1. Bitte weinen für die Kamera (taz.de, Jens Müller)
In wenigen Wochen jährt sich zum ersten Mal der Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München. Ein naheliegender Zeitpunkt für einen Rückblick wird sich das ZDF gedacht und die Dokumentation “Schatten des Verbrechens” in Auftrag gegeben haben. Jens Müller findet in der “taz” kritische Worte für den seiner Ansicht nach misslungenen Film. Die Doku sei nicht einfach nur schlecht, sondern ein Ärgernis wegen seines reißerischen Voyeurismus. Auch die “FAZ” urteilt: “Diese Doku ist ein Lehrstück, weil sie so gut wie alles falsch macht.”
2. Kriminelle Ausländer in den Medien (de.ejo-online.eu, Anna Carina Zappe)
Die Ereignisse in der Silvesternacht 2015/16 in Köln hatten Auswirkungen über die spätere Kriminalitätsberichterstattung. Aus einer Untersuchung der Universität München geht hervor, dass nach den Ereignissen in Köln vermehrt die Attribute “Ausländer”, “Migrationshintergrund”, “Asylbewerber” und “Nordafrikaner” vorkamen. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass über Sextaten berichtet wurde, sei erheblich gestiegen. Warum die Journalisten ihr Selektionsverhalten geändert haben, bliebe jedoch im Bereich der Spekulation und könne verschiedene Gründe haben.
3. Zeitungsverleger: „Das wollen wir uns nicht vorschreiben lassen“ (uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Warum lässt der “Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger” (BDZV) seinen Platz auch ein Jahr nach Neubesetzung des ZDF-Fernsehrats leer, obwohl er laut Staatsvertrag einen Vertreter entsenden könnte? Nun, das hat mit einem Passus des ZDF-Staatsvertrags zu tun, an dem sich der BDZV stört. Boris Rosenkranz erklärt auf “Übermedien” die Hintergründe des medienpolitischen Tauziehens.
4. Was tut das ZDF gegen “Hate speech”? (mediendienst-integration.de, Yvette Gerner)
In einem Gastbeitrag erklärt Chefin vom Dienst in der “ZD”F-Chefredaktion Yvette Gerner wie der Sender mit Hasskommentaren umgeht und welche Strategien sich bewährt haben. Bei aller Ernsthaftigkeit helfe manchmal auch eine Portion Humor: “Ein besonders effektives Mittel, Hass und Häme den Stachel zu nehmen, sind eine gewisse Leichtigkeit und Humor beim Umgang mit den Kommentaren. Eine kluge, witzige Antwort hilft oft mehr als eine reine Auseinandersetzung auf der Sachebene — denn Hatern geht es nur zum Teil um die Sache.”
5. Wenn Hacker die Headlines bestimmen (medienwoche.ch, Adrian Lobe)
In der Vergangenheit kam es immer wieder vor, dass Hacker sich Zugang zu Nachrichtenseiten verschafften und erfundene Meldungen absetzten. So 2013 als Cyberkriminelle über das Twitter-Konto der Nachrichtenagentur “AP” meldeten, es hätte angeblich eine Explosion im Weißen Haus gegeben. Die Medienhäuser müssen sich besser schützen, doch das kostet Geld: “An der Integrität der Informationssysteme hängt auch die Integrität des Journalismus und damit einer demokratischen Gesellschaft. Allein, nicht jedes Medienhaus hat die finanziellen Mittel für eine robuste IT-Sicherheit. Wenn Pressefreiheit immer zu einer Frage der Technik wird, ist das eine Gefahr für die Demokratie.”
6. CNN steht nach Trumps Video-Attacke nun selbst in der Kritik (sueddeutsche.de, Karoline Meta Beisel)
Unlängst postete Donald Trump ein älteres Video, in dem er, geschauspielert, einen Wrestlingmanager vermöbelt. Der Unterschied zum Originalfilm von damals: Der Kopf seines Opfers war durch das Logo des Nachrichtensenders “CNN” ersetzt worden. CNN gelang es, den Mann ausfindig zu machen, der das Video manipuliert hatte. Seinen Klarnamen wolle man nicht nennen, mache dies jedoch davon abhängig, ob er sich daran halte, sein “hässliches Verhalten” nicht zu wiederholen. Eine Formulierung, die auf Kritik stößt.
1. “Nationalität spielt bei Kriminalität keine Rolle” (wdr.de, Dominik Reinle)
Die wichtigste Aussage diese Interviews steht schon in der Überschrift. Der Kriminologe Christian Pfeiffer stellt die aufgeregte Diskussion um vermeintlich überdurchschnittlich kriminelle Migranten vom Kopf auf die Füße. Nahezu jeder Satz eignet sich als Punchline für einen Tweet. Drei Vorschläge:
1. “Richtigerweise müsste gefragt werden: Wie sind die Merkmale von Männern, die Frauen vergewaltigen? Dann merken Sie, dass Nationalität bei Kriminalität keine Rolle spielt.”
2. “Die Kriminalität in Deutschland geht im Gewaltbereich um 15 Prozent nach unten, gleichzeitig haben wir ein starkes Anwachsen des Anteils der ‘Fremden’. Die Schnellschuss-Antwort, die Ausländer sind die Bösen und verantwortlich für die Kriminalität, ist einfach falsch.”
3. “Wenn Max von Moritz verprügelt wird, ist die Anzeigebereitschaft 19 Prozent, wird Max von Mehmet verprügelt, ist sie über 31 Prozent.”
2. “Die ganzen Verschwörungstheoretiker irren” (br.de, Florian Schairer)
Hannes Grassegger und Mikael Krogerus haben etwas geschafft, das vor einer Woche undenkbar schien: Hunderttausende teilen einen Text über Big Data und Psychometrie — beides bislang nicht unbedingt als besonders populäre Themen bekannt. Sogar der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar schaltete sich ein und warnte vor “der Manipulation demokratischer Wahlverfahren durch Massendatenauswertung”. Auf die gewaltige Aufmerksamkeit folgte binnen weniger Tage eine mindestens genauso gewaltige Welle der Kritik, teilweise aggressiv und polemisch, nicht immer fair. Hannes Grassegger scheint aber ganz gut damit umgehen zu können: “Wir begrüßen wirklich jede Form des Weiterdenkens — und dazu gehört natürlich auch Kritik.” Außerdem sind gestern die wohl drei besten und differenziertesten Auseinandersetzungen mit dem Thema erschienen: von Daniel Mützel bei “Motherboard”, von Patrick Beuth bei “Zeit Online” und von Matthias Kolb bei süddeutsche.de, der den Text vor allem aus US-amerikanischer Perspektive beleuchtet und erklärt, welche politischen Faktoren zum Sieg von Donald Trump geführt haben.
3. Ein Thema, das keins sein sollte (taz.de, Anne Fromm)
Halb Mediendeutschland streitet sich über eine Nachricht, die gar keine war — zumindest nicht in der “Tagesschau” am Samstag, was wiederum viele haupt- und nebenberufliche Medienkritiker für ein Problem halten. Oder, wie es Anne Fromm ausdrückt: “Freiburg ist das neue Köln.” Das mag eine recht steile These sein, der aktuellen Diskussion fügt ihr Text aber einen interessanten Aspekt hinzu: “Dass nun aber Politiker bewerten, wann, was und wie Journalisten über den Mord in Freiburg hätten berichten sollen, ist fatal. Es spielt denen in die Hände, die der Meinung sind, Journalisten seien von oben gelenkt.”
4. Wie Facebook bei Hetze gegen Künast mit Fake-Zitat zuschaut (morgenpost.de, Lars Wienand)
Am Sonntag teilte der Schweizer Rechtspopulist Ignaz Bearth auf seiner Facebook-Seite ein erfundenes Zitat von Renate Künast, als Quelle gab er die “Süddeutsche Zeitung” an. Der Bild-Post ging viral, Facebook tat — nichts. Stefan Plöchinger, Chefredakteur von süddeutsche.de, schrieb wiederum auf seiner Facebook-Seite: “Ein paar Stunden lang nicht wissen, was man mit so einem demokratiezersetzenden Dreck machen soll — das kann man sich als Multimilliardenmedienkonzern schon mal erlauben, gell?”. Mittlerweile hat Facebook reagiert und das Posting gesperrt, das Grundproblem aber bleibt: Wie schnell muss das Unternehmen reagieren, wenn sich auf der Plattform strafbare Inhalte (ein erfundenes Zitat erfüllt den Straftatbestand der Verleumdung) verbreiten, die den Opfern (in diesem Fall Renate Künast) schaden können?
5. Empörung über deutsche Werbung auf rechter Hetz-Seite (spiegel.de, Ann-Kathrin Nezik)
Ein bekanntes (wenn auch umstrittenes) Bonmot aus der Werbebranche lautet: “There is no such thing as bad publicity.” Insofern könnte es durchaus eine gute Idee sein, Anzeigen auf der rechten Nachrichtenseite “Breitbart” zu schalten. In den vergangenen Tagen taten das etliche bekannte deutsche Unternehmen, darunter die “Telekom”, “Vapiano”, “Lieferheld” oder der Elektronikmarkt “Conrad” — meist, ohne es überhaupt zu merken. Während etwa “Lieferheld” sagt, man sei “nicht von der Gesinnungspolizei”, wollen andere Firmen die fragwürdige Platzierung ihrer Werbung zumindest prüfen, “BMW” und “Braun” haben “Breitbart” sogar auf eine Blacklist gesetzt.
6. Wie wahr ist wahrscheinlich? (gutjahr.biz, Richard Gutjahr)
Die Wahrscheinlichkeit, dass MH17 von pro-russischen Militärs abgeschossen wurde? Exakt 95,3 Prozent. Und wer hat das Giftgas in Syrien eingesetzt? Zu 92,4 Prozent waren es Rebellen, nicht Assad. Das behauptet jedenfalls das israelische Start-up “rootclaim”. Richard Gutjahr hat mit den beiden Gründern der Plattform gesprochen, die mit Hilfe von Algorithmen Fakten checken wollen.
Weil es bei ihrer Kampagne für ein härteres Jugend- und Ausländerstrafrecht und die Wiederwahl von Roland Koch schon vergangene Woche so gut funktioniert hat, benutzt die “Bild”-Zeitung heute einfach noch einmal den Trick mit der Statistik — und erweckt wieder den falschen Eindruck, sämtliche Straftaten in bestimmten Bereichen würden von Ausländern verübt.
Der Artikel ist Teil 1 der neuen Serie: “BILD-Report über kriminelle Ausländer”, und anscheinend geht es auch allein darum:
(…) Sieben Jugendliche, arabischer und türkischer Herkunft, 17 bis 21 Jahre alt, zertrümmern die Scheiben einer U-Bahn. (…) Die Polizei fasst drei Täter: Einen Iraker (17), zwei 16-Jährige aus Gaza. (…) Übergriffe krimineller Ausländer in Deutschland — lange war es ein Tabu-Thema. (…) In einer neuen Serie beleuchtet BILD die Brennpunkte der Ausländer-Kriminalität in Deutschland. (…) Drogendealer meist arabischer Herkunft schleichen umher (…). 2006 gab es allein in Berliner Bussen und Bahnen etwa 22.381 Straftaten. (…) In Münchner U-Bahnen gab es 192 Gewalttaten. In Hamburg waren es im letzten Jahr 195 Prügeleien oder Messerstechereien, in Frankfurt/Main immerhin noch 84. (…)
Haben Sie’s gemerkt? Die Zahlen, die inmitten all dieser Ausländergeschichten stehen — es sind keine Ausländerzahlen. Es ist die Gesamtzahl aller Straf- oder Gewalttaten, egal von welchen Landsleuten sie verübt wurden. “Bild” erwähnt das nicht. Auch die anderen Schilderungen von ängstlichen Wachleuten oder resignierten Busfahrern kommen teilweise ganz ohne konkreten Bezug zur Herkunft der Täter auf, so als sei Jugendgewalt ganz selbstverständlich Ausländergewalt.
Analog dazu hat “Bild” ein Interview mit dem CSU-Politiker Peter Gauweiler zwar laut Überschrift “zur Kriminalität von Ausländern” geführt. Tatsächlich geht es darin aber fast ausschließlich um Gewalt in U- und S-Bahnen allgemein — abgesehen vor allem von diesem Satz Gauweilers:
Deutschland wird in der Münchner U-Bahn verteidigt, am Bahnhof Zoo in Berlin und in der Frankfurter Innenstadt.
Christian Pfeiffer, der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, sagte am Sonntag bei “Anne Will” auf die Frage, ob Roland Koch durch seine Vorstöße die Wahlen gewinnen werde:
“Ich denke, diese Koppelung von überzogenen Forderungen mit einer Hetzkampagne der Bild-Zeitung wird ihm nicht helfen, weil es da einfach zu sehr übertrieben wurde und die Einseitigkeit “Ausländer sind kriminell” und das ständig und über Tage wiederholt, das ging zu weit und das begreifen die Bürger.”
Mit “Hetzkampagne” muss Pfeiffer dies hier meinen:
Andererseits:
Die Kriminalität in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren zurückgegangen.
Die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen hat deutlich abgenommen.
Nach Jahren des Anstiegs geht die Jugendkriminalität seit 1996 zurück.
Jugendliche begehen sehr viel weniger Tötungs- und Raubdelikte als noch vor zehn Jahren; die Zahl der von ihnen begangenen Körperverletzungen aber nimmt zu.
Bei der Gewaltkriminalität ist der Anteil der Tatverdächtigen, die keine Deutschen sind, gesunken.
Ob Jugendgewalt häufiger und schlimmer geworden ist, ist unklar. Möglicherweise nimmt die Zahl der Fälle nur deshalb zu, weil häufiger als früher die Polizei gerufen wird.
Jugendliche mit Migrationshintergrund werden häufiger straffällig, aber nicht so viel mehr, wie die Statistiken glauben machen.
Christoph Frank, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, sagt: “Die Formel härtere Strafen gleich höhere Abschreckung gleich weniger Straftaten ist schlicht falsch.”
Anders als zwischen Strafmaß und Kriminalität gibt es einen Zusammenhang zwischen Bildung und Kriminalität: In München geht die Mehrzahl der Türken nur auf die Hauptschule, in Hannover nicht mehr; in München werden immer mehr Türken Mehrfachtäter, in Hannover immer weniger.
Umfassende und differenzierte Informationen finden sich in Medien, die nicht auf einem politischen Kreuzzug sind, zum Beispiel auf tagesschau.de sowie in “Telepolis”, das den Bericht der Innenministerkonferenz über die Entwicklung der Gewaltkriminalität junger Menschen (pdf) zusammenfasst.
Berlin — Die kriminellen Übergriffe ausländischer Jugendlicher — es ist alles noch viel schlimmer! Allein in Berlin gab es laut Berliner “Tagesspiegel” Ende September 2363 jugendliche Schwerkriminelle (darunter 46 Kinder!) mit fünf und mehr Polizei-Eintragungen wegen Gewalttaten — ein Plus von 7,8 Prozent innerhalb von nur drei Monaten.
Zum ersten Mal spricht jetzt ein Oberstaatsanwalt Klartext über den Umgang und die Hintergründe der zunehmenden Kriminalität ausländischer Jugendlicher. (…)
(Link von uns.)
So macht man das, wenn man den ohnehin erschreckend hohen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den Mehrfach-Gewalttätern noch höher wirken lassen will: Die Schlagzeile auf Seite 1 spricht von Ausländern, die Überschrift über dem Artikel spricht von Ausländern, der erste Satz spricht von Ausländern, der folgende Satz spricht von Ausländern — aber die konkreten Angaben beziehen sich nicht auf Ausländer, sondern sind die Gesamtzahl der Mehrfach-Gewalttäter aller Nationalitäten. “Bild”-Autor Dirk Hoeren, sonst für Renten-Lügen zuständig, hat sich heute an Kriminelle-Ausländer-Lügen versucht und einfach zwei Sätze hintereinander montiert, die sich scheinbar, aber nicht tatsächlich aufeinander beziehen.
Die Zahlen stammen aus einem Vortrag, den der für jugendliche Serientäter zuständige Berliner Oberstaatsanwalt Roman Reusch im Dezember bei einem Vortrag (pdf) vor der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung hielt. Bereits im Mai hatte Reusch in einem “Spiegel”-Gespräch gesagt, dass 80 Prozent seiner Täter einen Migrationshintergrund hätten und wörtlich hinzugefügt: “Jeder Einzelne dieser ausländischen Täter hat in diesem Land nicht das Geringste verloren.” Insofern ist nicht ganz klar, warum Dirk Hoeren heute den Eindruck einer Premiere erweckt:
“Er bricht ein Tabu! Der erste Oberstaatsanwalt spricht Klartext über die Kriminalität von jungen Ausländern in Deutschland!
“Bild” nennt Reusch “Deutschlands mutigster Oberstaatsanwalt”, lässt aber offen, ob es schon mutig ist, Zahlen zu nennen, die vorhandene Ressentiments der Bevölkerung bestätigen, und Forderungen aufzustellen, die populär sind und von der größten deutschen Tageszeitung unterstützt werden.
Von “Bild” unerwähnt bleibt, dass sein “Mut” den Oberstaatsanwalt aber tatsächlich schon in Schwierigkeiten brachte: Im “Spiegel” hatte er angegeben, Untersuchungshaft bei Jugendlichen als Erziehungsmittel zu nutzen, obwohl sie dazu eigentlich nicht gedacht ist. Nach Ansicht von Kritikern wäre eine solche Praxis rechtswidrig; die Berliner Justizsenatorin drohte Reusch öffentlich mit einem Disziplinarverfahren.
Reusch selbst hat seinen Vortrag vor der Hanns-Seidel-Stiftung übrigens mit dem Hinweis beendet, dass “Juristenkollegen” seine Vorschläge allesamt für verfassungswidrig oder zumindest unvereinbar mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes halten könnten. Der “Bild”-Leser ahnt davon natürlich nichts.
1. Fake Nius: Julian Reichelt verrechnet sich bei Ausländerkriminalität (uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Das Krawallportal “Nius” des von “Bild” geschassten Ex-Chefredakteurs Julian Reichelt zeichnet sich offenbar nicht nur durch eine heftige Rechtslastigkeit aus, sondern auch durch eine bedenkliche Rechenschwäche. Medienkritiker Stefan Niggemeier hat sich die Mühe gemacht, der “Nius”-Redaktion den Rechenstoff der Sekundarstufe 1 näher zu bringen: die Prozentrechnung.
2. Verbot wird wahrscheinlicher (taz.de)
Viele Jahre wurde darüber diskutiert, jetzt ist es soweit: Das US-Repräsentantenhaus habe gestern ein Gesetz verabschiedet, “das zum Verbot der populären Videoplattform Tiktok in den USA führen könnte. Die Abgeordneten stimmten an Mittwoch mit großer Mehrheit für die Vorlage, in der dem chinesischen Mutterunternehmen Bytedance mit einem Verbot der App in den Vereinigten Staaten gedroht wird, wenn es diese nicht innerhalb von 180 Tagen veräußert.” Hintergrund seien Vorwürfe wegen angeblicher oder möglicher Datenspionage und Propaganda.
Hörtipp in eigener Sache: Bei radioeins kommentiert der “6-vor-9”-Kurator: “Für mich stellt sich die Frage, was die USA machen, wenn TikTok dieser Forderung nicht nachkommt. Wie wollen sie das durchsetzen? Diese Frage stellt sich dann auch bei der nächsten Eskalationsstufe: einem möglichen Verbot von TikTok. Das dürfte technisch schwierig werden.” (Audio: 3:51 Minuten)
Und noch ein Hörtipp in eigener Sache: Um das Thema und viele weitere Social-Media-Themen geht es auch in der aktuellen Folge des Podcasts “Haken dran”: Schreianfall (spotify.com, Gavin Karlmeier, Audio: 33:42 Minuten).
3. Demokratie braucht weniger “Politikerphrasen” und mediale Dramatisierung (deutschlandfunk.de, Marina Weisband, Audio: 4:24 Minuten)
Marina Weisband geht in ihrer “Deutschlandfunk”-Kolumne einer weit verbreiteten medialen Ausgangssituation und deren Folgen nach: “Der Interviewer sitzt da und denkt: Wie kann ich die Politikerin jetzt auf eine Aussage festnageln? Wie lande ich einen Coup? Und die Politikerin denkt: Wie kann ich meine vom Ressort geplante Message platzieren? Wie kann ich vermeiden, dass aus irgendeinem Nebensatz eine Sensation gemacht wird?” Weisband fände folgende Fragen bedeutender: “Was ist eigentlich gerade die Lage? Was müssen die Leute verstehen? Welche Grundlagen haben wir für unsere Entscheidungen?”
4. “Die Arbeitsbedingungen sind erbärmlich” (netzpolitik.org, Constanze Kurz)
Die kenianischen Arbeiter, die für weniger als zwei US-Dollar pro Stunde Trainingsdaten für Firmen wie OpenAI bereinigen, leiden offenbar immer noch unter miserablen Arbeitsbedingungen. Das geht aus einem Interview hervor, das Constanze Kurz mit Mophat Okinyi geführt hat, der selbst als Content-Moderator gearbeitet hat und sich heute als Menschenrechtsaktivist und Gewerkschafter für die faire Behandlung und die Rechte von Tech-Mitarbeitern und Datentrainern einsetzt.
5. Weiterbildung für Lokaljournalist*innen (verdi.de)
Das Programm für Lokaljournalistinnen und -journalisten der Bundeszentrale für politische Bildung und das “Vocer Institut für Digitale Resilienz” bieten ein kostenloses Weiterbildungsprogramm für Personen in lokalredaktionellen Schlüssel- und Führungspositionen an. Wer dabei sein will, muss sich beeilen: Am heutigen Donnerstag endet die Bewerbungsfrist.
6. X stampft Sendung von Ex-CNN-Moderator ein – nach Interview mit Elon Musk (spiegel.de)
Kaum hat Elon Musk den ehemaligen CNN-Journalisten Don Lemon überredet, ein Talkformat auf X/Twitter zu starten, ist die Zusammenarbeit auch schon wieder vorbei. In der Pilotfolge war Musk zu Gast, und dem Verfechter der Meinungsfreiheit gefielen die Fragen des Journalisten offenbar nicht. Um welche Fragen es sich genau handelte, sei nicht bekannt. Lemon wolle das Video nun auf Youtube hochladen.
Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.
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Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.
Das Drei-Millionen-Dollar-Märchen
Um ihre spektakulären Schlagzeilen zu konstruieren, braucht die “Bild”-Zeitung nicht viel. Manchmal genügt ein kleines Stück altes Papier.
„Es ist nur ein kleines Stück altes Papier, doch es kann ihr Leben verändern!“, schreibt die Dresdner “Bild”-Regionalausgabe im Herbst 2012.1 Auf einem Flohmarkt hätten Rentner Herbert und Lebensgefährtin Astrid (Namen geändert) einen Schwung alter Briefmarken gekauft. „Als ich diese auf dem Küchentisch ausbreitete, stockte mir der Atem!“, sagt Opa Herbert. Denn vor ihm liegt allem Anschein nach eine absolute Rarität: eine blaue One-Cent-Briefmarke mit dem Konterfei von Benjamin Franklin und einem eingepressten Muster, dem sogenannten „Z Grill“. Sie ist eine der seltensten Briefmarken der Welt, bisher sind lediglich zwei Exemplare bekannt (zum Vergleich: von der „Blauen Mauritius“ existieren noch zwölf2). Darum beträgt der Katalogwert der „Z Grill“ auch stolze drei Millionen Dollar.3
Ob Opa Herbert auf seinem Küchentisch genau diese Marke liegen hat, muss aber erst noch geprüft werden. „Das Echtheitszertifikat kann in diesem Fall jedoch nur die ‚Philatelic Foundation‘ in New York ausstellen“, zitiert “Bild” einen Briefmarkenexperten. Doch da gibt es einen Haken. Opa Herbert: „Ich habe nur 600 Euro Rente. Damit kann ich mir die Reise und die Prüfgebühr nicht leisten.” Verzweifelt suche er jetzt einen Sponsor, schreibt “Bild”, und damit endet der Artikel.
Dann passiert ein paar Tage lang gar nichts. Doch als plötzlich die britische “Daily Mail” über den Fall berichtet4, erkennt “Bild” offenbar das Potenzial der Story und hebt sie groß in die Bundesausgabe: „SAMMLERGLÜCK! Rentner findet 2,5-Mio.-Briefmarke auf dem FLOHMARKT“.5 Nun springen auch andere nationale und internationale Medien auf und berichten über die „Sammlersensation vom Flohmarkt“.6 Ob es sich bei der Briefmarke wirklich um das seltene Stück handelt, stehe aber immer noch nicht fest, schreibt “Bild”: „Offiziell muss die Echtheit der One-Cent-Marke noch von der ‚Philatelic Foundation‘ in New York bestätigt werden. Ohne ein Zertifikat dieser Stiftung kann die Marke nicht in einem Auktionshaus verkauft werden.“
Und dank der bundesweiten Aufmerksamkeit gibt es für die „Briefmarken-Millionäre“, wie “Bild” sie schon nennt, eine gute Nachricht: Ein Verlag für Briefmarkenzubehör bietet an, die Reisekosten nach New York zu übernehmen. Opa Herbert beantragt sofort einen neuen Reisepass: „Mein alter ist fast abgelaufen, genügt für den Flug nach New York nicht mehr.“7
Drei Wochen später ist es dann so weit: Endlich treten Opa Herbert und der “Bild”-Reporter die langersehnte Reise an. Endlich kann die Briefmarke auf Echtheit geprüft werden. Endlich geht es mit dem Flugzeug nach: London. „Jetzt brachte er seine Marke persönlich nach London – zur Wertermittlung. BILD begleitete ihn!“
Nanu? Statt in die USA fliegen sie auf einmal nach England. Und legen die Marke nicht der „Philatelic Foundation“ in New York, sondern der „Royal Philatelic Society“ in London vor. Eine Erklärung für den plötzlichen Kurswechsel liefert “Bild” nicht.
Der Grund ist aber nicht schwer zu erraten. Denn in New York wäre ihnen etwas dazwischengekommen, das der sensationellen Berichterstattung ein schnelles Ende bereitet hätte: die Wahrheit.
Schon einen Tag nachdem “Bild” zum allerersten Mal über den Fall berichtet hatte, also lange bevor die “Bild”-Maschinerie so richtig anlief, hatte die New Yorker „Philatelic Foundation“ bereits öffentlich und sehr eindeutig erklärt, dass die Briefmarke nicht die erhoffte Rarität sei: „Wir haben ihm [Opa Herbert] mitgeteilt, dass es nicht der Z-Grill ist“, sagte David Petruzelli von der Foundation gegenüber der amerikanischen “Huffington Post”, die den Fall in der “Bild”-Zeitung entdeckt und dann bei der Foundation nachgefragt hatte. 8 „Er hat uns einen guten Scan davon zugeschickt. Es ist nicht die Briefmarke“, so das Ergebnis der Experten. Der Mann solle sich nicht damit herumquälen, einen Sponsor zu suchen und nach New York zu fliegen. Das hätten schon viele Sammler getan und seien dann enttäuscht worden. Die Marke von Opa Herbert sei es nicht mal wert, daran zu lecken, jedenfalls nicht im Vergleich zu drei Millionen Dollar. „Ich habe mein Bestes gegeben, ihm zu erklären, dass es nicht die Briefmarke ist. Wir wollten nicht, dass er sich die Mühe macht.” Der Fund sei wahrscheinlich nicht der „Z Grill“, sondern ein „F Grill“. Er schätze den Wert auf unter hundert Dollar.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Leute von “Bild” also gewusst haben, dass an der Geschichte nichts dran ist. Doch statt ihre Leser darüber aufzuklären, geben sie sich erst richtig Mühe, das Märchen von der „Millionen-Marke“ als Wahrheit zu verkaufen. So zitieren sie (eine Woche nachdem der New Yorker Experte erklärt hatte, dass es nicht die besagte Briefmarke sei) unter der Überschrift: „Profis von Millionen-Marke begeistert“ einen deutschen Gutachter mit den Worten: „Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius. Eine Fälschung ist unwahrscheinlich.“9
Derselbe „Gutachter“ erklärt jedoch wenig später dem “Briefmarken Spiegel”:
„Also erstmal bin ich kein Gutachter. Und zweitens sind die Sätze vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe zwar erwähnt, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine echte, also schlichtweg um eine nicht gefälschte Briefmarke handelt, die auch echt gelaufen sein dürfte. Aber ich habe nie behauptet, dass es sich um die besagte Rarität handelt. Dies könnte ich ja auch gar nicht beurteilen.” Dazu in der Lage wäre einzig die Philatelic Foundation.10
Und was die von der Briefmarke hält, wissen wir ja nun. “Bild” aber erwähnt New York einfach überhaupt nicht mehr und reist ohne Erklärung nach London – wo die Marke erst einmal in einem Tresor landet, weil die Prüfung „ein halbes Jahr dauern“ könne, wie “Bild” schreibt.
Am Ende des Tages durfte [Opa Herbert] seine Marke persönlich in den großen Tresorraum der Royal Society legen – wo sie jetzt bleibt. Dann rief er Freundin [Astrid] (71) in Sachsen an: „Es ist geschafft, ich liebe dich!“11
Mit dieser rührenden Szene endet die Serie über das kleine Stück Papier, aus dem “Bild” ein halbes Dutzend Artikel und internationale Aufmerksamkeit generieren konnte. Während die eigentliche Frage, ob es wirklich drei Millionen Dollar wert ist, für die “Bild”-Leser weiter unbeantwortet bleibt.
Im Sauseschritt Ost-West-Konflikt
Die Wahrheit, schreibt Günter Wallraff schon 1977 in „Der Aufmacher“, liege bei “Bild” „oftmals weder in noch zwischen den Zeilen, sie liegt mehr unter den Zeilen, jedenfalls unter den gedruckten“. Gedruckt werde alles, was die Auflage steigert; nicht gedruckt werde, was den Verkauf nicht fördert. „Ein klassisches Prinzip, einfach und gleichzeitig universell anwendbar.“ 12
Dass die Briefmarke von Opa Herbert laut den Experten in New York weniger als hundert Dollar wert ist, wird nicht gedruckt. Und dass auch die Prüfer in London schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass es sich mitnichten um die wertvolle Rarität handelt, wird von “Bild” erst Jahre später in einem Nebensatz erwähnt. Aber auch davon lässt sich die Redaktion nicht beirren: Im selben Artikel behauptet sie weiterhin, Opa Herbert habe die „Millionen-Briefmarke“ gefunden, einen „wertvollen Schatz, der sogar die blaue Mauritius in den Schatten stellt“.13
Diese selektive Realitätsverweigerung ist ein wesentlicher Bestandteil in der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Ein Mittel, das die Redakteure einsetzen, um Geschichten künstlich aufzubauschen und am Leben zu halten. Nicht nur bei den großen, ernsten Themen wie Ausländerkriminalität oder Corona, auch bei kleineren, leichteren wie eben Briefmarken. Oder dem Sandmännchen.
Über das hat der “Bild”-Reporter, der für die Briefmarken-Story verantwortlich war, ein paar Jahre zuvor auch mal einen Artikel geschrieben, der ebenfalls für großes Aufsehen sorgen sollte. „Sandmann in den Westen verkauft“, lautet die Schlagzeile, die im Februar 2009 ausschließlich in den ostdeutschen Ausgaben von “Bild” zu lesen ist. Im Artikel schreibt der Reporter, dass „der Osten“ ab April „die Lizenz für seinen größten TV-Liebling“ verliere:
Generationen von Kindern brachte Sandmännchen (…) seit 1959 ins Bett. Und bis heute schalten ihn täglich 1,5 Mio. Fans ein. Genauso erfolgreich ist der TV-Knirps als Märchenfigur auf den Bühnen zwischen Rügen und Fichtelberg.
Doch damit ist jetzt Schluss. Ausgerechnet zum 50. Sandmann-Geburtstag hat der RBB die Sandmann-Lizenz in den Westen verkauft. Und zwar an das Kölner Theater Cocomico. (…) Der Vertrag läuft vorerst zwei Jahre. Danach können wir wieder auf unseren Sandmann hoffen!14
Tatsächlich wurden lediglich die Musical-Rechte an das Kölner Theater vergeben, wie uns ein RBB-Sprecher damals auf Nachfrage erklärt. Für das Sandmännchen im Fernsehen bleibe alles wie gehabt – was auch “Bild” bekannt gewesen sein dürfte, denn zwei Tage vorher hatte bereits die “Sächsische Zeitung” berichtet, dass sich an der Ausstrahlung im Fernsehen nichts ändere.
Nach Erscheinen des “Bild”-Artikels ruft ein Sprecher des RBB beim Autor des Textes an und weist ihn darauf hin, dass die Berichterstattung irreführend sei. Doch der lässt sich nicht vom Kurs abbringen und schreibt in der nächsten “Bild”-Ausgabe wieder über das Sandmännchen:
Der schnelle Verkauf unseres Sandmännchens in den Westen – Tausende Kinder zwischen Rügen und Fichtelberg sind traurig. (…) „Die Entscheidung, die Lizenz nach Köln zu geben, ist uns nicht leicht gefallen“, räumt [ein RBB-Sprecher] ein.15
Letzteres sei übrigens, wie uns der RBB-Sprecher damals versichert, ein Satz, den “Bild” „komplett frei erfunden“ habe.16 Er selbst habe das „nie gesagt“ – nicht zuletzt deshalb nicht, weil das Sandmännchen im Westen ohnehin längst so beliebt sei wie „zwischen Rügen und Fichtelberg“ und mehrere Jahrzehnte nach dem Mauerfall eigentlich nicht zum Ost-West-Konflikt tauge.
Eigentlich.
„Ist das die Unterhose von Eva Braun?“
Auch bei anderen Themen wird die Wahrheit häufig tief unter den Zeilen begraben. Gut zu beobachten beispielsweise in der Berichterstattung über einen alten Dauergast der “Bild”-Medien.
„Hitlers geheimer Gold-Zug!“, heißt es im Spätsommer 2015 groß auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung, dazu ein Foto von Adolf Hitler, hinter ihm ein mit Kanonen bestückter NS-Zug.17 Im Westen Polens sei „ein verschollener Panzerzug der Wehrmacht entdeckt“ worden, schreibt “Bild”, an Bord sollen sich „von den Nazis geraubte Schätze und Kunstwerke befinden“. Zwei Hobbyforscher seien auf den Sensationsfund gestoßen, weil ihnen ein alter Mann auf dem Sterbebett das Versteck verraten habe. Ein polnischer Minister habe den Fund „zu 99 Prozent“ bestätigt.
In seriösen Medien kommen sofort Zweifel auf. “Spiegel Online” zitiert den polnischen Zentralbankchef, der die Geschichte einen „Hoax“ nennt.18 “Zeit Online” interviewt einen polnischen Geschichtsjournalisten, der sich an die erfundenen Hitler-Tagebücher erinnert fühlt. Auch die angeblichen Beweisfotos seien „dubios“, befindet “Zeit Online” und ahnt: Der Sensationsfund „könnte zur Ente verpuffen“.19
“Bild” hingegen lässt so gut wie keinen Zweifel an der Sache und ist ganz vorne mit dabei: „BILD vor Ort – Was passiert mit Hitlers Gold-Zug?“, „BILD traf den Mann, der das Geheimnis lüften kann“, „Historikerin brachte BILD-Reporter auf die Spur“. Tagelang folgt ein Artikel auf den nächsten: „Nazi-Zug versetzt Experten in Goldrausch“, „Juwelen, Gold, Bernsteinzimmer? Das Geheimnis um den Nazi-Zug von Polen“, „Zeigen Satelliten-Bilder, wo der Nazi-Zug steckt?“, „Geteilte Böschung mit auffälligem Bewuchs: Führt diese Furche zu Hitlers Gold-Zug?“20
Währenddessen machen sich, wie der Korrespondent von “Zeit Online” berichtet, „tausende Schaulustige und Abenteurer“ auf den Weg nach Niederschlesien, „um sich in den teils einsturzgefährdeten und womöglich verminten Stollen auf Schatzsuche zu begeben – und dabei in Lebensgefahr“.21 Sechs Tage später stürzt ein 39-jähriger Mann auf der Suche nach dem Zug in eine Vertiefung und stirbt.22
Als auch in den Wochen danach keiner der zahllosen Schatzsucher fündig wird, verschwindet der vermeintliche Hitler-Schatz nach und nach wieder aus der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Als die Suche einige Monate später offiziell abgebrochen wird23, ist ihnen das nicht mal mehr eine kleine Meldung wert.
Die “Bild”-Artikel zum angeblichen Nazi-Gold-Zug sind auch heute noch online abrufbar. Viele davon sind mit großen Fotos von Adolf Hitler bebildert, einige nur gegen Bezahlung lesbar. Hitler verkauft sich. Was selbst “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sauer aufstößt:
Was mich anwidert, ist, dass Hitler eine Art Marke geworden ist. (…) Was mich nervt, ist seine unverminderte Gegenwart. Hitler-Filme, Zeichnungen von ihm werden in Auktionshäusern feilgeboten, Filme, „Der Untergang“, Bücher, „Er ist wieder da“.
Seine Ur-Enkel sind wieder da, sie werfen Brandbomben auf Flüchtlingsheime.
Mit dem Gold-Zug ist Hitler wieder da. Das Finstere, das Abscheuliche.
Die Schatzsuche nach dem Nazi-Gold ist für mich wie in Scheiße suchen.24
In der wühlt Wagners Heimblatt aber immer wieder gerne. Die Münchner Regionalausgabe von “Bild” zum Beispiel macht ein paar Monate vor dem Nazigoldrausch in Polen eine andere vermeintliche Hitler-Entdeckung, diesmal im Keller einer Hochschule.
„Das ist Hitlers Reichspartei-Badewanne“, titelt sie über dem halbseitigen Foto einer gammeligen Badewanne. Sie sei „schon ganz braun“, witzeln die Autoren: ein „rechteckiges Stück Geschichte – direkt aus Adolf Hitlers Büro-Badezimmer!“ Und exklusiv hinein in die “Bild”-Zeitung. Die Wanne sei zwischen 1933 und 1937 „in das Dienstbad des Diktators“ eingebaut worden und schließlich im Keller der Hochschule gelandet, heißt es im Artikel.25
Auf die Frage, ob sich Hitler „am Feierabend hier bei einem Schaumbad“ entspannte, gibt sich “Bild” die Antwort zwar gleich selbst – „höchstwahrscheinlich nicht“ –, doch das hält sie nicht davon ab, groß über den angeblich sensationellen Fund zu berichten. Belege gibt sie für das alles nicht an, weder Zitate von Experten noch handfeste Spuren oder Beweise, nicht mal ihre Quelle verraten die Autoren.
Der Kanzler der Hochschule erklärt uns damals auf Nachfrage:
Die Meldung ist aufgrund einer nicht autorisierten Auskunft unseres Hausmeisters erschienen. “Bild” hatte einen Bericht über unterirdische Gänge in München bringen wollen. Dabei sahen die Reporter die Badewanne im Keller und haben nachgefragt. Ob die Badewanne wirklich aus Hitlers Badezimmer stammt, wissen wir nicht. Ich wehre mich deshalb stets gegen Spekulationen. Leider war “Bild” nicht bereit, auf die Meldung zu verzichten.26
Stattdessen macht “Bild” aus der ranzigen Badewanne, in der Hitler höchstwahrscheinlich nicht gebadet hat, eine fast ganzseitige Geschichte und lässt jegliche Zweifel unter einer großen Schlagzeile verschwinden.
Im Juni 2017 dominiert Hitler wieder die “Bild”-Titelseite. „Hitlers Silberschatz gefunden“, heißt es dort groß neben einem Foto des Diktators. In Argentinien sei hinter einem Bücherregal ein „bizarrer Nazi-Schatz“ entdeckt worden: „STATUEN, KATZEN-SPARDOSE!“27 Als sich drei Monate später herausstellt, dass es sich um Fälschungen handelt28, ist davon in der “Bild”-Zeitung nichts mehr zu lesen.
„Hitlers geheimer Cognac-Keller entdeckt“, titelt “Bild” im Sommer 2015.29 Hier, in einem Keller in Sachsen, behauptet die Zeitung, habe „Adolf Hitler (†56) Ende 1944 seine Delikatessen und Unmengen Cognac“ versteckt. Beweise dafür hat sie bis heute nicht geliefert.30
„Es ist immer das Gleiche“, heißt es im 1978 erschienenen Dramolett „Der deutsche Mittagstisch“ von Thomas Bernhard: „Kaum sitzen wir bei Tisch an der Eiche, findet einer einen Nazi in der Suppe. Und statt der guten alten Nudelsuppe bekommen wir jeden Tag die Nazisuppe auf den Tisch. Lauter Nazis statt Nudeln.“31
Bei “Bild” wird vor allem einer aufgetischt. „Hitlers Lieblingsbücher“32, „Hitlers Bar“33, „Hitlers Mietvertrag“34, „Hitlers Hoden-Diagnose“35, “Grüner mit Hitler-Droge erwischt”36. Zwischendurch auch mal ein bisschen personelle Abwechslung: „BILD findet Görings Modell-Eisenbahn“37. Oder: „Wie kam Costa Cordalis an den Nazi-Teppich von Goebbels?“38 Oder: „Ist das die Unterhose von Eva Braun?“39
Solche „Hitlereien“ finden sich auch in anderen Medien, schreibt Daniel Erk, der für die Onlineausgabe der “taz” sechs Jahre lang das “Hitlerblog” geführt hat:
In diesen Jahren ist keine, wirklich keine Woche vergangen, in der Hitler nicht Thema in der Presse gewesen wäre, in der nicht irgendein Kasper einen mal guten, mal schlechten Hitler-Witz gemacht hätte oder in der die Symbole und Begriffe des Dritten Reiches nicht in einem abwegigen oder ärgerlichen Kontext aufgetaucht wären. Wirklich: keine einzige Woche.
Zu einem Erkenntnisgewinn hätten die Geschichten aber so gut wie nie geführt:
Idealerweise wäre das ja ein Kommunikationsanlass, um über den Hitler-Wahn, die Ängste, Symbole und Tabus zu sprechen. Stattdessen sieht man immer nur Titelgeschichten über Hitlers letzte Stunden und liebste Hunde. Die Boulevardisierung des Themas hat die Substanz längst verdrängt.40
Aber um Substanz, darum, die Leser zu informieren, geht es ja auch nicht, jedenfalls nicht der “Bild”-Zeitung. Verkauft werden nicht Tatsachen, sondern Geschichten. Und wenn die Fakten nicht zur Schlagzeile passen, werden sie geschickt umgedichtet oder verschwiegen. Dann erwähnen die “Bild”-Medien einfach gar nicht, dass sich der Sensationsfund als Fälschung entpuppt hat. Oder sie fliegen statt nach New York, wo sie die Realität erwarten würde, nach London, wo sie die Geschichte noch weiterfüttern können. Wer sich nur in “Bild” informiert, glaubt womöglich heute noch, dass in Polen ein Nazi-Zug voller Gold gefunden, dass das Sandmännchen in den Westen verkauft und dass Opa Herbert Briefmarkenmillionär wurde.
„Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“
Dass gerade die Hitler-Geschichten in “Bild” seit Jahren so eine prominente Rolle spielen, dürfte aber nicht nur daran liegen, dass sie gut geklickt und gekauft werden. Absurde Schlagzeilen wie „UFO-Sekte will jetzt Hitler klonen!“41 oder „Zeigten Kornkreise Hitlers Bombern den Weg?“42 haben der Zeitung insbesondere unter Chefredakteur Kai Diekmann hin und wieder einen ironischen Touch verliehen: auch mal albern sein, sich selbst nicht so ernst nehmen. In dieser Zeit erschienen immer wieder Geschichten wie „Haben Außerirdische den Windrad-Flügel geklaut?“43, oder „Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“44, oder „Liegt da ein abgehacktes Bein auf dem Mars?“45
Doch seit Julian Reichelt das Steuer übernommen hat, finden solche Blödeleien kaum noch statt. Die “Bild”-Themenseite „Mystery“ („Aliens, Ufos, Übersinnliches“), die unter Diekmann laufend mit bekloppten Ufo-Geschichten befüllt wurde, besteht heute aus Artikeln wie „Mutter (84) und Sohn saßen wochenlang tot auf dem Sofa“46 oder „Wie Corona-Leugner um die Promis werben“47. Generell findet man in den heutigen “Bild”-Medien augenzwinkernde Elemente eher selten. Der Ernst hat Einzug gehalten. Und: die Politik.
Denn unter Reichelt ist auch die scherzhafte Seite von “Bild”, so sie denn mal zum Vorschein kommt, oft politisch aufgeladen. „Ist Wladimir Putin ein unsterblicher Vampir?“, heißt es dann zum Beispiel: „Gruselige Nachrichten zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Ist der Kreml-Chef unsterblich? Beteiligt er sich seit knapp 100 Jahren an russischer Kriegspolitik? Oder sogar schon seit Jahrhunderten?“48
Oder: „Ist Donald Trump die dritte Inkarnation des Teufels? Wird der New Yorker Immobilienmogul einen 27 Jahre langen Weltkrieg auslösen?“, wie “Bild” Anfang 2017 fragt, unter der Überschrift: „Sagte Nostradamus die Trumpocalypse voraus?“49
Andere Albernheiten, mit Aliens und ohne Agenda, hat “Bild” auf vereinzelte Ausnahmen reduziert. Hitler geht aber immer noch.
„Letzter Hitler bricht sein Schweigen!“, verkündet “Bild” im Oktober 2018 exklusiv auf der Titelseite: „BILD traf den Groß-Neffen in den USA“.50 Für die Story hat die Redaktion die komplette Seite 3 der Bundesausgabe freigeräumt, in der Mitte: ein riesiges Foto von Adolf Hitler.
Der Mann, den “Bild” in den USA gefunden hat und „Alexander Hitler“ nennt, soll um viele Ecken ein Nachfahre Adolf Hitlers sein. Mit Medien redet er eigentlich nicht. Als die “New York Times” ihn 2006 aufspürt, bittet er „vehement und wiederholt“ darum, nicht identifiziert zu werden, aus Angst vor einem Mediensturm und davor, dass man ihn fälschlicherweise für einen Nazi halten könnte.51
Er heißt nicht mal Hitler. Das schreibt auch der “Bild”-Redakteur im Artikel – und nennt ihn trotzdem so, immer und immer wieder. „Alexander Hitler lebt in einem Holzhaus.“ „DEAD END steht auf dem Schild vor der Straße, in der Alexander Hitler wohnt.“ „Gepflegt sind dafür die vielen Topfpflanzen, die hier stehen. Fleißiges Lieschen, Bartnelken, Eisbegonien, Funkien. Die amerikanischen Hitlers haben einen grünen Daumen.“
In der kleinen Stadt wisse „fast niemand“, dass der Mann „der letzte Hitler“ sei, schreibt die “Bild”-Zeitung. Und als wollte sie etwas daran ändern, verrät sie, in welcher Gegend der Mann wohnt, beschreibt sein Grundstück, was für ein Auto er fährt. „Er ist groß, zirka 1,85 Meter, trägt ein türkis-weiß-kariertes Hemd und eine beigefarbene Cargohose. Alexander Hitler.“ Im Artikel zeigt “Bild” über die gesamte Seitenbreite ein Foto, das offenbar aus größerer Entfernung aufgenommen wurde: Der Mann steht in der Tür seines Hauses, sein Gesicht ist nicht verpixelt.
Wir haben damals bei “Bild” nachgefragt, ob der Mann wusste, dass er fotografiert wird, und ob er eingewilligt hat, dass dieses Foto veröffentlicht wird. Der “Bild”-Redakteur wollte uns darauf nicht antworten.
Die Geschichte und das unverpixelte Foto des Mannes gehen um die Welt. Stolz präsentiert “Bild” am nächsten Tag „internationale Presse-Reaktionen“52: Zeitungen in England, Spanien, der Türkei „und über 100 weitere Medien“ hätten über die “Bild”-Zeitung und den „letzten Hitler“ berichtet.
Obwohl er weder ein „Hitler“ ist noch „der letzte“ – er hat noch zwei Brüder. Die auch nicht Hitler heißen. Auch bei deren Haus (das “Bild” ebenfalls abbildet) klingelt der Redakteur. „Die Tür öffnet sich einen Spalt. Ein Mann, um die 50 Jahre alt, schiebt das Fliegengitter beiseite und streckt seinen Kopf heraus. Volles, dunkles Haar, glatt rasiertes, kantiges Gesicht. Hitler trägt kurze Hose.“
Als sich der “Bild”-Redakteur als solcher zu erkennen gibt, schließt der Mann sofort die Tür. Und schaltet die Rasensprenger an.
1. Die Grenzen des Boulevard: Über das Leben und Sterben von Kasia Lenhardt (rnd.de, Imre Grimm)
Die 25-jährige Kasia Lenhardt war Model, Influencerin und Mutter. Am Dienstagabend fand die Polizei ihren leblosen Körper in einer Wohnung in Berlin. Die genauen Hintergründe ihres Todes sind noch unklar. Klar ist jedoch, dass sie seit Wochen im Zentrum einer Boulevard-Schlammschlacht stand. Imre Grimm kommentiert: “Dieser Tod hat eine Vorgeschichte, und sie verrät viel über die Mechanismen eines Teils der modernen Medienwelt, die ihr Heil darin sieht, Menschen bedenkenlos als Gossip-Objekte und Glamour-Rohstoff auszubeuten, erst recht, wenn diese von sich aus nach Aufmerksamkeit streben. Die Unschuldsbeteuerungen klingen dabei immer gleich: Ist doch nicht unser Problem. Die profitieren doch davon!”
Weiterer Lesehinweis: Jedes Detail ein Text: “Das Model Kasia Lenhardt ist gestorben. Der Umgang mit ihr sagt viel über frauenfeindliche Narrative in Boulevard- und sozialen Medien.” (taz.de, Carolina Schwarz)
2. LobbyControl befürchtet “Schieflage in der Digitalpolitik” (deutschlandfunk.de, Michael Borgers, Audio: 4:19 Minuten)
Julia Reuss, bisher Büroleiterin von Digitalstaatsministerin Dorothee Bär und Lebensgefährtin von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, wechselt als Lobbyistin zu Facebook. Ulrich Müller von der Initiative LobbyControl findet das problematisch: “Für Facebook ist das Interessante daran, dass sie eine Lobbyistin gewinnen, die gut vernetzt ist, die das politische Geschäft kennt und die dann dabei helfen soll, die Facebook-Interessen stark in die Politik hineinzutragen. Und das ist eben das Problem: Weil wir so viele große Themen vor der Nase haben und es wichtig ist, dass diese zukünftige digitale Regulierung nicht einseitig von den großen Unternehmen wie Facebook bestimmt wird.”
3. Aus Freude am Rassismus (uebermedien.de, Hendrik Wieduwilt)
In der “Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht” des renommierten Beck-Verlags erschien ein Beitrag des Juristen Rüdiger Zuck, in dem dieser “mit rassistischen Ausdrücken um sich wirft, als wäre es braunes Konfetti”, schreibt Hendrik Wieduwilt. Er hat den Fall aufgearbeitet: “Dieser Zuck-Text und die redaktionelle Entscheidung, ihn zu drucken, ist eine Schande für den Verlag und das Juristenmilieu. Juristen sollten sich fragen: Will man in diesem Zusammenhang eigentlich wirklich noch auftauchen? Andere Verlage haben schließlich auch schöne Zeitschriften.”
4. Ausländerkriminalität: Medien und Polizei verzerren das Bild (youtube.com, Zapp, Svea Eckert & Lea Eichhorn, Video: 11:04 Minuten)
Journalisten und Journalistinnen von NDR und BR haben die Berichterstattung über Kriminalität unter die Lupe genommen. Sie haben dazu zahlreiche Polizeipressemitteilungen ausgewertet, die vielen Redaktionen als Grundlage ihrer Berichte dienen. Ein Ergebnis: In der Berichterstattung über Kriminalität würden ausländische Nationalitäten deutlich öfter genannt als deutsche. Svea Eckert und Lea Eichhorn haben mit Chefredakteuren und dem Presserat über die Problematik gesprochen.
5. Wie US-Polizisten mit Uploadfiltern Livestreams verhindern wollten (netzpolitik.org, Markus Reuter)
In den USA hätten laut Markus Reuter Bürgerinnen und Bürger bis auf sehr wenige Ausnahmen das Recht, Polizistinnen und Polizisten bei der Arbeit zu filmen. In Kalifornien haben sich manche der Gefilmten auf eine geradezu putzige Weise dagegen gewehrt: Sie haben im Moment der Filmaufnahme ihr Handy gezückt und urheberrechtlich geschützte Musik abgespielt – offenbar in der Hoffnung, dass die Musikerkennung und die Uploadfilter von Instagram anspringen und eine Veröffentlichung unterbinden.
6. Mehr freie “Zeit” (sueddeutsche.de)
Die “Zeit”-Verlagsgruppe kündigt eine schöne Aktion an: Schülerinnen und Schülern können ab sofort ein kostenloses digitales “Zeit”-Abo bis zum Ende des Schuljahres bekommen. Nach sechs Monaten, zu Beginn der Sommerferien, laufe das Abo automatisch aus, ohne dass eine Kündigung nötig sei. Mit dem Angebot wolle der Verlag vor allem Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 10 bis 13 ansprechen.
1. Was passiert mit meinem Facebook-Profil, wenn ich sterbe? (lto.de, Hasso Suliak)
Die meisten Menschen kümmern sich nicht um ihren digitalen Nachlass und verdrängen das unangenehme Thema. Die Juristin Magdalena Naczinsky ist Mitautorin der Studie “Der digitale Nachlass – Eine Untersuchung aus rechtlicher und technischer Sicht”. Sie empfiehlt, zur Vereinfachung eine Liste der bestehenden Nutzerkonten samt Zugangsdaten zu hinterlassen. Aber Achtung: “Auf keinen Fall sollte eine solche Auflistung in einem Testament erfolgen, da sonst bei der Testamentseröffnung Unbefugte Kenntnis von den Zugangsdaten erlangen können. Wir empfehlen deshalb, dass der Nutzer die Zugangsdaten auf einem verschlüsselten lokalen Datenträger, also zum Beispiel einem USB-Stick, sichert.” Zur Verschlüsselung eigne sich bereits kostenlose Software. Naczinsky weiter: “Der Datenträger ist so mit einem Masterpasswort gesichert, das bei einer Vertrauensperson, etwa einem Notar, hinterlegt ist. Den Datenträger bewahrt der Erblasser selbst auf und im Testament erfolgt lediglich ein Hinweis darauf, wo Datenträger und Masterpasswort hinterlegt sind.”
2. 150.000 neue Verfahren durch Gesetz gegen Hasskriminalität erwartet (zeit.de)
Das Gesetz gegen Hasskriminalität ist nicht nur datenschutzrechtlich umstritten, sondern erfordert auch deutlich mehr juristisches Personal als zuvor. Der Deutsche Richterbund rechnet mit bis zu 150.000 neuen Verfahren pro Jahr, für deren Bewältigung bundesweit etwa 400 zusätzliche Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Strafrichterinnen und -richter nötig seien. “Der Rechtsstaat ist gefordert, der Spirale von Hass und Gewalt klare Grenzen zu setzen. Ohne deutlich mehr Personal und eine weitergehende Spezialisierung in der Justiz wird es aber nicht gehen”, so Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn.
3. So tickt der chinesische Podcastmarkt (horizont.net, Constantin Buer & Vincent Kittmann)
Bei “Horizont” berichten Constantin Buer und Vincent Kittmann einmal im Monat über die neuesten Entwicklungen im Podcast-Business. In der aktuellen Ausgabe geht es um den chinesischen Audiomarkt und dessen Besonderheiten, um die sogenannten “Branded Podcasts” von Unternehmen und um die Frage, wie allumfassend und zielgenau Spotify seine Podcasts zukünftig vermarkten will.
4. Was Kurt Tucholsky schmutzig fand (sudelblog.de, Friedhelm Greis)
Vor knapp zwei Wochen druckte die “taz” eine Glosse von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1922 über “das, was heute Hate Speech heißt”. Tucholsky-Kenner Friedhelm Greis schreibt im “Sudelblog”, dass diese Hasskommentare und Morddrohungen auf eine “klassische Fake-News-Kampagne” reaktionärer Blätter zurückgingen. Tucholsky habe wegen dieser Verleumdungen den Satz geprägt: “Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.” Ein Satz, der heute sinnentstellend im AfD-Umfeld verwendet werde, um sich etwa gegen Kritik an Ausländerfeindlichkeit zu immunisieren.
5. Unterwegs im Ausland 2: Leid und Gefahr in Krisengebieten (anchor.fm, Levin Kubeth, Audio: 1:06:52 Stunden)
Der “Spiegel”-Reporter und Kriegsberichterstatter Christoph Reuter ist ein profunder Kenner des Nahen und Mittleres Ostens (Empfehlung des Kurators: Christoph Reuters Buch “Die schwarze Macht: Der ‘Islamische Staat’ und die Strategen des Terrors”). Im Medienpodcast “Unter zwei” hat sich Levin Kubeth mit Reuter über die gefährliche und spannende Arbeit in den Krisenregionen dieser Welt unterhalten. Technischer Hinweis: Der Link oben ist nur eine Möglichkeit, den Podcast zu hören. Das Gespräch kann auch über die üblichen Podcast-Player oder Spotify angehört werden.
6. Chronik: Januar 2020 (54books.de)
Die Literaturkritiker und -kritikerinnen von “54books” kommentieren die Mediengeschehnisse und Kulturereignisse des vergangenen Monats. Eine lesenswerte und abwechslungsreich durchmischte Chronik, in der es unter anderem um die Ereignisse beim WDR, Beethovens Geburtstag und den “Großschriftsteller” Uwe Tellkamp geht.
Mit einem Schiff und regelmäßigen Bootstouren durch das Berliner Regierungsviertel will Herausgeber Gabor Steingart den deutschen Journalismus retten. Für den Anfang wäre es aber schon hilfreich, wenn er sich Statistiken, über die er schreibt, vorher auch mal anschauen würde.
Das Bundesfamilienministerium hat erst kürzlich die jährliche Studie zur Partnerschaftsgewalt vorgelegt.
Die “jährliche Studie zur Partnerschaftsgewalt” wird nicht vom Bundesfamilienministerium vorgelegt. Zwar hat Familienministerin Franziska Giffey die Statistik vor wenigen Tagen anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen herangezogen, um auf das Problem aufmerksam zu machen — erstellt und herausgegeben (PDF) wird sie aber vom Bundeskriminalamt (BKA).
Steingart schreibt zu den Zahlen:
Ein Drittel der männlichen Täter besitzt keine deutsche Staatsangehörigkeit, was bei einem Ausländeranteil von zwölf Prozent in Deutschland ein überproportionaler Anteil ausländischer Täter wäre.
Das ist erstens unpräzise, denn in den BKA-Zahlen geht es immer um Tatverdächtige und nicht um Täter. Und zweitens ist es ein krummer Vergleich: Steingart setzt den Anteil männlicher Tatverdächtiger in Relation zum gesamten Ausländeranteil in Deutschland, zu dem dann auch Frauen und Kleinkinder zählen. Hinzu kommt, dass das BKA stets darauf hinweist, dass ein solcher Vergleich zwischen Tatverdächtigen und Wohnbevölkerung auf Grundlage seiner Zahlen gar nicht möglich sei. In der aktuellen Ausgabe der Polizeilichen Kriminalstatistik (PDF) etwa schreibt die Behörde zu den “Bewertungsproblemen” bei “nichtdeutschen Tatverdächtigen”:
Ein Vergleich der tatsächlichen Kriminalitätsbelastung der nichtdeutschen Wohnbevölkerung mit der deutschen ist schon wegen des Dunkelfeldes der nicht ermittelten Tatverdächtigen in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht möglich. Ferner enthält die Bevölkerungsstatistik keine Angaben zu bestimmten Ausländergruppen wie vor allem Personen ohne Aufenthaltserlaubnis, Touristinnen und Touristen, Durchreisende, Besucherinnen und Besucher, Grenzpendlerinnen und Grenzpendler und Stationierungsstreitkräfte, die jedoch in der Kriminalstatistik als Tatverdächtige mitgezählt werden. Die Volkszählungen von 1979 und von 2011 haben gezeigt, dass auch die Daten der gemeldeten ausländischen Wohnbevölkerung (fortgeschriebene Bevölkerungsstatistik) sehr unzuverlässig sind.
Die Kriminalitätsbelastung der Deutschen und Nichtdeutschen ist zudem aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Zusammensetzung (Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur) nicht vergleichbar. Die sich in Deutschland aufhaltenden Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sind im Vergleich zur deutschen Bevölkerung im Durchschnitt jünger und häufiger männlichen Geschlechts. Sie leben eher in Großstädten, gehören zu einem größeren Anteil unteren Einkommens- und Bildungsschichten an und sind häufiger arbeitslos. Dies alles führt zu einem höheren Risiko, delinquent und damit als Tatverdächtige polizeiauffällig zu werden.
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass nicht-deutsche Tatverdächtige in den BKA-Zahlen zur “Partnerschaftsgewalt” überrepräsentiert sind. Man kann es aber nicht so simpel belegen, wie Gabor Steingart es versucht.
Aber der eigentliche Punkt, um den es Steingart geht, ist ja sowieso ein anderer: Flüchtlinge. Dazu zitiert er “die in Istanbul geborene Publizistin und Frauenrechtlerin Necla Kelek”, die zuvor in Steingarts Podcast “Morning Briefing” zu Gast war:
Mit den Flüchtlingsströmen habe man Gewaltbereitschaft “importiert”, so Kelek.
Steingart nennt zwei “Schlussfolgerungen” Keleks. Erstens:
“Unsere Gesellschaft muss begreifen: Der Islam ist nicht einfach eine spirituelle Religion, gleichgesetzt mit der katholischen oder evangelischen Kirche, sondern der Islam kann als ein Gesellschaftssystem gelebt werden. Das müssen wir unbedingt verhindern.”
Und zweitens:
“Warum steigen die Zahlen seit 2015, seitdem wir eine sehr, sehr große Gruppe geflüchteter Menschen, beispielsweise aus dem Orient und aus Nordafrika haben. Diese Zusammenhänge werden überhaupt nicht hergestellt.”
Schaut man sich die BKA-Statistiken etwas genauer an, sieht man, dass es ziemlich tendenziöses Geraune ist, das Kelek da von sich gibt und Steingart weiterträgt.
Von den 117.473 Tatverdächtigen, die das BKA für 2018 nennt, sind 38.714 nicht-deutsche. Die zehn am stärksten vertretenen Nationalitäten unter diesen nicht-deutschen Tatverdächtigen sind:
Türkei (6694 Tatverdächtige)
Polen (3042)
Syrien (2759)
Rumänien (1909)
Italien (1624)
Afghanistan (1563)
Serbien (1500)
Irak (1228)
Kosovo (1165)
Bulgarien (1163)
Die Polen, Rumänen, Italiener, Serben und Bulgaren dürften mehrheitlich keine Muslime sein, die den Islam “als ein Gesellschaftssystem” leben. Die Türken dürften mehrheitlich nicht zu der “sehr, sehr großen Gruppe geflüchteter Menschen” zählen, die “seit 2015” nach Deutschland gekommen ist. Dass Kelek auch die Geflüchteten aus Nordafrika erwähnt, zeigt, dass sie keinen blassen Schimmer hat, was in der BKA-Statistik steht. Lediglich Marokko taucht darin mit 643 Tatverdächtigen auf. Die Länder Nordafrikas spielen in der Statistik zur “Partnerschaftsgewalt” also so gut wie keine Rolle.
Bleiben noch die Syrer, Afghanen und Iraker. Von ihnen gibt es tatsächlich mehr Tatverdächtige bei der “Partnerschaftsgewalt” als 2015 — was nach dem Zuzug von vergleichsweise vielen Syrern, Afghanen und Irakern auch keine ganz große Überraschung ist. Und dennoch: Mit 5550 Tatverdächtigen machen sie gerade mal 4,7 Prozent aller 117.473 Tatverdächtigen aus. Das reicht Gabor Steingart, um Panik zu verbreiten: Wir Deutschen hätten mit den “Flüchtlingsströmen” die Gewaltbereitschaft gegen Frauen importiert — als wäre das nicht seit Jahrzehnten auch ein urdeutsches Produkt.
Auch ganz allgemein und unabhängig von Nationalitäten taugt die BKA-Statistik übrigens nicht, um einen Anstieg bei der “Partnerschaftsgewalt” durch “Flüchtlingsströme” “seit 2015” zu belegen. Das BKA hat die Statistik erstmals für das Berichtsjahr 2015 herausgegeben. Für einen Zeitraum davor existiert keine derart detaillierte Auswertung, mit der man aktuelle Zahlen vergleichen könnte.* Seit der ersten Ausgabe hat sich die Zahl der Tatverdächtigen zwar kontinuierlich erhöht (2015: 108.363, 2016: 113.080, 2017: 116.318, 2018: 117.473), allerdings nur um wenige Prozent. Das könnte laut Familienministerin Franziska Giffey auch an der gestiegenen Bereitschaft, Anzeige zu erstatten, liegen. Und es dürfte auch damit zu tun haben, dass das BKA ab 2017 zusätzlich die Deliktsbereiche Nötigung, Freiheitsberaubung, Zuhälterei und Zwangsprostitution in die Statistik aufgenommen hat. Die Behörde schreibt zwar nicht, wie viele Tatverdächtige dadurch 2017 und 2018 hinzugekommen sind. Aber bei den Opfern sind es 6898 von insgesamt 138.893 Personen (2017) beziehungsweise 6817 von insgesamt 140.755 Personen (2018).
Der fehlerhafte, krumme und tendenziöse Gastbeitrag von Gabor Steignart hat in den Sozialen Netzwerken eine beachtliche Runde gedreht. Besonders gut kam er bei AfD-Ortsverbänden, “Pegida”-Anhängern und FPÖ-Politikern an.
Ebenfalls zum Thema: Elisabeth Raether und Michael Schlegel haben für die “Zeit” in einer besonderen Rechercheleistung alle 122 Fälle aus dem Jahr 2018, in denen Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern umgebracht wurden, dokumentiert: Von ihren Männern getötet.
*Nachtrag, 16:54 Uhr: In seiner ersten Statistik zur “Partnerschaftsgewalt” aus dem Jahr 2015 (PDF) hat das BKA immerhin Zahlen aus den Jahren 2012, 2013 und 2014 genannt, allerdings nur zu den Opfern und nicht zu den Tatverdächtigen. Aber auch die besitzen ja eine Aussagekraft: 2012 waren es 120.758 Opfer, 2013 stieg die Zahl auf 121.778 und 2014 noch einmal auf 126.230. 2018 waren es, wie bereits geschrieben, 140.755 Opfer. Das heißt, dass seit 2014 — also dem Zeitpunkt, zu dem laut Necla Kelek noch nicht “eine sehr, sehr große Gruppe geflüchteter Menschen” nach Deutschland gekommen war — die Zahl der Opfer um 11,5 Prozent gestiegen ist. Allerdings hat das BKA, wie ebenfalls weiter oben bereits beschrieben, in der Zwischenzeit auch neue Deliktsbereiche in die Statistik aufgenommen. Rechnet man diese für 2018 heraus, ergibt sich bei den Opfern eine Steigerung von 6,1 Prozent seit 2014.
In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es in Hessen 115 Fälle von Straf- und Gewalttaten im sogenannten Phänomenbereich der politisch motivierten Gewalt – rechts; im Phänomenbereich der politisch motivierten Gewalt – links waren es von Januar bis März 52 Fälle. Das geht aus zwei Antworten des hessischen Innenministeriums (PDF und PDF) auf Kleine Anfragen der SPD-Fraktion hervor.
Vergleicht man die Zahlen zu linken und rechten Straftaten, gab es also mehr als doppelt so viele “Straf- und Gewalttaten mit rassistischem, antisemitischem, rechtsextremistischem und/oder ausländerfeindlichen Hintergrund”. Und was landet in der Frankfurter “Bild”-Ausgabe in der Überschrift?
Die rechten Straftaten erwähnt die Redaktion nicht mit einem Wort. Die komplette Meldung im Blatt lautet:
2018 gab’s in Hessen 227 Fälle linker Kriminalität, darunter 20 Gewaltdelikte. 2017 waren es noch 183 Fälle (20 Gewalttaten). In den ersten drei Monaten zählt das Innenministerium bereits 52 Fälle, darunter fünf Gewaltdelikte.
In 34 Fällen war Frankfurt der Tatort. Dahinter: Fulda (7) Wiesbaden (2).
30 Tatverdächtige wurden ermittelt, davon waren zehn weiblich. Bei den Gewalttaten handelt es sich überwiegend um Angriffe auf Polizeibeamte bei Demonstrationen.
Der Vollständigkeit halber: 2018 gab’s in Hessen 603 Fälle rechter Kriminalität, darunter 27 Gewaltdelikte. 2017 waren es 602 Fälle (18 Gewalttaten).
Nachtrag, 27. August: Vor rund zwei Wochen hatte die Frankfurter “Bild”-Redaktion doch auch über die rechten Straftaten berichtet — ohne dabei die linken Straftaten zu erwähnen. Das haben wir bei unserer Recherche übersehen, wofür wir um Entschuldigung bitten möchten.
Auch bei Bild.de sind diese Zahlen erschienen. Über dem Artikel steht:
115 POLITISCH MOTIVIERTE TATEN IN DREI MONATEN — Die Liste der Schande
… was nicht so wirklich stimmt, schließlich waren es in den drei Monaten Januar, Februar und März 115 rechte und 52 linke, insgesamt also 167 politisch motivierte Straftaten in Hessen.