Schuldenerlass gefordert hatte — letzteren allerdings erst Mitte Mai 2011.
Der letzte Punkt und irgendwie auch das Fazit von “Bild” lautet:
“Griechenland versinkt im Chaos”, schreiben BILD-Reporter im Sommer 2010 nach einer Recherche-Reise.
In Deutschland will das niemand hören. Der Ex-Wirtschaftsweise Bert Rürup z. B. sagt: “Ich halte die Griechen in ihrer Mehrheit für einsichtig und lernfähig.”
Doch die Krise scheint das Land zu zerreißen.
Die “Recherche-Reise”, von der hier die Rede ist, diente allerdings nur bedingt dazu, die Hintergründe der griechischen Schuldenkrise zu recherchieren. Im Mittelpunkt standen stattdessen hämische Kommentare und plakative Aktionen wie diese:
Mit der Drachmen-Rückgabeaktion, die man schwer mit Journalismus verwechseln kann, brüstete sich Ronzheimer noch ein halbes Jahr später. Wie traurig es aussieht, wenn die Ereignisse einen solchen Schaumschläger dazu zwingen, doch einmal ernsthaft zu berichten, sehen Sie hier: Chaos in Griechenland – BILD-Reporter berichtet aus Athen
Bei einer solchen Ansammlung von willkürlichen Behauptungen, Lügen, Halbwahrheiten und Eitelkeiten fällt ein Fazit schwer. Am besten trifft es wohl auch hier Michalis Pantelouris, der schreibt:
Insgesamt: Bild hatte nicht recht und hat nicht recht. Stattdessen haben sie eine Kampagne an der Grenze zur Volksverhetzung gefahren (Michael Spreng), und ich möchte hinzufügen, dass nicht immer klar war, auf welcher Seite der Grenze.
Griechenlands Schuldenproblem verschärft sich — die Bundesregierung denkt daher über neue Schritte nach: Wie die “Zeit” und die Nachrichtenagentur Reuters berichten, arbeitet das Finanzministerium an einem Notfallplan für eine Pleite Griechenlands. “Sie haben begonnen, das Undenkbare zu denken”, sagte ein Insider zu Reuters. Deutschland wolle dies nicht, stelle sich aber auf eine solche Situation ein. “Sie wären sonst nicht vorbereitet auf die Folgen für die Banken.”
Diese Zeilen sind viereinhalb Jahre alt. Und ob der Insider nun recht hatte oder nicht — es wäre doch zumindest fahrlässig, wenn sich die Bundesregierung nicht ständig auf alle Eventualitäten einstellen würde, also auch auf eine faktische Insolvenz Griechenlands.
Wie auch immer. Zehn Monate später, im November 2011, schrieb dann auch „Bild“:
Merkel lobte [den damaligen Griechenland-Premier] Papandreou, stellte weitere Hilfen in Aussicht. Doch in Wirklichkeit geht die Bundesregierung nach BILD-Informationen inzwischen davon aus, dass Griechenland pleitegehen wird – und zwar warscheinlich [sic] noch vor Weihnachten, wenn auch die nächste Hilfs-Rate aufgebraucht ist.
„Wir versuchen, eine Insolvenz Griechenlands zu vermeiden. Ich kann das aber nicht ausschließen“, sagte Merkel am Nachmittag laut Teilnehmern in der Sitzung der Fraktion von CDU/CSU.
Insofern übersetzt man das “Jetzt” in der heutigen (!) “Bild”-Schlagzeile also am besten mit: “seit vier Jahren”.
Sie hat monatelang um Griechenland gekämpft. Doch seit vorletzter Nacht weiß Angela Merkel (60, CDU): Es war vielleicht umsonst …
Gut zwei Stunden verhandelte die Kanzlerin in Brüssel mit Frankreichs Staatspräsident François Hollande (60) und Griechen-Premier Alexis Tsipras (40).
Als das Trio gestern um 0.20 Uhr auseinanderging, war klar, was die deutsche Regierungschefin bisher nie wahrhaben wollte: Die Staatspleite Griechenlands ist womöglich nicht mehr aufzuhalten!
Darüber wird in vertraulicher Runde in Berlin jetzt offen gesprochen.
Aus, vorbei, GREXIT …!
Die einzige Quelle für die Behauptung ist wieder ein Insider, ein „Top-Diplomat“, der gesagt haben soll: „Auch die Kanzlerin weiß jetzt, dass die Zeit nicht mehr reichen wird …!“
Obwohl es da ja noch einen kleinen Haken gibt, wie “Bild” am Ende zugeben muss:
Eine letzte Frist hat Athen noch: Kommenden Donnerstag treffen sich in Brüssel die Finanzminister der Euro-Zone zur entscheidenden Sitzung. Sie wollen dann ein Konzept sehen, das bereits vom griechischen Parlament verabschiedet ist.
Egal, “Bild” hat trotzdem schonmal den Sekt kaltgestellt und ihn jetzt endgültig ausgerufen, den
Nachtrag, 13 Uhr: Aber im deutschen Medienbetrieb ist bekanntlich keine Meldung alt oder falsch genug, als dass sich nicht doch irgendwer finden würde, der sie blind abschreibt.
Die dpa vermeldete heute pünktlich um Mitternacht:
Berlin (dpa) – Nach einem Bericht der «Bild»-Zeitung bereitet sich Berlin auf eine Staatspleite Griechenlands vor.
Die Agentur zaubert sogar noch ein paar zusätzliche Quellen aus dem Hut:
Unter Berufung auf mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen berichtet die Zeitung (Freitag), es gebe konkrete Beratungen, was im Falle einer Pleite zu tun sei.
„Mehrere mit den Vorgängen vertraute Personen“? Wir haben (wenn überhaupt) nur eine gezählt: den angeblichen Insider.
Auch Reuters sprach 20 Minuten später von „mehrere[n] mit den Vorgängen vertraute[n] Personen“ — und titelte:
Und schwupps — wird der alte Hut wieder überall als neu verkauft:
Bei FAZ.net finden sie zwar immerhin, dass es „wenig plausibel“ erscheine, „dass die deutsche Regierung sich jetzt erstmals mit einem solchen Szenario befasst“ — die „Bild“-Geschichte haben sie aber trotzdem mal abgeschrieben:
Derweil will die Bild-Zeitung erfahren haben, dass nun auch die deutsche Kanzlerin eine Staatspleite Griechenlands nicht mehr ausschließt.
Nachtrag, 15.05 Uhr: Nachdem sich die dpa über zwölf Stunden lang auf “Bild” verlassen hatte, ist ihr inzwischen doch noch aufgefallen, dass die vermeintliche Neuigkeit gar keine ist. Die aktuellste Meldung zum Thema (erschienen um 12.49 Uhr) ist überschrieben mit:
Endlich hat die „Bild“-Zeitung ein neues und von nun an bis in alle Ewigkeit gültiges Label für Yanis Varoufakis gefunden.
Bislang war sich das Blatt selbst nicht ganz einig, ob es den griechischen Finanzminister nun als „Griechen-Raffke“ bezeichnen soll oder doch lieber als „Radikalo-Griechen“ oder als „lederbejackten Rüpel-Rocker“ oder als „Posterboy-Finanzminister“ oder als „Griechenlands Radikalo-Naked-Bike-Rider“. Aber jetzt!
Jetzt ist er der Lügen-Grieche. Jeder kann ihn jederzeit darauf reduzieren: „Mister Stinkefinger“.
Ja, das steht da wirklich, und wir können nur erahnen, wie schwer es „Bild“-Reporter Peter Tiede gefallen sein muss, den Artikel nicht noch mit einem „HURRA!“ zu beginnen. Für ihn und „Bild“ steht fest: Varoufakis hat sich mit der Finger-Nummer endlich und endgültig selbst „zur Strecke gebracht“. Darum ist der heutige Artikel auch ein „BILD-Nachruf [!] auf Athens bekanntesten Selbstzerstörer“.
So schnell kann es gehen. Raketen-Aufstieg. Turbo-Abstieg.
Peinliche Nummer statt cooler Typ. (…)
Denn wer Yanis Varoufakis (53) sieht, sieht nun immer auch den Stinkefinger. Wer ihm zuhört, der hört nun auch immer „Stick the Finger to Germany!“ – egal, was er sagt. Er könnte auf ewig schweigen, sich die linke Hand abhacken – der Mittelfinger, den er 2013 auf einer Konferenz in Zagreb gen Deutschland reckte, wäre noch da.
Schließlich hat die „Bild“-Zeitung auch hart daran gearbeitet:
Auch andere Medien und Plattformen – vor allem Günther Jauchs Talkshow im Ersten – haben eifrig dazu beigetragen, den Finger in die Köpfe der Leser und Zuschauer zu prügeln. Seit Tagen wird er nicht wie das behandelt, was er ist — eine banale Randnotiz –, sondern zum wilden „Politikum“ hochgejazzt.
Um es nochmal zusammenzufassen: Vor zwei Jahren, als Varoufakis noch kein Minister, aber scharfer Kritiker der griechischen Regierung war, sprach er bei einer Veranstaltung darüber, dass er drei Jahre zuvor, also 2010, die damaligen Bedingungen, die von Deutschland und Europa für die Griechenland-Hilfe gestellt wurden, abgelehnt hätte. Stattdessen hätte er, so wie Argentinien, den Weg in den Staatsbankrott gewählt und Anfang 2010 erklärt, dass Griechenland pleite ist — und Deutschland damit „den Finger gezeigt“ und gesagt: „Jetzt könnt Ihr das Problem alleine lösen“.
Oder wörtlich:
My proposal was that Greece should simply announce that it is defaulting — just like Argentina did — , within the Euro, in January 2010, and stick the finger to Germany and say: „Well, you can now solve this problem by yourself.“
(Ein längeres Transkript der Rede samt Anmerkungen hat „Spiegel Online“ hier veröffentlicht.)
Anders gesagt: Varoufakis hat „uns“ den Finger gar nicht gezeigt. Also faktisch schon, aber gemeint war er bloß hypothetisch („hätte ihn zeigen sollen“), und zwar nicht in Richtung der deutschen Steuerzahler, sondern der deutschen Banken. Und er bezog sich nicht auf die Gegenwart, sondern auf 2010, als Varoufakis noch gar nicht Minister war und Griechenland noch keine Kredite bekommen hatte. Letzteres ist insofern wichtig, als “Bild” und andere Medien gerne suggerieren, der Finger sei eine Reaktion auf die Hilfspakete gewesen, nach dem Motto: Wir geben denen Milliarden — und kriegen dafür den Stinkefinger! Was Varoufakis aber (vereinfacht gesagt) eigentlich meinte, ist: Wenn man Euch den Finger damals gezeigt hätte, hättet Ihr womöglich gar nicht erst so viele Milliarden ausgeben müssen.
Das alles fanden die Redaktion von „Günther Jauch“ und die „Bild“-Zeitung aber entweder zu kompliziert oder zu unknallig für ihre Zuschauer und Leser, darum erwecktensieden Eindruck, die „drastische Geste“ („Bild“) beziehe sich auf die Gegenwart oder solle Deutschland beleidigen. Womöglich haben sie die Sache auch ganz bewusst verzerrt dargestellt, um Varoufakis schlecht dastehen zu lassen, was zumindest für “Bild” bei Weitem nicht das erste Mal wäre.
Allerdings trägt Varoufakis auch eine Mitschuld daran, dass die Sache heute immer noch ein Thema ist. Bei Günther Jauch behauptete er sofort, das Video sei gefälscht oder manipuliert („doctored“) worden und sagte: „I’ve never given the finger ever.“
Die Redaktionen von „Jauch“ und „Bild“ ließen das Video daraufhin von sogenannten Experten auf seine Echtheit prüfen. Ergebnis: Kein Hinweis auf eine Fälschung erkennbar. Auch Zeugen wurden aufgetrieben, die bei der Veranstaltung damals dabei waren und bestätigen konnten, dass der Finger zu sehen gewesen sei.
Denkbar ist nun aber auch, dass Varoufakis mit „manipuliert“ nicht das Video an sich meinte, sondern den irreführenden Einspieler bei Günther Jauch. So würde dann auch dieser Tweet Sinn ergeben, in dem Varoufakis einen Tag nach der Sendung das vollständige (und damit “unverfälschte”) Video der Rede selbst veröffentlichte:
Aber eine solche Interpretation kommt für die “Bild”-Zeitung natürlich nicht infrage. Für sie ist Varoufakis’ Reaktion nur eins: der Beweis dafür, dass er ein rotzfrecher Lügner ist.
In diesem Artikel (heute erschienen) gibt sich Peter Tiede dann auch keinerlei Mühe, den Kontext des Stinkefingers auch nur annähernd zu erklären. Der Leser erfährt bloß, dass Varoufakis den Mittelfinger 2013 “gen Deutschland reckte” und hinterher behauptete, das Video sei manipuliert worden. Ach, und natürlich, dass Varoufakis, der “Problem-Minister” und “Lügen-Grieche”, “nicht der sein will, der er ist”, und dass dieser “coole Typ ohne Schlips und mit Hemd über der Hose”, der “statt Dienstwagen 1300er Yamaha fuhr” und sich von “Yannis” in “Yanis” umbenannte (“Weil fast jeder zweite Mann in Griechenland ‘Yannis’ heißt, und Yanis mit einem ‘n’ da schon etwas Besonderes ist”), sich “selbst zu Kopf gestiegen ist”. Umso beruhigender, dass wenigstens die deutschen Journalisten auf dem Teppich bleiben.
Nachtrag, 20. März: Der Stinkefinger ist übrigens nicht von Jan Böhmermann & Crew in das Video hineinmontiert worden, wie sie seit Mittwochabend behaupten. Tatsächlich war #varoufake — zumindest spricht inzwischen alles dafür — ein geschickter Fake-Fake. Und falls Sie sich jetzt nur fragend am Kopf kratzen: Bitte einmal hier oder hier oder hier entlang.