1. Hallo Leser, noch da? (kontextwochenzeitung.de, Rainer Stephan)
Rainer Stephan hat sich Gedanken zum Medienwandel gemacht und zieht einen interessanten historischen Vergleich: “An wen erinnern wir uns, wenn wir an große deutsche Publizisten denken? An Maximilian Harden, der sich im Untertanenklima des deutschen Kaiserreichs nicht scheute, den Monarchen persönlich in die Schranken zu fordern. An Karl Kraus — als die tonangebenden Geistesgrößen 1914 unisono den Krieg begrüßten, überzog er sie unnachgiebig mit seinen Wut- und Intelligenztiraden. Weil die großen Zeitungen das nicht ertrugen, gründeten Harden wie Kraus kurzerhand eigene Blätter, “Die Zukunft” und “Die Fackel”, die sie praktisch im Einmannbetrieb gestalteten. Sie, und nicht die heutigen Leitmedien, sind die Vorgänger der kritischen Blogger und Youtuber.”
2. “Die nächsten Monate werden supergefährlich” (sueddeutsche.de, Martin Bernstein)
Der Journalist Robert Andreasch ist für seine jahrelange Dokumentation der rechtsextremen Szene mit dem Publizistikpreis der Stadt München ausgezeichnet worden. Andreasch geht seiner Tätigkeit bereits seit mehr als 25 Jahren nach und ist dabei sowohl ins Visier von Neonazis als auch Verfassungsschutz geraten.
Weiterer Lesetipp: Drohbriefe an Journalisten: ABC-Alarm beim WDR Studio Dortmund (wdr.de).
3. Der Nutzer wünscht sich einen Kiosk im Netz (faz.net, Nora Sefa)
Die Landesanstalt für Medien NRW hat Menschen zur “Zahlungsbereitschaft für digitaljournalistische Inhalte” befragt. Von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Befragung wurde die Idee einer allumfassenden Kiosk-Lösung geäußert, die Inhalte verschiedener Medienhäuser zum Einzelabruf anbietet. Kommentar des “6 vor 9”-Kurators: Die Befragten mögen sich ein derartiges Angebot wünschen, ob sie es nutzen, ist eine andere Frage. Bemühungen in dieser Richtung blieben in der Vergangenheit erfolglos (“Blendle”). Und auch “Readly” mit seiner Magazin-Flatrate tut sich noch schwer in Deutschland.
4. Wenn der Mensch mit der Maschine: die Zukunft des Journalismus ist hybrid (medienwoche.ch, Adrian Lobe)
Der US-Journalist Nicholas Diakopoulos hat ein Buch zur Automatisierung des Journalismus geschrieben (“Automating the News”). Adrian Lobe hat sich das Buch angeschaut und fasst die wichtigsten Erkenntnisse daraus zusammen.
5. Lizenz zum Lesen, oder auch nicht (taz.de, Helena Werhahn)
Stell dir vor, dein Buchhändler bricht nachts in dein Haus ein, entwendet einige deiner Bücher und schleicht sich wieder aus dem Haus. Was in der Realwelt schwer vorstellbar ist, praktiziert derzeit Microsoft mit dem Einstellen seiner E-Book-Sparte. Microsofts E-Book-Kunden können nicht nur keine weiteren Bücher erwerben, es gehen auch alle in der Vergangenheit erworbenen Bücher verloren. Der deutsche Buchhandel hätte sich kein besseres Szenario zur Bewerbung des klassischen Buchs ausdenken können.
6. Presserat: “Bild”-Artikel über Ausgewogenheit von “Bild” zu einseitig (uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Der Deutsche Presserat stellt nach einer Beschwerde von “Übermedien” fest, dass der “Bild”-Artikel über die Ausgewogenheit von “Bild” zu unausgewogen war, und spricht einen “Hinweis” (PDF) aus. “Bild”-Chefredakteur Julian Reichelt gibt sich wie gewohnt uneinsichtig. Stefan Niggemeier dröselt den Vorgang auf.
1. Ein Drittel aller Rügen wegen Schleichwerbung (deutschlandfunk.de, Silke Ballweg, Audio, 5:00 Minuten)
Der Presserat hat seine Jahresbilanz vorgelegt: In den Beschwerden beim Kontrollorgan der deutschen Printmedien sei es im vergangenen Jahr besonders oft um Schleichwerbung gegangen. Aber auch die Herkunftnennung von Tätern und die Berichterstattung über den G20-Gipfel hätten zu vielen Beschwerden und Rügen geführt.
2. Der beste Rundfunkbeitrag aller Zeiten! (kanzleikompa.de)
Die Bestimmung von Ex-Staatssekretär Eumann zum gutbezahlten Direktor der rheinland-pfälzischen Landesmedienanstalt verlief auf eine demokratisch recht zweifelhafte Art: Eigentlich als „Wahl“ deklariert, handelte es sich eher um eine Kungelei, bei der es nur einen einzigen Kandidaten gab. Medienrechtler Markus Kompa wollte sich damit nicht abfinden und bewarb sich in einer subversiven Protestaktion selbst um das Amt. Das Verwaltungsgericht ließ ihn abblitzen. Kompa sammelt nun per Crowdfundingaktion Geld, um beim Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz Beschwerde einlegen zu können.
3. «Die Zeit»: zweimal minus, einmal plus (infosperber.ch, Christian Müller)
“Infosperber”-Autor Christian Müller ist genervt von Maxim Billers „Zeit“-Beiträgen: „Ja, natürlich, Maxim Biller darf schreiben, was er will. Er darf mir auch einen Brief schreiben, ich gebe ihm gerne meine postalische Adresse. Aber soll ich für ein Blatt – ich bin seit Jahrzehnten Abonnent der «Zeit» – noch Geld ausgeben, wenn diese Zeitung einen Brief an mich abdruckt, in dem ich persönlich «Heuchler» genannt und des «Provinzialismus» beschuldigt werde? Muss ich mich wirklich von der «Zeit» unter die Arschlöcher einreihen lassen?“
5. „Lasst mehr Frauen unsere Filme machen!“ (deine-korrespondentin.de, Helen Hecker)
Frauen spielen im Filmbusiness immer noch eine untergeordnete Rolle: Bei den 100 erfolgreichsten Hollywood-Produktionen des letzten Jahres führten zu 92 Prozent Männer die Regie, die Drehbücher wurden zu neunzig Prozent von Männern verfasst. Die Zahlen in Deutschland sind ähnlich schlecht: Im Bereich Kamera kommen Frauen auf einen Anteil von 15 Prozent, beim Filmton auf gerade mal neun Prozent. Eine neue Initiative fordert mehr Gleichberechtigung im Filmgeschäft und eine 50-Prozent-Quote.
6. Ohne Skrupel: “Bild Plus” ködert mit Gewalt (ndr.de, Sabine Schaper & Sophia Stritzel, Video, 4:16 Minuten)
Aus traurigem Anlass war BILDblogger Moritz Tschermak beim Medienmagazin “Zapp” virtuell zu Gast: Bild.de hatte ein Video verbreitet, in dem ein Mädchen nach einer Messerattacke um ihr Leben fleht, und das Video sogar als Abo-Köder verwendet.
Die Grafik stammt aus einer internen Selbstanfeuerungs-App der “Bild”-Medien, in der ganz unironisch solche Sätze stehen wie „Wir brennen für die Wahrheit“ oder „Wir respektieren Menschen“.
Auch “Bild”-Mann Paul Ronzheimer ist natürlich zu sehen („Wir berichten auf Augenhöhe. Ungeschönt und mit unverstelltem Blick auf das Wesentliche.“) und eben die Grafik zu den Rügen, mit denen die „Bild“-Zeitung sich brüstet, als wären es in Wirklichkeit Auszeichnungen für ihren „unbequemen“ „Journalismus“. Was tatsächlich dahintersteckt, können Sie unter anderem hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier oder hier nachlesen.
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Insgesamt waren beim Presserat fast 20 Beschwerden zu der Kampagne eingegangen. Viele Beschwerdeführer kritisierten die Formulierung „die gierigen Griechen“, mit der ein ganzes Volk pauschal diffamiert werde. Außerdem sei der Aufruf, sich den Artikel auszudrucken und ein Selfie damit zu posten, ein Aufruf an die Leser, gegen die Griechen zu hetzen.
Der „Bild“-Justiziar konterte in seiner Stellungnahme:
Sinn der Veröffentlichung und insbesondere der Selfie-Aktion sei gewesen, zur Beschäftigung mit dem Thema der Griechenland-Rettung und einer Meinungsäußerung anzuregen. Die primäre Aufgabe der Medien sei es, den Einzelnen so mit Informationen zu versorgen, dass er sich seine Meinung bilden könne.
Eben. Dass die „Bild“-Zeitung (gerade zum Thema Griechenland) immer nur die Informationen liefert, die man braucht, um sich ihre Meinung zu bilden, ist natürlich bloß Zufall.
Darüber hinaus sei es gewollt und für das Bestehen eines demokratischen Staates unerlässlich, dass sich der Bürger selbst politisch betätige und durch Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit am demokratischen Willensbildungsprozess partizipiere. Nur so sei der Aufruf der Redaktion an den Leser zu verstehen, seinen Standpunkt kundzutun.
Aber klar.
Die Redaktion habe dem Leser eine Plattform geboten, auf der er mit seiner Meinung von Dritten wahrgenommen werden könne. Durch die Aktion schaffe es die Redaktion auch eher, den Glauben an eine funktionierende Demokratie zu bestärken, als durch bloße eindimensionale Berichterstattung.
„Bild“, die große Stütze der Demokratie.
In keiner Weise sei versucht worden, das griechische Volk oder jeden Griechen in seinem Ansehen herabzusetzen – also in seiner Ehre zu verletzen – oder dazu aufzurufen eine feindliche Gesinnung gegenüber Angehörigen des griechischen Volkes einzunehmen. Der Gebrauch des Adjektivs „gierig“ sei klar differenzierend und nicht pauschalisierend. Entscheidend sei, dass das „Nein“ an die abstimmungsberechtigten Bundestagsabgeordneten gerichtet gewesen sei. Dies umfasse die Besorgnis der Öffentlichkeit, dass die Mittel gar nicht erst beim griechischen Bürger ankommen, sondern in das Finanzierungssystem eines Staates fließen und damit am Ende lediglich internationale Kreditgeber befriedigt würden. Mit Beginn des Beitrags werde durch die Zitate und weiteren Informationen mehr als deutlich, dass die Formulierung „gierig“ keineswegs auf jeden Griechen oder das griechische Volk als solches bezogen sei. Vielmehr gehe es um wenige Eliten und die jeweiligen Mitglieder der griechischen Regierung, die Versprechungen hinsichtlich einer Rückzahlung gemacht hätten, ohne dass es bisher dazu gekommen sei. (…) Diese Differenzierung werde noch durch den zeitgleich veröffentlichten Kommentar (…) des BILD.de-Chefredakteurs sowie den Kommentar (…) des BILD-Chefredakteurs vom 28.02.2015 vertieft.
Das sah der Presserat anders.
Der Argumentation, man solle für das Verständnis eines Beitrages auch die Kommentierung zum Thema bzw. die weitere Berichterstattung berücksichtigen, folgt das Gremium nicht.
Entscheidend sei der Eindruck, den ein Beitrag „auf einen durchschnittlich verständigen Leser“ mache. Und der sei ein anderer:
Das Gremium sieht in der Überschrift „NEIN! Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen!“ eine pauschale Diskriminierung einer nationalen Gruppe. Für einen durchschnittlich verständigen Leser wird der Eindruck erweckt, die Zuschreibung „gierig“ beziehe sich auf das griechische Volk als Ganzes.
Auch in der Gesamtbetrachtung des Artikels werde „nicht hinreichend deutlich, dass damit ausschließlich wenige Eliten und die jeweiligen Mitglieder der griechischen Regierung gemeint sein sollen“.
So erkannte der Beschwerdeausschuss einen Verstoß gegen das in Ziffer 12 des Pressekodex festgeschriebene Diskriminierungsverbot und sprach eine Missbilligung aus.
Übrigens: Der Aufruf an die Leser, sich per Selfie “zu einer aktuellen politischen Entscheidung zu äußern”, verstoße “nicht schon prinzipiell gegen den Pressekodex”, erklärt der Presserat und schiebt in seiner so typischen, fast-kritischen Art hinterher:
Ob ein solcher Aufruf in der konkreten Situation die geeignete Art der Berichterstattung darstellt, ist eine journalistische Abwägung, die weitgehend der jeweiligen Redaktion überlassen bleibt.
Der Presserat hat gestern in einer Sondersitzung über die Beschwerden zur Berichterstattung überdenGermanwings-Absturz beraten. Insgesamt hatten über 400 Menschen die Berichterstattung verschiedener Medien kritisiert, das sei, so der Presserat, “die höchste Zahl an Beschwerden zu einem einzelnen Ereignis seit der Gründung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Presse.”
Am Ende der Sitzung sprach das Gremium zwei öffentliche Rügen, sechs Missbilligungen und neun Hinweise aus.
Kritisiert wurde vor allem die Berichterstattung von „Bild“ und Bild.de über die Opfer des Absturzes. Beide Medien hatten mehrfach und riesengroß Fotos und Namen von Opfern veröffentlicht, in einigen Fällen auch ihre Wohnorte, Berufspläne, Hobbies und andere private Dinge (BILDblogberichtete):
Auf Anfrage schrieb uns eine Sprecherin des Axel-Springer-Verlags vor ein paar Wochen, „Bild“ halte es „für wichtig, die Opfer und ihre Geschichten abzubilden“, denn nur so werde „die Tragik deutlich und fassbar“.
nur dann identifizierbar veröffentlicht werden, wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelt oder eine ausdrückliche Zustimmung vorliegt.
„Bild“ hatte sich die Fotos, wie üblich, bei Facebook besorgt oder irgendwo abfotografiert. Der Presserat schreibt:
So waren Fotos von Urlaubern gezeigt worden, die zwar an einem Ort in der Kleinstadt öffentlich ausgehängt worden waren. Dies geschah jedoch nicht für die Medienöffentlichkeit und ohne Zustimmung der Abgebildeten oder Angehörigen.
Außerdem druckte das Blatt ein großes Klassenfoto, auf dem auch einige Opfer des Unglücks zu sehen waren:
Die Gesichter waren zwar verpixelt, trotzdem verstoße die Veröffentlichung, so der Presserat, gegen den Schutz der Persönlichkeit der Abgebildeten, weil die Klasse „für einen erweiterten Personenkreis identifizierbar“ gewesen sei.
Als unzulässig wertete das Gremium auch den Nachdruck einer Todesanzeige mit den Namen der Todesopfer aus dieser Klasse, die „Bild“ ebenfalls veröffentlicht hatte, ohne die Namen unkenntlich zu machen.
„Bild“ druckte auch ein unverpixeltes Foto der bei dem Absturz gestorbenen Klassenlehrerin und nannte ihren (abgekürzten) Namen. Auch das war aus Sicht des Presserats nicht erlaubt.
Insgesamt sah der Ausschuss in den Veröffentlichungen „einen schweren Verstoß gegen Richtlinie 8.2 des Pressekodex“ und sprach eine öffentliche Rüge gegen „Bild“ und Bild.de aus. (Ja, genau: eine Rüge für beide Medien, für alle Vergehen.)
Übrigens waren die “Bild”-Medien unseres Wissens nach die einzigen Medien in Deutschland, die unverpixelte Fotos der Opfer veröffentlicht haben.
Eine Missbilligung erhielt Bild.de, weil in zwei Artikeln zu viele Details über die Eltern des Co-Piloten genannt wurden.
So ist es zwar angesichts des hohen Interesses an Andreas [L.] selbst durch die Nennung seines Nachnamens nicht zu vermeiden, dass in einer Berichterstattung über ihn auch seine Eltern identifizierbar werden. In den beanstandeten Berichten waren darüber hinaus aber noch die Berufe der Eltern erwähnt worden, womit die Grenze des Persönlichkeitsschutzes überschritten worden ist.
Eine weitere Missbilligung ging an Bild.de, weil das Portal Fotos von trauernden Angehörigen veröffentlicht hatte, die an den Flughäfen in Düsseldorf und Barcelona aufgenommen worden waren.
Von einer Rüge sah das Gremium ab, weil die Fotos “nach sehr kurzer Zeit wieder von der Seite gelöscht worden waren”.
Der Beschwerdeausschuss vertritt jedoch die Auffassung, dass die ethische Abwägung durch die Redaktion erfolgen muss, bevor durch die Veröffentlichung ein Verstoß gegen die ethischen Grundsätze begangen wird.
Aus den gleichen Gründen wurden auch andere Medien für derartige Fotos missbilligt.
Eine nicht näher benannte regionale Tageszeitung erhielt außerdem eine Missbilligung, weil sie ein Foto vom Elternhaus des Co-Piloten gezeigt hatte.
Zwar gab es unter den vom Presserat insgesamt geprüften Fällen auch solche mit zulässigen Fotos, die zum Beispiel nur den Eingang zeigten. Im vorliegenden Fall waren aber das vollständige Haus und dessen Umgebung zu erkennen, wodurch es sich verorten lässt. Dies verletzt […] den Schutz der Persönlichkeit der Eltern.
Schließlich wurde auch die “Rheinische Post” gerügt, weil sie detailliert über die Partnerin des Co-Piloten geschrieben hatte:
Zwar wurde ihr vollständiger Name nicht genannt, jedoch waren in dem Text so viele persönliche Details über sie enthalten, dass sie für einen erweiterten Personenkreis identifizierbar war.
Natürlich diskutierte der Presserat auch zu der Frage, ob der Name des Co-Piloten genannt und sein Gesicht ohne Unkenntlichmachung gezeigt werden durfte. Das Ergebnis: In den “allermeisten Fällen” sei dies erlaubt gewesen. In der Begründung heißt es:
Zunächst handelte es sich bei dem Germanwings-Unglück nach Ansicht des Presserats um eine außergewöhnlich schwere Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist. Dies spricht für ein überwiegendes öffentliches Interesse an dem Fall insgesamt, jedoch könnte es auch Gründe geben, die dennoch eine Anonymisierung erfordern würden.
So könnte z.B. durch die Nennung des Namens des Co-Piloten, seines Wohnortes und der Information, dass er auch im Elternhaus gelebt hat, die Identifizierung der Eltern ermöglicht werden. Aus Sicht des Presserats überwiegt jedoch in diesem außerordentlichen Fall das öffentliche Interesse an der Information über den Täter, soweit es die reine Nennung des Nachnamens betrifft.
Beschäftigt hat sich der Presserat auch mit der Frage, ob das Ereignis als Suizid zu behandeln ist und deshalb besondere Zurückhaltung geboten gewesen wäre. Dieser Gesichtspunkt tritt jedoch im Hinblick auf die 149 weiteren Todesopfer zurück.
Schließlich setzte sich der Presserat mit einer möglichen Vorverurteilung des Co-Piloten durch die Berichterstattung auseinander. Er kam zu der Auffassung, dass die Medien ab dem Zeitpunkt der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Marseille am Mittag des 26.3.2015 davon ausgehen durften, dass Andreas [L.] das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten entsprechende Erkenntnisse durch die Auswertungen des Sprachrekorders und weitere Ermittlungen der französischen Luftfahrtbehörde vorgelegen. Zusammen mit der Einzigartigkeit des Falls war in der Gesamtschau eine Nennung des Namens des Co-Piloten aus Sicht des Presserats zulässig.
Nicht entscheidend war hingegen, dass internationale Medien bereits Namen veröffentlicht hatten [was unter anderem “Bild”-Chef Kai Diekmann immer wieder als Argument angeführt hatte, Anm.], da in Deutschland in der Regel andere ethische Maßstäbe im Allgemeinen und der Pressekodex des Deutschen Presserats im Besonderen ausschlaggebend für die Presse sind.
Nicht beanstandet wurde außerdem der Brief an die “lieben Absturzopfer” von “Bild”-Kolumnist Franz-Josef Wagner:
Ausschlaggebend war, dass darin keine Äußerungen enthalten waren, welche gegen den Pressekodex verstoßen. Zu Entscheidungen über guten oder schlechten Geschmack ist der Presserat jedoch nicht berufen.
Der “Bild”-Zeitung fällt es schwer zu akzeptieren, dass auch Verbrecher Rechte haben. Vor allem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung spricht sie ihnen regelmäßig ab. Der Presserat rügt diese Praxis immer wieder, was die Leute von “Bild” wiederum gerne mal zum Anlass nehmen, ihre Leser gegen den Presserat und diesen Täterschutzquatsch zumobilisieren.
Das alles ist nicht neu. Neu ist, dass die “Bild”-Macher in ihrem Kampf für das Zurschaustellendürfen von Tätern sogar die Eltern eines Mordopfers instrumentalisieren.
Im März 2014 ist im Norden Deutschlands eine junge Frau von einem 16-Jährigen getötet worden. Er wurde inzwischen wegen Mordes verurteilt. Die „Bild“-Medien berichteten damals unter anderem so über den Fall:
(Das große Foto zeigt den 16-Jährigen mit schwarzem Alibi-Augenbalken, ein Foto zeigt die Freunde des Opfers beim Trauern, eins das – unverpixelte – Opfer; drei weitere sind Screenshots aus Videos, auf denen Frauen zum Schein erwürgt werden.)
Und so:
„Bild“ veröffentlichte den Vornamen, den abgekürzten Nachnamen, den Wohnort und andere persönliche Details des Täters, zeigte ein Foto seines Elternhauses und druckte in der Hamburger Ausgabe ein unverpixeltes Portraitfoto von ihm.
Vor drei Monaten beschäftigte sich dann der Beschwerdeausschuss des Presserats mit der Berichterstattung und sprach eine öffentliche Rüge gegen „Bild“ aus. In der Begründung heißt es, das Blatt habe gegen Ziffer 8 des Pressekodex (Schutz der Persönlichkeit) verstoßen, denn:
Der Artikel berichtet über das abgeschlossene Strafverfahren und die erwiesene Schuld des Täters. Die schutzbedürftigen Interessen des Betroffenen sind jedoch durch die identifizierende Berichterstattung verletzt. Gemäß Richtlinie 8.3 des Pressekodex dürfen insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in der Regel nicht identifizierbar sein. Ein Fall, der eine Ausnahme rechtfertigen würde, liegt nach Auffassung des Ausschusses nicht vor. Bei der Tat handelt es sich zwar um eine schwere, nicht jedoch um eine außergewöhnlich schwere und in ihre Art und Dimension besondere Straftat gemäß Richtlinie 8.1 Abs. 2 des Presskodex.
Normalerweise versteckt “Bild” solche Rügen irgendwo klein im Blatt, in diesem Fall haben sie der Sache aber fast eine komplette Seite gewidmet. Und zwar so:
(Unkenntlichmachung von uns.)
Im Artikel fasst „Bild“ die Entscheidung des Presserats folgerndermaßen zusammen:
Ausgerechnet das Foto des MÖRDERS hätte nicht gezeigt werden dürfen, urteilt das Gremium. Die unglaubliche Begründung: Der Mordfall [L.] sei dafür einfach nicht besonders genug …
Dabei hätte das Gremium sehr wahrscheinlich auch das Fotos des OPFERS beanstandet, wenn dazu eine Beschwerde eingegangen wäre (was allerdings nicht passiert ist).
Aus der Begründung des Presserats gibt das Blatt nur einen einzigen (unvollständigen) Satz wieder:
Wörtlich schreibt der Presserat: „Bei der Tat handelt es sich zwar um eine schwere, nicht jedoch um eine außergewöhnlich schwere und in ihrer Art und Dimension besondere Straftat …“
Dass bei der Entscheidung aber — vor allem — die Minderjährigkeit des Täters eine Rolle gespielt hat, wird erst am Ende des vorletzten Absatzes erwähnt:
Zwei Mal schreibt BILD mit der Bitte um Erläuterung an den Presserat: Wie außergewöhnlich schwer und besonders muss ein Täter sein Opfer umbringen, dass der Presserat eine entsprechende Berichterstattung für zulässig hält? Und wie soll BILD den Eltern der toten [L.] die unglaubliche Begründung des Presserats erklären? Drei Wochen hört BILD nichts. Gestern Abend dann ein Fax. Die Vorsitzende des Beschwerde-Ausschusses verteidigt die Rüge: „Aus Sicht des Ausschusses war die Tat, so scheußlich sie war, nicht derart monströs, dass dahinter alle anderen Erwägungen, insbesondere des Jugendschutzes, zurückzutreten haben.“ Dass der Mörder erst 16 Jahre alt war, spreche gegen eine identifizierende Berichterstattung.
Bis dahin hat der empörte „Bild“-Leser aber sicher gar nicht mehr gelesen, denn es gab ja viel Wichtigeres zu tun:
Den Kasten hat “Bild” groß unter den Artikel gedruckt. Auch online werden die Leser heute dazu aufgerufen:
Inzwischen hat der Presserat eine Stellungnahme zu der „Bild“-Kampagne veröffentlicht. Darin wird noch einmal betont, dass das Alter des Täters „eine wichtige Grundlage der Entscheidung“ gewesen sei.
Weiter schreibt der Presserat, …
dass es bei Straftaten zwar in der Tat Kriterien gibt, die in Einzelfällen dafür sprechen können, dass identifizierende Berichterstattung ethisch vertretbar sein kann. Eines dieser Kriterien ist gemäß Richtlinie 8.1, dass es sich um eine außergewöhnlich schwere oder in ihrer Art und Dimension besondere Straftat handeln muss. Mord ist stets eine schwere Straftat, darüber gibt es keinen Zweifel. Jedoch rechtfertigt auch Mord nicht in jedem Fall die identifizierende Berichterstattung.
Mit Blick auf die in Frage stehende Tat ist der Presserat zu dem Ergebnis gekommen, dass diese, so verachtenswert, wie sie ist, die Identifikation des Täters für ein großes Publikum nicht ethisch rechtfertigt, da andere Kriterien der Ziffer 8 des Pressekodex dafür sprechen, dass er hätte anonymisiert werden müssen. Vor allem die Tatsache, dass der Täter erst 16 Jahre alt war, also deutlich noch ein Jugendlicher, sprach nach Ansicht des Ausschusses erheblich gegen eine identifizierende Berichterstattung.
Auch der Medienrechtler Dominik Höch betont auf BILDblog-Anfrage, dass das Alter des Täters eine entscheidende Rolle spiele:
Bei dem Täter handelt es sich um einen 16-Jährigen. Das heißt, dass in dem Fall ohne Wenn und Aber das Jugendstrafrecht gilt, die Verhandlung ist also nicht öffentlich. Da muss man die Frage stellen, warum die “Bild”-Zeitung das Recht haben soll, dieses Foto einem Millionenpublikum zu präsentieren, während der Lokalreporter vor Ort das nicht darf und selbst der Nachbar vom Prozess ausgeschlossen wird. Rechtlich ist das also ganz klar geregelt.
Darüber hinaus, so Höch, sei es „eine perfide Boulevardmethode“, die Leser in dieser Weise gegen den Presserat zu mobilisieren:
Am Ende der Leitung sitzt dann vermutlich eine Sekretärin, die sich den ganzen Tag von Anrufern beschimpfen lassen muss. Auf dieser Ebene sollte man Kritik am Presserat nicht spielen.
Jeder habe das Recht, öffentliche Entscheidungen wie die des Presserats zu kritisieren. Es gehe aber um das Wie. Und da habe die „Bild“-Zeitung heute „klar die Grenze des guten Geschmacks überschritten.”
Interessant ist übrigens der Zeitpunkt der Kampagne. „Bild“ hat sich genau den Tag ausgesucht, an dem der Presserat die Beratungen zur Berichterstattung überden Germanwings-Absturz begonnen hat.
Angesichts der laufenden Sitzung konnte uns der Presserat heute auch noch nicht genau sagen, wie viele Anrufe und Mails bereits bei ihm eingegangen sind. Nur soviel: Es seien „viele“.
Darunter aber nicht nur keifende „Bild“-Fans, wie wir unserem Posteingang (wir wurden in cc gesetzt) entnehmen durften:
Hiermit möchte ich Ihnen meine Meinung sagen: Vielen Dank!
Danke, dass Sie die Bild für die unangemessenen und Persönlichkeitsrechte verletzenden Artikel gerügt haben. Falls Sie nun viele Anrufe und Mails mit wütendem Protest im Sinne Diekmanns Wunsch erhalten, so möchte ich Ihnen schreiben, dass es viele Bürger gibt, die diese Rüge richtig verstehen und Sie die wütenden, Betroffenheit heuchelnden (Bild)Leser nicht ernst zu nehmen brauchen.
Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 3. Juni: Heute geht’s weiter:
„Bild“ präsentiert einige der „entsetzten“ Reaktionen auf die „schwer nachvollziehbare Entscheidung“:
Und, klar:
Und schließlich würfelt “Bild” die Aussagen des Presserats nochmal komplett durcheinander:
Der Presserat entschied: BILD hätte das Täter-Foto nicht zeigen dürfen. Begründung: Da der Killer zur Tatzeit erst 16 war, sei der Mord nicht „außergewöhnlich schwer“ und „monströs“ genug. Der Jugendschutz überwiege …
“Bild” macht aus Tätern Türken Verstoß gegen Ziffer 12 (BK2-147/06)
“Bild” berichtet, dass zwei Männer, die einen Mord begangen haben sollen, festgenommen wurden und nennt sie “Murat G.” und “Nasir L.”. In Wahrheit handelt es sich allerdings um Deutsche, sogar ohne sogenannten Migrationshintergrund und mit typisch deutschen Namen. Die Zeitung hat nicht nur, ohne darauf hinzuweisen, die Namen der “Mörder” geändert, sondern auch ihre scheinbare Herkunft. Ein Leser beschwert sich beim Presserat, dass dadurch Vorurteile bedient und geschürt würden.
Die Rechtsabteilung von Axel Springer bestreitet, dass durch die Namensänderung Stimmung gegen türkische Mitbürger gemacht worden sei. Sie weist darauf hin, dass die Polizei ursprünglich nach “Tätern südländischer Herkunft” gesucht habe. Die Redaktion habe vergeblich versucht, am Tag vor der Meldung die tatsächlichen Namen der Täter in Erfahrung zu bringen. (Anmerkung von uns: Gelungen war es ihr allerdings offenbar, Details über das Privatleben des Haupttäters zu recherchieren, siehe Ausriss.) Der Zusatz “Name geändert” habe versehentlich gefehlt, erklärte die Rechtsabteilung. Schon am nächsten Tag habe man die korrekten Vornamen benutzt.
Der Presserat meint, dass “Bild” auch ohne Namensnennung über die Verhaftung hätte berichten können. Dadurch, dass ohne erkennbaren Grund türkische Namen benutzt wurden, könnten Vorurteile geschürt werden. Den Hinweis, es habe nur der Zusatz “Name geändert” gefehlt, erkennt der Presserat nicht an. Er bemängelt außerdem, dass “Bild” zwar später die korrekten Namen genannt, aber die Leser nicht auf die irreführenden Phantasienamen im ersten Bericht hingewiesen habe. (Öffentliche Rüge)
“Bild” missachtet Rechte von Lawinenopfern Verstoß gegen Ziffer 8 (BK1-144/06)
“Bild” berichtet über ein Lawinenunglück und titelt: “Todesdrama in den Alpen – Dieser Chefarzt aus … sah seine Freunde sterben”. “Bild” zeigt Portraitfotos von den drei Todesopfern. Ein Foto vom einzigen Überlebenden macht “Bild” durch einen Balken nur unzureichend unkenntlich, veröffentlicht es ohne seine Einwilligung und macht ihn durch die Angabe vieler Details unter anderem über seinen Beruf und seine Arbeitsstätte identifizierbar.
Die Rechtsabteilung von Axel Springer bestreitet, dass die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzt wurden. Sie rechtfertigt die Berichterstattung damit, dass die Öffentlichkeit über Lawinenunglücke bei Skitouren informiert werden müsse. Um die Leser betroffen zu machen und eine warnende Wirkung zu erzielen, habe man den Artikel personalisieren müssen.
Der Presserat widerspricht: “Bild” habe das Gebot, das Privatleben des Menschen zu achten, verletzt. Die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen seien wichtiger als das öffentliche Interesse daran, die Opfer identifizieren zu können. Das Unglück mache die Opfer nicht zu Personen der Zeitgeschichte. (Öffentliche Rüge)
* * *
“Bild” schlachtet Selbstmord aus Verstoß gegen Ziffer 8 (BK1-206/06)
“Mietschulden – Als die Gerichtsvollzieherin klingelte, sprang sie in den Tod”, titelt “Bild” und berichtet minutiös über einen Suizid einer Mutter, zeigt ein großes Foto von ihr und dem Haus, von dem sie in den Tod sprang und vor dem ihre abgedeckte Leiche liegt, schildert ihre Lebensumstände und spekuliert ausführlich über das Motiv für die Tat.
Nach Ansicht der Springer-Rechtsabteilung hat die Selbstmörderin durch ihr Verhalten eine identifizierende Berichterstattung geradezu provoziert. Die Drohung, sich in die Tiefe zu stürzen, habe großes Aufsehen erregt; Feuerwehrleute hätten versucht, sie davon abzuhalten. Deshalb habe es sich um einen “Vorfall der Zeitgeschichte” gehandelt, der es rechtfertige, die üblicherweise nötige Zurückhaltung bei der Berichterstattung aufzugeben.
Der Presserat widerspricht. “Bild” habe die Persönlichkeitsrechte der Frau verletzt. Auch ein Suizid, der unter den Augen der Öffentlichkeit begangen wird, rechtfertige noch nicht per se, den Namen der Betroffenen zu nennen und die näheren Begleitumstände zu schildern. (Öffentliche Rüge)
“Bild” lässt Schulklasse dumm aussehen Verstoß gegen Ziffern 2 und 8 (BK2-252/05)
“Bild” illustriert einen großen Bericht “Pisa-Schock – So dumm sind unsere Kinder” mit dem Foto einer Grundschulklasse und ihrer Lehrerin. Die Zeitung hatte das Foto bereits 2002 veröffentlicht, damals im Zusammenhang mit einer Spendenaktion zum Weltkindertag. Der Elternbeirat der Schule beschwert sich: Die Zeitung habe weder die Kinder oder ihre Eltern noch die Lehrerin um Erlaubnis gefragt. Bereits für die Veröffentlichung 2002 habe “Bild” das Foto zweckentfremdet und ohne Genehmigung abgedruckt.
Die “Bild”-Rechtsabteilung räumt ein, dass die Redaktion es versäumt habe, das Einverständnis von Eltern und Schule einzuholen. Man habe die abgebildeten Schüler nicht als “dumm” bezeichnen wollen und versucht, sich beim Elternbeirat zu entschuldigen.
Der Presserat rügt “Bild”, weil der wiederholte Abdruck des Fotos sinnentstellend sei und gegen das Gebot der journalistischen Sorgfaltspflicht verstoße. Der “Bild”-Leser müsse glauben, die abgebildeten Kinder seien dumm. Ihre Persönlichkeitsrechte wurden so schwerwiegend verletzt, dass auch eine Entschuldigung der “Bild”-Redaktion nicht ausreiche. (Öffentliche Rüge)
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“Bild” stellt Kind an den Pranger Verstoß gegen Ziffer 8 (BK2-236/06)
Beim Versuch, eine Schulhofrangelei zu schlichten, wird eine Lehrerin von einem zwölfjährigen Jungen durch einen Faustschlag verletzt. “Bild” titelt: “Schüler (12) prügelt Lehrerin in Klinik” und zeigt mehrmals ein Foto des Jungen, darunter groß auf der Titelseite.
Die “Bild”-Rechtsabteilung erklärt, die Eltern des Kindes hätten der Veröffentlichung des Fotos schriftlich zugestimmt.
Nach dem Urteil des Presserates hat “Bild” das Persönlichkeitsrecht des Schülers verletzt: Es sei unzulässig, ihn unverpixelt zu zeigen. Die Zustimmung der Eltern sei unerheblich: Die “Bild”-Redaktion hätte die Verantwortung gehabt, das Kind zu seinem Schutz trotzdem unkenntlich zu machen. Der Rat verweist darauf, dass laut Pressekodex die Abbildung von mutmaßlichen Tätern in der Regel nicht gerechtfertigt sei; bei Straftaten Jugendlicher gelte dies ganz besonders. (Nicht-öffentliche Rüge)
“Bild” zeigt Mutter, die ihr Kind getötet haben soll Verstoß gegen Ziffer 8 (BK2-156/06)
Eine 23-jährige Mutter soll ihr neugeborenes Kind getötet, in eine Plastiktüte gesteckt und in den Müll geworfen haben. “Bild” zeigt unter der Überschrift “Sie hat ihr Baby erstickt und einfach weggeworfen” ein unverpixeltes Foto von der Frau mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen.
Die Rechtsabteilung von “Bild” sagt, erstens dürfe man laut Presserat in eindeutigen Fällen identifizierbar berichten (und die Frau sei geständig und aufgrund einer DNA-Analyse überführt). Und zweitens sei die Frau wegen des gesenkten Blickes und eines Haarbandes gar nicht zu identifizieren.
Der Presserat widerspricht in jeder Hinsicht: Das Gesicht sei gut erkennbar. Und die Identifizierbarkeit sei in der Regel unzulässig; konkret habe der Presserat sie in vergleichbaren Fällen verboten. Auch das Geständnis der Frau ändere daran nichts. (Nicht-öffentliche Rüge)
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“Bild” macht Demonstranten zum Attentäter Verstoß gegen Ziffern 2 und 13 (BK2-257/05)
“Bild” fordert in mehreren Artikeln die Ausweisung eines Türken aus Deutschland, den die Zeitung immer wieder als “Attentäter” und “Verbrecher” bezeichnet: “Schiebt diesen Verbrecher ab!”, “Schnarch-Justiz! Wird Attentäter heute verhaftet?”, “Justiz-Skandal! Attentäter nicht ausgewiesen” – mehrmals berichtet ein Boulevardblatt über den türkischen Beschwerdeführer, der immer wieder als “Attentäter” und “Verbrecher” bezeichnet wird. Der Mann hat 1993 an einer Demonstratoin teilgenommen, die mit einem Brandanschlag endete, der 37 Menschen tötete. “Bild” zeigt ein Foto von ihm mit einem schwarzen Balken vor den Augen, stellt ihn als Tatbeteiligten dar und berichtet, er sei 1993 zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Anwalt des Betroffenen beschwert sich beim Presserat. Sein Mandant sei nie Täter bei einem versuchten Brandstiftungs- oder Tötungsdelikt gewesen und als solcher auch nie angeklagt oder verurteilt worden. Verurteilt worden sei er nur wegen Beteiligung an der versuchten Veränderung der Gesellschaftsordnung in der Türkei – dieses Verfahren sei noch nicht endgültig abgeschlossen.
Die Rechtsabteilung von “Bild” bestreitet, den Mann vorverurteilt zu haben. Nach ihm werde international gefahndet; ein Auslieferungshaftbefehl liege vor. Bei dem Fall handle es sich um ein zeitgeschichtliches Ereignis von hohem Aufmerksamkeitswert und gesellschaftspolitischer Bedeutung. Die Pressefreiheit erlaube es “Bild”, innerhalb gewisser Grenzen zu entscheiden, was eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse sei.
Nach dem Urteil des Presserates hat “Bild” wahrheitwidrig berichtet. Die Berichte hätten Gerüchte als Tatsachen dargestellt und Vorurteile enthalten. Es gebe weder sichere Fakten, noch Indizien, wonach der Türke an dem Anschlag beteiligt war. Der Begriff “Attentäter” bezeichne Straftäter, die aufgrund einer besonderen, oft politischen Motivation, neben ihrem eigenen auch andere Menschenleben aufs Spiel setzen. Bei dem Mann, den “Bild” fortwährend so nannte, könne man aber weder von einer solchen Tat, noch von entsprechenden Motiven ausgehen. “Bild” habe die Gerüchte weder sorgfältig genug geprüft noch als solche kenntlich gemacht, und ihn in einem laufenden Verfahren vor deutschen Behörden vorverurteilt. (Öffentliche Rüge)
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“Bild” zeigt zehnjähriges Todesopfer gegen den Willen der Eltern Verstoß gegen Ziffer 8(BK2-93 und 94/06)
Als bei einem Attentat in Ägypten ein zehnjähriger deutscher Junge ums Leben kommt, zeigt “Bild” ihn groß im Inneren und auf der Titelseite (Überschrift: “Dieser Junge starb in der Terror-Hölle”). Die Zeitung hatte keine Einwilligung der Eltern, das Foto zu zeigen, außerdem gibt es Zeugenaussagen, wonach sich der “Bild”-Fotograf das Foto unter Vortäuschung falscher Tatsachen erschlich. Unter anderem habe er sich auch bei Mitschülern des Kindes erkundigt.
Die Rechtsabteilung der Axel Springer AG erklärt, sie gehe davon aus, dass der Mitarbeiter ordnungsgemäß und sorgfältig recherchiert habe. Er habe auf Nachfrage erklärt, sich nicht als Mitarbeiter anderer Zeitungen ausgegeben. Die Juristen weisen darauf hin, dass sie gegenüber dem Vater des Jungen eine Unterlassungserklärung abgegeben habe – ohne eine Rechtspflicht anzuerkennen.
Der Presserat rügt “Bild”: In der Regel sei es nicht gerechtfertigt, Opfer von Unglücksfällen abzubilden. Es habe kein öffentliches Interesse gegeben, das das Persönlichkeitsrecht des getöteten Kindes überlagert hätte. Zudem fehlte offensichtlich die Einwilligung der Eltern. Ob “Bild” das Foto mit unlauteren Methoden beschafft hat, kann der Presserat nicht klären und stellt das Verfahren in diesem Punkt ein. (Öffentliche Rüge)
(Siehe BILDblog-Einträge “‘Bild’ benutzt Kinder für Recherchen” [1], [2], [3])
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“Bild” bildet Opfer einer Familientragödie ab Verstoß gegen Ziffer 8 (BK2-166/06)
“Bild” berichtet über eine Familientragödie, bei der ein Mann seine Frau und einen Sohn erschießt, bevor er sich selbst tötet; ein weiterer Sohn überlebt. “Landarzt erschießt seine Familie”, schreibt “Bild” und zeigt die Fotos aller Familienmitglieder; nur der überlebende Sohn ist verpixelt. Mit großer Detailfreude kolportiert “Bild” auch Gerüchte über die Hintergründe der Tat: “Im Dorf munkelt man außerdem, dass der Landarzt schon seit über einem Jahr im Keller schlief. Zudem soll er Alkoholprobleme gehabt haben.”
Die “Bild”-Chefredaktion nennt die von ihr veröffentlichten Fotos zeitgeschichtliche Dokumente und den Täter aufgrund seines Berufes eine Person von herausragender öffentlicher Funktion und gesellschaftlicher Stellung. Durch die Bedeutung des Landarztes sei es erlaubt, ihn und die von ihm getöteten Familienmitglieder abzubilden.
Keineswegs, urteilt der Presserat und verweist auf die Forderung des Pressekodex, bei Suiziden nur zurückhaltend zu berichten. Außerdem mache seine Tätigkeit als Landarzt den Mann noch nicht zu einer Person der Zeitgeschichte und seine Tat nicht zu einem Ereignis der Zeitgeschichte. (Nicht-öffentliche Rüge)
In einer norddeutschen Kleinstadt soll ein Heim für schwererziehbare Jugendliche gebaut werden – was einigen Nachbarn nicht gefällt. “Bild” titelt: “Ein Dorf hat Angst” und: “Behörde will Heim für Kindergangster im friedlichen (…) eröffnen”. Die Gefahr durch die “Kindergangster” illustriert die Zeitung, indem sie neben Fotos von dem Haus und den Nachbarn einen mit einem Messer bewaffneten Jugendlichen zeigt, ohne zu erwähnen, dass es sich nicht um einen der zukünftigen Bewohner, sondern nur um ein Symbolfoto handelt.
Die Rechtsabteilung von “Bild” erklärt, es bestehe ein hohes öffentliches Interesse daran, über das Projekt und den Widerstand dagegen zu berichten. Die Nachbarn hätten Angst vor Verletzungen und um Hab und Gut, fürchteten sich vor Drogenbeschaffungs- und Gewaltkriminalität. Der Begriff “Kindergangster” für schwer erziehbare Jugendliche sei eine zulässige Verkürzung und ein gebräuchlicher Terminus. Und “Bild” hätte ja keinen von ihnen gezeigt, sondern nur ein Symbolfoto.
Das Urteil des Presserates ist vernichtend: Der Artikel verstoße gleich gegen vier Ziffern des Pressekodex, darunter die Pflicht zur Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde. Schwererziehbare seien nicht Kriminellen gleichzusetzen. Der Begriff “Kindergangster” sei unangemessen sensationell. Das Foto von dem bewaffneten Jugendlichen sei irreführend und hätte zudem als Symbolfoto gekennzeichnet werden müssen. Die Überschrift “Ein Dorf in Angst” sei unangemessen sensationell, diskriminiere die Jugendlichen und werde im Artikel durch nichts belegt. Die Berichterstattung sei einseitig, unangemessen und unwahrhaftig. (Öffentliche Rüge)
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“Bild” macht Werbung für Aldi Verstoß gegen Ziffer 7 (BK2-6/07)
“Bild” informiert seine Leser in einem Artikel darüber, welche Reisen man vom nächsten Tag bei Aldi kaufen kann. “BILD hat die besten Angebote jetzt schon recherchiert”, schreibt die Zeitung und nennt als “beste” Angebote sämtliche Angebote, die sich am folgenden Tag auch in einer ganzseitigen Anzeige in “Bild” fanden. “Bild” beschreibt genau die Angebote, nennt die Preise, gibt die Telefonnummern und eine Internetadresse von Aldi an, unter der die Reisen gebucht werden können.
Die Rechtsabteilung von “Bild” weist den Vorwurf zurück, dem großen Anzeigenkunden sei mit dem Artikel eine Gefälligkeit erwiesen worden. Der Anlass für den Artikel sei nicht werblich, sondern publizistisch gewesen: Erstmals sei ein Discounter ins Reisegeschäft eingestiegen, erklärt die Rechtsabteilung (wahrheitswidrig). An der Veröffentlichung habe es ein öffentliches Interesse gegeben; die Angabe von Telefonnummern und Internetseite sei zulässiger Service für die Leser.
Der Presserat widerspricht: Die Grenze zwischen zulässiger Information und unzulässiger Schleichwerbung sei eindeutig überschritten. Durch die detaillierten Angaben habe “Bild” den geschäftlichen Interessen des Anbieters Vorschub geleistet und ihm einen deutlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten verschafft. (Öffentliche Rüge)
“Bild” macht Khaled al-Masri zum Irren Verstoß gegen Ziffer 8 (BK1-135/07 und BK1-136/07)
“Warum lassen wir uns von so einem terrorisieren”, fragt “Bild” und meint mit “so einem” den vermutlich vom CIA verschleppten Khaled Al-Masri und mit “terrorisieren”, dass das Entführungsopfer Gerichte und Medien bemüht. “Bild” spielt seine Torturen herunter und nennt ihn u.a. “irre” und einen “durchgeknallten Schläger” und “Querulanten”.
Die Rechtsabteilung von “Bild” sagt, die Berichterstatung sei zutreffend und die verwendeten Begriffe durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. An der Aufdeckung des Falles Al-Masri bestehe ebenso wie an seiner Person ein hohes Informationsinteresse.
Der Presserat bestreitet das öffentliche Interesse nicht. Es sei unstrittig, dass “Bild” sich mit Al-Masri beschäftigen dürfe – aber nicht in dieser Form. Psychische Erkrankungen fielen laut Pressekodex grundsätzlich in die Privatsphäre des Betroffenen. Ihn “irre” zu nennen und zu fragen, “Warum lassen wir uns von so einem terrorisieren” gehe gerade im Hinblick auf Al-Masris Erkrankung eindeutig zu weit, sei unangemessen und verletze ihn in seiner Ehre. (Öffentliche Rüge)
“Bild” macht Jugendlichen zum “Verbrecher” Verstoß gegen Ziffern 2 und 8 (BK1-194/06)
Ein 19-Jähriger steht vor Gericht, weil er an einer Schießerei beteiligt gewesen sein soll, bei der ein Mensch ums Leben kam. Das Gericht schließt die Öffentlichkeit von der Verhandlung aus, um den Heranwachsenden zu schützen. “Bild” schreibt daraufhin: “Frau Richterin, warum schützen Sie diesen Verbrecher” und nennt auch den Namen des Angeklagten. Dessen Anwalt beschwert sich beim Presserat darüber, dass “Bild” seinen Mandanten trotz des bewussten Ausschlusses der Öffentlichkeit identifizierbar gemacht habe und ihn “Verbrecher” nannte, obwohl es noch kein Urteil gebe.
Die Rechtsabteilung von “Bild” erklärt, die Forderung des Pressekodex, sich bei der Berichterstattung über Straftaten Jugendlicher besonders zurückzuhalten, gelte hier nur eingeschränkt, weil der Angeklagte sich an der Schwelle zum Erwachsenenstrafrecht befinde. Deshalb dürfe man ihn auch identifizierbar machen. Die Tat sei in Art und Ausführung so erschreckend, dass man darüber berichten dürfe. Die Presse könne nicht akzeptieren, vom Verfahren ausgeschlossen zu werden, wie es die Richterin getan habe. Zudem sei der Mann weitgehend geständig.
Der Presserat spricht zunächst nur eine Missbilligung aus: “Bild” hätte sich bei der Berichterstattung zurückhalten müssen; den Namen des Angeklagten zu nennen, sei ethisch unangemessen. Die Bezeichnung “Verbrecher” sei aber zulässig, weil der Angeklagte die Verstrickung in das kriminelle Geschehen zugegeben habe.
Der Anwalt des Mannes widerspricht: Er habe, anders als die Rechtsabteilung “Bild” behaupte, kein Geständnis gegeben. Daraufhin revidiert der Presserat sein Urteil und rügt nun doch den “Bild”-Artikel und das Wort “Verbrecher”: Weil der Angeklagte weder ein Geständnis abgelegt noch die ihm zur Last gelegte Tat unzweifelhaft unter den Augen der Öffentlichkeit begangen habe, sei es unangemessen und eine Vorverurteilung, ihn als Täter darzustellen. (Nicht-öffentliche Rüge)
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“Bild” macht aus Selbsttötung detailreiche Geschichte Verstoß gegen Ziffer 8 (BK2-57/07)
Unter der Überschrift “Todes-Drama um die schöne Anika (16)” berichtet “Bild” detailreich über einen Suizid. Die Zeitung zitiert wörtlich die Abschiedsnachricht des Mädchens, das auf eigenen Wunsch aus der psychiatrischen Behandlung entlassen worden sei, und schildert, wie die Schwester des Opfers vergeblich auf die S-Bahn gewartet habe, vor die sich das Mädchen geworfen hatte. Der Chef des Krankenhauses, in dem das Mädchen war, beschwert sich über den Artikel: Der Redakteur habe die Tatsachen trotz eindringlicher Hinweise falsch dargestellt.
Die Rechtsabteilung von “Bild” sagt, die Berichterstattung gehe auf Berichte der Eltern des Mädchens zurück. Der Artikel über die Selbsttötung sei einfühlsam und mit viel Fingerspitzengefühl geschrieben.
Der Presserat kann sich diesem Urteil nicht anschließen. Wenn “Bild” beschreibe, wie die Schwester ausgerechnet auf die S-Bahn gewartet habe, von der das Mädchen überrollt wurde, verletzte die Zeitung die Pflicht, sich gerade mit der Schilderung solcher Begleitumstände bei Selbsttötungen zurückzuhalten. Es sei auch nicht zurückhaltend, der Öffentlichkeit die Krankheitsgeschichte des Mädchens zu schildern. (Nicht-öffentliche Rüge)
Das Landgericht Berlin bescheinigte der “Bild”-Zeitung Ende 2002, es sei “gerichtsbekannt”, dass sie häufig persönlichkeitsrechtsverletzende Beiträge veröffentlicht”, die “oftmals sogar die Intimsphäre der Betroffenen” verletze. Die Richter unterstellten Chefredakteur Kai Diekmann und der Zeitung ein Kalkül hinter den Rechtsverletzungen: Sie suchten “bewusst einen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung anderer”.
Zuständig für Beschwerden über Zeitungstexte ist — abgesehen vom Rechtsweg — der Presserat, die Freiwillige Selbstkontrolle der Printmedien. Seine Möglichkeiten sind minimal: Er kann Hinweise, Missbilligungen, öffentliche und nicht-öffentliche Rügen aussprechen. Sie alle sind folgenlos. Öffentliche Rügen sollten allerdings vom gerügten Printmedium veröffentlicht werden. Tut es dies nicht, hat das allerdings keine Folgen.
Überdurchschnittlich häufig gerügt wird die “Bild”-Zeitung. Sie zieht offenbar aus den Rügen keine Konsequenzen und begeht viele Verstöße immer wieder.
Wir dokumentieren alle öffentlichen und nicht-öffentlichen Rügen der “Bild”-Zeitung von 2002 bis 2007:
Der Presserat hat aufgrund von Beschwerden von BILDblog zwei “Bild”-Berichte beanstandet.
“Bild” zeigte blutenden Tierpfleger
Am 13. Juli 2007 hatte die “Bild”-Zeitung unter der Überschrift “Löwe zerfleischt Pfleger” berichtet, dass ein Mann in Mashad im Iran Opfer eines Löwenangriffs geworden sei (siehe Ausriss) – und auf einer halben Zeitungsseite zum Teil blutige Bilder des Angriffs gezeigt, die aus einem mindestens drei Monate alten Privatvideo stammten (wir berichteten.). Eines der Fotos zeigte den am Boden liegenden Pfleger mit weit aufgerissenen Augen. In der Bildunterzeile hieß es: “Gerade noch rechtzeitig! Der schwer verletzte Pfleger kann vom Notarzt reanimiert werden.”
Der Presserates sah die gesamte “Bild”-Berichterstattung als “unangemessen sensationell” an. Er monierte insbesondere den Abdruck des Bildes mit dem schwer verletzt und blutend am Boden liegenden Pfleger, weil er so “zum Objekt, zu einem bloßen Mittel herabgewürdigt” wurde. Indem “Bild” das Foto abdruckte, sei über einen “körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausreichenden Art und Weise” berichtet worden, wie es in Richtlinie 11.1 des Pressekodex heißt.
Der Axel Springer Verlag hatte argumentiert, dass die Berichterstattung den Lesern die Gefährlichkeit von Raubtieren habe vor Augen führen sollen. Insbesondere, da “in den Medien” häufig der Eindruck erweckt würde, “Wildtiere wie Löwen, Eisbären etc.” seien “possierliche Weggefährten”.
Diese “grundsätzliche Thematik” allerdings konnte der Presserat nicht erkennen. Selbst wenn es “Bild” darum gegangen wäre, so der Beschwerdeausschuss, hätte “diese Art der Bebilderung” und insbesondere das Bild mit dem am Boden liegenden Pfleger nicht erscheinen müssen.
Der Presserat erkannte in der “Bild”-Veröffentlichung einen Verstoß gegen Ziffer 11 (Sensationsberichterstattung) des Pressekodex und sprach eine Missbilligung* aus.
“Bild” druckte Interview mit Marco W. in Untersuchungshaft
Laut Presserat hat die “Bild”-Zeitung unlautere Methoden angewandt, als sie am 26. und 27. Juni 2007 ein Interview mit dem 17-jährigen Marco W. abdruckte. Ein “Hurriyet”-Reporter hatte das in “Bild” veröffentlichte Gespräch – ohne Einverständnis seiner Eltern und seines Anwalts – geführt, als Marco W. wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung einer 13-Jährigen in einem türkischen Gefängnis in Untersuchungshaft saß (wir berichteten). Laut Presserat habe sich Marco W. jedoch “in einer seelischen Extremsituation” befunden, und für “Bild” hätte sein Schutzbedürfnis “einem derart detaillierten Interview entgegen gestanden”. Der Presserat:
Gerade vor dem Hintergrund der politischen Dimension des Falles wäre eine erhöhte Sensibilität erforderlich gewesen. (…) Mit den Aussagen, die er in der Zeitung tätigte, konnte er nicht abschätzen, ob er sich vielleicht damit selbst belastet oder nicht.
Außerdem hätte “Bild” laut Presserat “die Pflicht gehabt, die Umstände, unter denen das Interview mit dem türkischen Medienkollegen entstand, sorgfältiger zu prüfen”.
Interessanterweise fühlt sich die “Bild”-Zeitung jedoch eigentlich gar nicht so richtig zuständig für das von ihr gedruckte Interview mit Marco. Schließlich hätte “Bild” in den Berichten doch “mehrfach deutlich herausgestellt”, dass das Interview von einem ‘Hürriyet’-Reporter geführt worden sei. Laut Presserat argumentierte die Axel Springer AG wie folgt:
Wäre es tatsächlich eine Initiative und ein ausdrücklicher Auftrag von BILD gewesen, dann hätte BILD dies deutlich gemacht und hätte nicht mehrfach darauf verwiesen, dass es sich um einen Journalisten der ‘Hürriyet’ handelt.
Deshalb sei es “unrichtig”, “dass das Interview mit Marco auf Veranlassung und im Auftrag von BILD geführt worden sei”.
Das allerdings lässt für uns nur einen Schluss zu:
A: Springer lügt.
B: Springer kann nicht lesen.
Oder C: “Bild” schreibt in einer Sprache, die nur so aussieht wie deutsch (siehe Ausriss).
Der Presserat erkannte in dem “Bild”-Interview eine Verletzung von Richtlinie 13.3. (Straftaten Jugendlicher) sowie einen Verstoß gegen Ziffer 4 (Grenzen der Recherche) des Pressekodex und sprach eine Missbilligung* aus.
*) Eine Missbilligung durch den Presserat ist für die missbilligte Zeitung folgenlos. Der Presserat “empfiehlt” den Zeitungen allerdings, die Missbilligungen abzudrucken — “als Ausdruck fairer Berichterstattung”. Die “Bild”-Zeitung verzichtet in der Regel auf diesen Ausdruck fairer Berichterstattung.