Wankelmut, dein Name ist Franz Josef Wagner! Noch zwei Tage vor der Landtagswahl sprach der launige “Bild”-Kolumnist dem Baden-Württemberger Grünen-Chef Winfried Kretschmann das Vertrauen aus:
Für mich sind Sie ein Grüner der neuen Art. Eigentlich müssten Sie bei der CDU sein. Sie gehen in die Kirche, glauben an die Schöpfung.
Sie haben nichts mehr von den Grünen, die Pullover strickten. Sie tragen einen Lehrer-Anzug, grau.
Lieber Ethiklehrer Winfried Kretschmann, vor Ihnen habe ich keine Angst.
Doch schon in seinem gestrigen Brief an die “lieben Baden-Württemberger” fällt Wagner wieder in alte Muster zurück und malt den Untergang eines Wirtschaftsstandorts an die Wand:
58 Jahre hat Euch die CDU regiert.
Ihr habt Häusle, manche haben zwei Autos, ältere Erwachsene spielen Golf. (…)
Nach 58 Jahren CDU wählt Ihr Grün.
Schmeckt Euch Euer Steak nicht mehr, langweilt Euch Euer Daimler, seid Ihr überdrüssig Eures Glücks?
Um seine mahnenden Worte zu unterstreichen, konstruiert Wagner auch gleich noch die nötige Fallhöhe:
täusche ich mich, wenn ich denke, dass Ihr stolz auf Euer Ländle seid? Die niedrigste Arbeitslosenquote, 4,6 Prozent. Beim Pisa-Test sind Eure Kinder Europas Beste.
Mal davon ab, dass die Arbeitslosenquote im Januar 2011 bei 4,7 Prozent und im Februar bei 4,5 Prozent lag, wirklich aus der Luft gegriffen ist die Behauptung, baden-württembergische Kinder wären “Europas Beste” beim “Pisa-Test”. In der letzten Pisa-Studie aus dem Jahr 2006, in der sowohl einzelne Bundesländer als auch ganze Staaten untersucht wurden, lag Baden-Württemberg zwar über dem bundesdeutschen Schnitt, kam aber in fast allen Bereichen hinter Bayern und Sachsen sowie europaweit hinter Finnland, den Niederlanden und Belgien.
Tatsächlich hat Baden-Württemberg sogar gewisse Bildungsprobleme wie aus einer aktuelleren Studie hervorgeht:
Besonders ausgeprägt ist das soziale Bildungsgefälle in Baden-Württemberg und Bayern, wo die Chancen von Akademikerkindern gegenüber gleichintelligenten Facharbeiterkindern 6,6 beziehungsweise 6,5 mal so hoch sind.
Ein Missstand, den die von Wagner ach so gefürchteten Grünen laut eigenem Wahlprogramm sogar bekämpfen wollen.
Heute erklärt uns Franz Josef Wagner mal, warum “wir” (also die Menschen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz) eigentlich die Grünen wählen. Der Brief gehört selbst in der Rubrik “Post von Wagner” zu den spezielleren Exemplaren.
Beginnen wir daher mit dem Offensichtlichen: Anders als Wagner behauptet, hatten die Menschen in den 1980er Jahren nicht Angst vor einem “Walsterben”, sondern vor dem Waldsterben.
Etwas komplexer ist da schon diese Passage:
250 000 Atomkraftgegner demonstrierten in Deutschland am Wochenende, in Tokio, der 40-Millionen-Stadt, demonstrierten zur gleichen Zeit nur kümmerliche tausend.
In unserer Luft ist nichts, unsere Luft ist rein. Vor lauter Angst gehen wir auf die Straße, vor lauter Angst wählen wir grün.
Mal davon ab, dass die Menschen in Tokio vielleicht gerade auch noch etwas anderes zu tun haben als zu demonstrieren, haben die deutschen Atomkraftgegner ja nicht demonstriert, obwohl “unsere Luft” “rein” ist, sondern damit sie es bleibt: Ihr Ziel ist die Abschaltung deutscher Atomkraftwerke.
Und dann ist da noch der Aufhänger von Wagners Text, die “German Angst”:
Liebe “German Angst”,
ich glaube, dass Du die Wahl in Baden-Württemberg mitentschieden hast. Der Begriff “German Angst” klingt zwar deutsch, kommt aber aus dem englischen Wortschatz. Es gibt nur vier deutsche Worte, die englische Umgangssprache wurden. Kindergarten, Rucksack, Weltschmerz, “German Angst”.
Oder “Schadenfreude”, “Zeitgeist”, “Blitzkrieg” “Leitmotif”, oder, oder, oder …
Mit Dank an Hauke H., Timon S., Martin R., Mutlu Y. und Jens W.
Nachtrag, 29. März: In einigen Druckausgaben scheint jemand Wagner korrigiert zu haben. Zumindest steht dort “Waldsterben”.
Instinktkolumnist Franz Josef Wagner hat natürlich auch zum überraschenden Tod vom “lieben armen Eisbären Knut” eine Meinung:
Ich hasse Zoos. Ich hasse Gefängnisanstalten für Tiere. Die Zoodirektoren sollten in ihre Zoogefängnisse eingesperrt werden. Freiheit für alle gefangenen Tiere. Was für eine schöne Welt wäre das.
Das ist immerhin insofern überraschend konsequent, als Wagner, der sonstdazuneigt, sich selbst zu widersprechen, schon seit Jahren beijederGelegenheit gegen die Haltung von Zootieren wettert.
Leider weiß Wagner zumindest im Falle Knut nicht, wo diese “Freiheit für alle gefangenen Tiere” denn eigentlich genau wäre:
Knut war auch so ein Gefangener. Von seiner Heimat, der Antarktis, wusste vielleicht seine DNA. Im Eis leben, unter Eisschollen Robben fangen, im Schnee wandern.
Knut hätte in der Antarktis, also am Südpol, zwar durchaus “Robben fangen” und “im Schnee wandern können”, er wäre dabei aber wohl ziemlich einsam gewesen. Denn Eisbären, das weiß doch jedes Kind, wohnen am Nordpol, also in der Arktis.
Immerhin ist auch das konsequent, nachdem Wagner schon vor ziemlich genau vier Jahren in seinem Brief an das “liebe Eisbär-Baby Knut” geschrieben hat:
Man hat Dir Antibiotika gespritzt, weil es in der Antarktis keine Viren und Bakterien gibt.
Nach der Volks-Pizza, dem Volks-Joghurt und dem Volks-PC präsentiert “Bild” heute stolz das neueste Mitglied der Produktpalette: das Volks-Kammerergebnis.
Das Ergebnis der großen Telefon- und Fax-Abstimmung (BILDblog berichtete) unterscheidet sich marginal von der Umfrage auf Bild.de, auf die die Redaktion inzwischen aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr verlinkt:
Da “Bild” seine Leser auch gebeten hatte, Begründungen für ihr Votum einzureichen, war die Seite 2 heute schnell gefüllt: 19 Pro-Guttenberg-Leserzuschriften stehen drei gegenüber, die den Minister zum Rücktritt auffordern — womit das Abstimmungsergebnis exakt repräsentiert wird.
Unter den Leserbriefen finden sich Meinungen wie diese:
“Fehler machen wir alle. Wir und unsere Kinder brauchen Politiker wir Herrn zu Guttenberg. Deshalb, Herr Minister: Bleiben Sie bitte im Amt.”
Svenja R. (41), Golf-Managerin aus Sch. (NRW)
(Alle Anonymisierungen von uns.)
Auch Leute, die sich mit Berufsehre auskennen, kommen zu Wort:
“Als Handwerksmeister werde ich nach meinen handwerklichen Fähigkeiten beurteilt. Ob ich einen Doktortitel habe, spielt dabei keine Rolle. Das gleiche muss auch für Politiker gelten!”
Hermann R. (76), ehem. Installateurmeister aus Sch. (Hessen)
Doch nicht alle Zuschriften sind so schlüssig:
“Im Dritten Reich musste mein Vater ins Gefängnis, weil er sich für die Wahrheit eingesetzt hat. Auch heute haben in Deutschland nur wenige den Schneid, eigene Fehler einzugestehen. Herr Guttenberg hat das getan. Deshalb wünsche ich mir, dass er Minister bleibt.”
Amoene Sybille R. (75), Rentnerin aus W.
Es lohnt sich, malwieder einen Blick in die Archive zu werfen: Nachdem die Spitzenkandidatin der hessischen SPD, Andrea Ypsilanti, im Jahr 2008 beim Versuch einer Regierungsbildung von ihrem ursprünglichen Vorhaben abgelassen hatte, “keine Zusammenarbeit” mit der Linkspartei einzugehen (“weder so noch so”), nannte “Bild” sie fortan einigermaßen konsequent “Frau Lügilanti” und veröffentlichte damals Leserbriefe wie diese:
Jedem Arbeitnehmer, der seinen Chef belügt, droht die fristlose Kündigung (“Vertrauensbruch”). Frau Ypsilanti hat ihren Arbeitgeber, den hessischen Steuerzahler, aufs Tiefste belogen.
Christian L., O. (Niedersachsen)
Sie ist doch in guter Gesellschaft. Und da wundern sich die Politiker, wenn die Wahlbeteiligung zurückgeht. Ich habe schon lange den Glauben an die Aufrichtigkeit der Politiker verloren.
Gerhard H., C. (Niedersachsen)
Franz Josef Wagner schrieb damals einen (selbst für seine Verhältnisse bemerkenswerten) Brief an die “Liebe Lüge” und erklärte:
Wenn ich mich über die Lügnerin Ypsilanti empöre, dann muss ich mir die Frage gefallen lassen, ob ich selbst ein wahrheitsliebender Mensch bin. Als Kolumnist ja, glaube ich. Privat – das ist Ansichtssache.
Schon im Februar 2008 hatte Wagner an Andrea Ypsilanti geschrieben:
Frau Ypsilanti, Sie müssen sich an Ihre Wahlversprechen halten, weil sonst das Bescheißen überhandnimmt. Der Diebstahl am Arbeitsplatz, die Steuerhinterziehung. Wenn Lügen in Deutschland schick werden, dann haben wir einen nationalen Notstand. Ich fordere Sie auf, nicht zu betrügen, weil wir doch alle moralisch sein wollen.
Wagner gerierte sich lange als Verteidiger des einfachen Volkes. Über unrechtmäßig erlangte Erfolge schrieb Wagner im Januar 2008:
Lieber Oskar Lafontaine,
ich habe Ihnen noch gar nicht zu Ihren Wahlerfolgen (7,1 und 5,1 Prozent) gratuliert. Ich sage Ihnen, warum. Weil ich einem Doping-Betrüger auch nicht gratuliere. Sie dopten Ihre Wähler mit den Drogen “Weg mit Hartz IV”, “Weg mit der Rente mit 67”, “Raus aus Afghanistan”.
Das ist, wie wenn man verspricht: nie mehr Zahnweh, nie mehr Liebeskummer, nie mehr Insektenstiche.
Was mich empört ist, dass die Mächtigen glauben, dass das alles normal ist. Als wären sie Könige, etwas Besseres. Mehr als wir.
Den Post-Chef Klaus Zumwinkel, der wegen Steuerhinterziehung vor Gericht stand, wollte Wagner “wegen Heuchelei” zu drei Jahren Gefängnis verurteilen. Doch das ging leider nicht:
Heuchelei ist kein Straftatbestand. Sie heuchelten Tugendhaftigkeit nach außen, aber in Ihrem Inneren waren sie nicht sittlich.
Und dann war da noch die Supermarkt-Kassiererin, die wegen der Unterschlagung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro entlassen worden war, und der Wagner ins Stammbuch schrieb:
Es ist der kleine Beschiss, Du nimmst dir was mit aus Deiner Firma, einen Kugelschreiber, eine Tintenpatrone für deinen Computer daheim. (…) Was ich denke, ist: Man darf nicht im Kleinen und im Großen bescheißen.
Man darf nicht bescheißen!
Was fast klingt wie ein göttliches Gebot, ist wohl eher als Regel zu verstehen. Und die werden bekanntlich von Ausnahmen bestätigt.
Mit besonderem Dank an Christoph S. und die vielen anderen Hinweisgeber!
Es sieht nicht gut aus für den Mann mit der titanischen Beliebtheit im Polit-Barometer, die Lichtgestalt, den potentiellen Ministerpräsidenten von Bayern und Kanzler von Deutschland — also für den Liebling der “Bild”-Zeitung, Karl-Theodor zu Guttenberg: In seiner Doktorarbeit finden sich immer mehr Stellen, die ohne Hinweis aus anderen Quellen übernommen wurden.
Doch Hilfe naht in Gestalt von Franz Josef Wagner, der einen “Sumpf der Eifersucht” wittert und von einer “Jagd auf Guttenberg” spricht. Er schreibt dem “lieben Dr. Guttenberg”:
Die Plagiatsvorwürfe sollen Sie zu einem Taugenichts reduzieren, einem Abschreiber, einem Betrüger. (…)
Ich habe keine Ahnung von Doktorarbeiten. Ich flog durchs Abitur und habe nie eine Universität von innen gesehen. Also, ich kann von außen sagen: Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor.
Das ist bemerkenswert, denn vor ziemlich genau anderthalb Jahren hatte Wagner noch recht exakte Ansichten zu Doktortiteln. Damals wurde gegen rund 100 Professoren wegen des Verdachts ermittelt, Doktortitel gegen Geldzahlungen vergeben zu haben, und Wagner erklärte den “Uni-Luschen”:
Sich einen falschen Busen oder falsche Haare auf die Glatze einpflanzen zu lassen, ist nicht unmoralisch. Sich ein falsches Gehirn einpflanzen zu lassen, muss per Gesetz bestraft werden. Ein Doktortitel ist kein Busen, kein Facelifting und keine Straffung des Popos.
Der Doktortitel war einmal das Edelste der forschenden Studierenden. Wenn der Doktortitel heute verramscht wird, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn Nobelpreise andere kriegen. Der Doktortitel war früher ein Juwel, er ist heute Blech. Er ist für Geld zu kaufen.
Wann genau Wagner seine Ansichten geändert hat, ist auch diesmal nicht bekannt.
Mit Dank an Ralf M. und die vielen anderen Hinweisgeber.
Seit der Verleihung der “Goldenen Kamera” am Samstagabend scheint es im deutschen Medienbetrieb nur noch ein Thema zu geben: Das Comeback der TV-Moderatorin Monica Lierhaus nach einer schweren Krankheit.
Auch Franz Josef Wagner nahm sich ihrer Geschichte an und schrieb an die “liebe Monica Lierhaus”:
Sie waren die beste Sportreporterin, cool, frech. (…)
Ich denke, dass Sie heute die noch bessere Monica Lierhaus sind. Die wahre. Die coole. Die Fighterin.
Zu dieser Einschätzung muss Wagner in den letzten Jahren gekommen sein — im Juni 2006 hatte er anlässlich der Fußball-WM nämlich noch eine ganz andere Meinung über Frau Lierhaus’ Qualitäten als Sportreporterin:
Liebe Monica Lierhaus,
in dem Drama “22 Männer und ein Ball” sind Sie, offen ins Gesicht gesagt, eine Fehlbesetzung. In Serien wie “Die Augenchirurgin” oder “Die Gletscherforscherin” wären Sie wunderbar. Auch als Expertin für die Bauchspeicheldrüse würden Sie eine gute Figur abgeben. Ihr Fußballgeplapper dagegen ist unterirdisch.
Für mich haben Sie die Stimme einer Sparkassenangestellten. Ich denke nicht, daß Ihnen ein Spieler erzählt, wie verzweifelt er ist. Ich denke, daß man einer strengen Frau wie Ihnen überhaupt nichts erzählt.
Wagner schloss damals mit den Worten “Man sagt, Frauen können alles. Auch Fußball?”. Seit wann genau er diese Frage mit “Ja” beantwortet, ist nicht überliefert.
Vor wenigen Tagen jährte sich der Todestag des Fußballers Robert Enke zum ersten Mal. In den Wochen nach seinem Suizid hatten Sportfunktionäre und Journalisten über den Druck in der Leistungsgesellschaft gesprochen und für mehr Menschlichkeit geworben.
“Wir werden wohl mit extremen Noten etwas vorsichtiger sein”, sagt der stellvertretende Bild-Sportchef. Man werde sich einmal mehr überlegen, “ob der Spieler, der eine klare Torchance vergeben hat, oder der Torwart, der den Ball hat durchflutschen lassen, eine Sechs bekommt oder eine Fünf reicht”.
Die Schonfrist war bereits nach wenigen Wochen vorbei.
Es ist interessanterweise Franz Josef Wagner, der in den vergangenen Wochen mehrfach betont hat, dass sich seit Enkes Tod nichts geändert habe, und der in einem Brief an den Verstorbenen selbst schrieb:
Als Robert Enke vor einem Jahr starb, wollten wir alle, dass wir bessere, sensiblere Menschen werden. Wir wurden es nicht.
Wagner muss es wissen, denn das Medium, in dem er täglich schreibt, präsentiert sich immer mal wieder als unsensibel. Zum Beispiel, wenn es um ein nicht geschossenes Tor geht, das nicht einmal spielentscheidend gewesen wäre:
Bild.de hat den Artikel in der Zwischenzeit entfernt …
… und neu online gestellt — offenbar, weil den Redakteuren eine schönere Dachzeile samt Alliteration eingefallen ist:
Die Gedankengänge von “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sind ja schon an normalen Tagen kaum nachvollziehbar. Aber mit seiner jüngsten “Post von Wagner” sichert sich der Gossen-Goethe bzw. Gaga-Kolumnist wohl endgültig einen Platz im Olymp des Unfugs.
Die “Post von Wagner” vom Freitag war nämlich an das Wort Terror adressiert. Klingt komisch, ist aber im Rahmen der Kolumne nicht ungewöhnlich. Wagner schreibt:
Böses Wort Terror,
Terror ist lateinisch, das Verb terrere bedeutet erschrecken. Das Wort ist über 2000 Jahre alt.
So weit ist alles noch richtig, doch dann sitzt Wagner einem Irrtum auf, bei dem Klassischen Philologen und Latein-Lehrern die Haare zu Berge stehen dürften:
Historiker übersetzen terrere auch mit: “die aus dem Untergrund kommen”.
Terra – die Erde.
2000 Jahre später ist Deutschland in Terror-Angst. Irgendetwas kommt unsichtbar aus der Erde.
Werden wir also von Maulwurfmonstern aus der Tiefe bedroht? Nein: Mal davon abgesehen, dass die lateinische Sprache eher in das Fachgebiet von Klassischen Philologen fällt, sind ernsthafte Zweifel an der Kompetenz der Historiker, die Wagner hier anführt, berechtigt. Denn die Begriffe “Terror” und “Terra” haben etymologisch soviel miteinander gemein wie die deutschen Begriffe “Wurst” und “Durst” — nämlich vier Buchstaben.
Während die Wurzeln von “terrere” im indogermanischen “trásati” (zittern) und im griechischen τρέω bzw. τρέσω (sprich: tréo bzw. treso) zu suchen sind, bedeutet “terra” in etwa “das Trockene” (siehe griech. τεραίνω (teraino) bzw. lat. torrere “dörren, trocknen”)*.
Der ähnliche Klang von “Terror” und “Terra” ist also dem Zufall geschuldet. Während man “terrere” immer noch am besten mit “erschrecken” übersetzt, lautet der lateinische Begriff für “die aus dem Untergrund kommen” am ehesten “subterranei”.
Übrigens: Das Wort “Bildung” ist etymologisch mit dem Wort “Bild” verwandt. Das war’s dann aber auch an Gemeinsamkeiten.
*Quelle: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, ausgearbeitet von Karl Ernst Georges, hg. von Heinrich Georges (ND der 8. Auflage), Bd. 2, Darmstadt 1998.
Seit gestern erscheint in “Bild” der Vorabdruck eines Buchs über den Fußballer Robert Enke, der unter Depressionen litt und sich im vergangenen November das Leben genommen hat. Anlass genug für Franz Josef Wagner, Enkes Witwe Teresa am Montag mit einem Brief zu behelligen:
Wagner schließt mit einer Feststellung, von der man nicht ganz genau weiß, ob sie resigniert oder vorwurfsvoll sein soll:
Klose schießt kein Tor, Gomez auf der Ersatzbank. Wir hauen auf sie drauf und bejubeln sie.
Dieses “wir”, das Wagner da verwendet, ist diesmal keine seiner üblichen Anmaßungen im Sinne von “alle, die meiner Meinung sind”, “wir Deutschen” oder “wir Menschen” — Wagner spricht von der Zeitung, für die er arbeitet.
Denn 16 Seiten hinter seinem Brief wurde auch gestern ordentlich draufgehauen:
Allerdings war “Bild” sowieso schon im Januar wieder zu alter Form aufgelaufen.
Die Ironie hielt sich für Leser der Printausgabe allerdings in Grenzen: Wagners Schlusssatz mit dem “wir” fehlt in der gedruckten “Bild”.
Es ist ein Glücksfall für die Boulevardmedien dieser Republik: Die Richter des “Brunner-Prozesses” (benannt nach dem Opfer Dominik Brunner) haben das Staffelholz an die Richter des “Kachelmann-Prozesses” (benannt nach dem Angeklagten Jörg Kachelmann) übergeben, die Gerichtsreporter müssen ihre Koffer gar nicht erst auspacken und beleben nach der Münchener jetzt die Mannheimer Hotelwirtschaft. Vorher gab es in München aber noch die Urteile: Neun Jahre und zehn Monate Jugendhaft wegen Mordes in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung für den 19-jährigen Haupttäter, sieben Jahre Jugendhaft wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie versuchter räuberischer Erpressung für seinen 18-jährigen Mittäter.
Das mit der Körperverletzung mit Todesfolge hatte Bild.de Anfangs allerdings nicht ganz verstanden und zum “Totschlag” umdeklariert:
Überhaupt: Während andere Medien Dominik Brunner mit seiner Berufsbezeichnung (“Geschäftsmann” oder “Manager”) versehen, war er für “Bild” und Bild.de von Anfang an der “S-Bahn-Held”, der “vier Kinder vor zwei Schlägern beschützte”. Schon wenige Tage nach dem tödlichen Vorfall am S-Bahnhof Solln forderte die Zeitung das Bundesverdienstkreuz für Brunner und rief ihre Leser auf, den Appell an den Bundeskanzler Bundespräsidenten zu unterschreiben. Horst Köhler machte eine seltene Ausnahme und verlieh Brunner posthum das Verdienstkreuz 1. Klasse, worüber “Bild” wiederum groß berichtete.
Im Februar berichtete der “Spiegel” erstmalig, dass Brunner “den ersten Fausthieb setzte” — eine Meldung, die auch auchvonanderenMedien interessiert aufgenommen wurde. “Bild” versteckte eine kleine Meldung auf Seite 3 und bemühte sich sofort um eine Einordnung in den Helden-Kontext:
Jetzt geht die Staatsanwaltschaft München davon aus, dass Brunner zwar zuerst zuschlug – aber nur aus Notwehr, um dem Angriff der Jungs zuvorzukommen (“SZ”).
“Bild” und Bild.de konzentrierten sich (außer einem Hinweis darauf, dass dem “Münchner S-Bahn-Held Dominik Brunner” ein Denkmal gesetzt werden soll) lieber auf den Prozess, der im Juli begann, und liefen gleich zu Beginn zu Höchtsleistungen auf: Die Schwestermedien eröffneten ihre Prozessberichterstattung, indem sie auf die “besondere Zurückhaltung”, die der Pressekodex bei der Berichterstattung über Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Jugendliche fordert, verzichteten (BILDblog berichtete).
Dann ging es los: Rührselig zitierte Bild.de eine SMS, die auf Brunners Handy eingegangen sei, als dieser schon tot war (“Der tote S-Bahn-Held erhielt einen Herzensgruß für seinen letzten Weg”). Aus der “Ex-Freundin”, die ihm diese Nachricht geschickt hatte, wurde dann kurze Zeit später seine “Lebensgefährtin”.
Ein 18-Jähriger, der vorab in einem eigenständigen Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter räuberischer Erpressung zu einem Jahr und sieben Monaten Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden war (“Bild”: “Gericht lässt 1. Täter laufen”), wurde bei Bild.de zum “Anstifter der Schläger”, der sich aus diesem Grund kein Urteil über die Situation erlauben dürfe:
Christoph T.: “Für mich ist dieser ausschlaggebende Punkt der Schlag von Herrn Brunner” – das sagt ausgerechnet der Anstifter der Schläger!
Dass der junge Mann beim tödlichen Angriff auf Brunner gar nicht dabei war und schon deshalb nur bedingt als Zeuge taugt, ist Bild.de immerhin aber auch noch aufgefallen:
Der Anstifter hat Dominik Brunner zwar nie gesehen – doch ohne ihn wäre der Mord am S-Bahnhof Solln am 12. September 2009 wohl nie geschehen!
Dann wiederholte der S-Bahn-Führer im Zeugenstand seine Aussage, dass Brunner den ersten Schlag gesetzt habe und die Situation erst daraufhin eskaliert sei (ein Umstand, von dem “Spiegel Online”-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen irritierenderweise annahm, er sei “erst jetzt, zu Prozessbeginn, der Öffentlichkeit mitgeteilt” worden). Zusammen mit dem Obduktions-Ergebnis, nach dem Dominik Brunner einen vergrößerten Herzmuskel hatte und letztlich an Herzversagen gestorben sei, ergab sich plötzlich ein etwas anderes Bild und viele Medien fragten sich selbstkritisch, ob sie nicht voreilig über die Situation am S-Bahnhof Solln geurteilt hätten. Viele, aber natürlich nicht alle.
“Bild” fand diese neuen Töne “unglaublich!”, und reagierte erschüttert auf die Medienberichte:
ZUM HELDEN HOCHSTILISIERT? ANGEBLICH TOTGETRETEN? PRÜGELNDER KAMPFSPORTFREUND?
Die Wahrheit ist: Nichts ist anders seit dem Wochenende! Nur, dass dem Opfer nun sogar im Grab die Ehre genommen werden soll.
Wohl weil die Verklärung Brunners andernorts ins Stocken geraten war, packte Tanit Koch noch eine Schüppe Poesie drauf:
Er hat diesen Bürgersinn nicht etwa mit seinem Leben bezahlt – es wurde ihm geraubt. (…)
Dominik Brunner starb nicht, weil er ein vergrößertes Herz hatte.
Der S-Bahn-Held starb, so erkennt die “Süddeutsche Zeitung” zu Recht an, weil er ein “großes Herz” hatte.
Franz Josef Wagner schließlich wusste es sowieso wieder besser als alle anderen und schrieb dem “lieben Held Dominik Brunner” ins Jenseits, “gegen Ihr Herzflimmern mussten Sie Mittel nehmen”. Gegen einen Herzfehler, von dem Brunner selbst Zeit seines Lebens nichts geahnt hatte.
Die Linie blieb also klar und das, was in anderen Medien “Präventivschlag” hieß, wurde bei Bild.de zum “Abwehrschlag” umdeklariert und taucht in der “Chronologie der tödlichen S-Bahn-Attacke”, wie sie heute noch online steht, gar nicht auf:
Der Mann steigt mit den Jugendlichen aus, die beiden Angreifer folgen ihnen. Plötzlich greifen sie den Mann an, er fällt zu Boden, sie treten weiter auf ihn ein.
Die Aussage des S-Bahn-Führers über Brunners Erstschlag ließ “Bild” erst mal unter den Tisch fallen und schrieb erst darüber, als ein “Lügenforscher” die Aussage “relativiert” hatte — gegenüber der Münchener Boulevardzeitung “tz”, wohlgemerkt, nicht gegenüber dem Gericht.
Der Beschreibung Brunners als “sozial besonders engagiert” setzte “Bild” die “kaputte Kindheit” und das “verpfuschte Leben des zweiten Brunner-Totschlägers” entgegen, dem die Zeitung nicht mal seine vor Gericht gezeigte Reue abnahm:
Sebastian L. behauptete: “Es tut mir auf jeden Fall wahnsinnig leid, es hätte nicht passieren müssen. Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen.”
Selbst Details der Gewalt, die eigentlich für sich sprechen, hat “Bild” noch zugespitzt: Wenn der Angeklagte Markus S. “einen Schlüsselbund aus der Tasche und als Waffe zwischen die Finger” nimmt, ist das nicht nur “schlimm” oder “brutal” oder wie immer man das nennen würde, für die Schlagzeilenmacher bei “Bild” ist es “Der Schlüssel-Trick des S-Bahn-Schlägers”.
Über die erste Aussage dieses Angeklagten wusste Bild.de zu berichten:
Kein Mitleid, keine Reue, keine Tränen. Nein! Seine ersten Worte in dieser Verhandlung sind der blanke Hohn: “Ich habe einen Hass auf die Polizei.” Ungläubiges Kopfschütteln im Gerichtssaal.
(In der Bildunterschrift und der URL übrigens: “Ich hasse die Bullen.”)
Harte Worte, die aber trotzdem niemanden außer den “Bild-Reporter erschüttert zu haben scheinen: Für das Zitat findet sich keine einzige andere Quelle.
Auch mit einem anderen Detail stand “Bild” etwas alleine da:
Der damals 18-jährige Markus S. habe zweimal gerufen: “Ich bring’ dich um! Ich bring dich um!”, während er auf Brunner eingetreten und geschlagen habe, sagte die 16-jährige Schülerin, die das Ganze vom Bahnsteig gegenüber verfolgt hatte, vor dem Landgericht München aus.
Bei der Polizei hatte Vera B. drei Tage nach der Tat ausgesagt, dass einer der Täter zu Dominik Brunner gerufen hätte: “Ich bringe dich um!” Nun kann sie dies aber nicht mehr ganz sicher bestätigen.
Es sind letztlich eher Kleinigkeiten, die “Bild” anders wiedergibt als die meisten anderen Medien. Die Brutalität, mit der die Schläger vorgingen, zeigt sich auch daran, dass das Gericht mit seinen Urteilen nur knapp unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft blieb. Aber es sind viele Kleinigkeiten, mit denen “Bild” das Gesamtbild verzerrt — immer darauf bedacht, das früh gezeichnete Bild vom “S-Bahn-Helden” nicht zu beschädigen.
Über den “Kachelmann-Prozess” wird in “Bild” übrigens die Journalistin Alice Schwarzer berichten — weil sie eine “voreingenommene Berichterstattung” der “anderen Leitmedien” befürchtet.
Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber in den letzten Monaten.