Der Text kommt mit persönlicher Empfehlung von “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann. Mit den Worten “Ich weiß, warum ich so gerne in den USA bin!” verlinkte er am Wochenende die aktuelle Kolumne “Wir Amis” von Eric T. Hansen auf “Zeit Online”:
Die gute Seite der “Bild”-Zeitung
Die deutsche Linke schimpft gern auf das größte Boulevardblatt des Landes. Unser Kolumnist hält das für überholtes Schubladendenken.
Wer neutral über die “Bild”-Zeitung nachdenke, schreibt Hansen, müsse zugeben, dass sie auch ihre guten Seiten hat. Und nennt dafür folgendes Beispiel:
Ich erinnere mich zum Beispiel an die Reaktion der Presse, als 1992 in Rostock-Lichtenhagen die Ausschreitungen gegen Ausländer losbrachen. Die meisten seriösen Zeitungen berichteten mehr oder weniger sachlich und neutral darüber. Bild aber druckte das Foto des “hässlichen Deutschen” ab: eines besoffenen Passanten, der in die Hose gepinkelt hatte und den Hitlergruß zeigt. Die Überschrift lautete, wenn ich mich nicht irre: “Deutschland, schäm dich.” Ich fand die Überschrift passend.
Hansens Erinnerung ist nicht so gut. Ja, die Schlagzeile lautete “Ihr müßt euch schämen”, aber abgebildet war nicht der besoffene Passant mit Hitlergruß. Abgebildet waren: Helmut Kohl, Oskar Lafontaine, Björn Engholm und weitere führende Politiker von CDU/CSU und SPD. Und über der Schlagzeile stand: “Deutsche sauer auf Bonner Politiker”.
Schämen sollten sich laut “Bild”-Schlagzeile vom 27. August 1992 für die Ausschreitungen nicht die Gewalttäter, sondern die Politiker, weil die immer noch nicht das Asylrecht eingeschränkt hatten, wie es die “Bild”-Zeitung und viele andere Medien schon lange forderten.
“Wenn ich mich nicht irre”, schrieb Eric T. Hansen, und vielleicht hätte die Redaktion von “Zeit Online” diese Formulierung ihres Kolumnisten zum Anlass nehmen können, das sicherheitshalber mal schnell nachzuschlagen. Vielleicht hätte es seine Einschätzung der “guten Seiten” der “Bild”-Zeitung verändert, wenn er erfahren hätte, dass er sich irrte, wer weiß.
Jedenfalls hätte er beim Blick ins Archiv viel herausfinden können über den Charakter der “Bild”-Zeitung.
Warum sich die Bonner Politiker “schämen müssen”, erklärt “Bild” an jenem Tag im Einzelnen. Wörtlich:
Helmut Kohl (CDU) verweist imer aufs Grundgesetz
Oskar Lafontaine (SPD) … ist im Urlaub
Björn Engholm (SPD) blockierte bis diese Woche
Heiner Geißler (CDU) will noch mehr Ausländer
Rudolf Seiters (CDU) viele, viele Konferenzen
Peter Gauweiler (CSU) Starke Sprüche, starke Sprüche
Otto Solms (FDP) Erst Nein, jetzt Jein
Gerhard Schröder (SPD) ist gegen Asylrecht-Änderung
Heidi Wieczorek-Zeul (SPD) Asyl muß bleiben wie es ist
Am selben Tag schreibt Peter Boenisch in “Bild” einen Kommentar zu den Rostocker Krawallen mit der Überschrift:
Darum sind wir [sic!] so wütend
Darin nimmt er die Zuschauer, die den Gewalttätern bei ihren Angriffen applaudierten, in Schutz:
Nicht nur zornig, sondern wütend sind viele Menschen in Rostock. Die Chaoten nützen das aus.
Die Randale beklatschen, sind keine Neonazis — manche von ihnen nicht einmal Ausländerfeinde.
Sie verstehen die Sprüche und Widersprüche unserer Politiker nicht. Wie soll auch ein Kranführer verstehen, daß bei 1,1 Mio. Arbeitslosen in den neuen Ländern in seiner Schicht von vier Kränen drei von Rumänen gesteuert werden — für Dumpinglöhne.
Drei Deutsche gehen stempeln und drei Rumänen arbeiten bei uns für ein Butterbrot.
So wird Ausländerfeindlichkeit nicht bekämpft, sondern gezüchtet.
Die “Bild”-Zeitung hat in den Tagen zuvor auch die Ausschreitungen, die “Chaoten” und “neuen Nazis” kritisiert. “Seid ihr wahnsinnig!” titelt sie über den Beifall der Schaulustigen, als Rechtsradikale versuchen, das “Asylantenheim” zu stürmen. Die “Schuld” an den Angriffen aber sieht “Bild” allein bei der Politik.
“Bild” sorgt sich angesichts der Gewalt offenkundig weniger um die Ausländer als um das Bild Deutschlands in der Welt. Am Tag nach der “Ihr sollt euch schämen”-Schlagzeile macht das Blatt so auf:
“Bild”-Mann Sven Gösmann, der es heute zum Chefredakteur der Nachrichtenagentur dpa geschafft hat, empört sich darin:
Jetzt prügeln sie auf uns rum: “Nazis”, “Kristallnacht”, “Ausländerfeinde”. Unsere europäischen Nachbarn beschimpfen uns alle nach den Rostocker Krawallen als die “Häßlichen Deutschen”. Wie sie schimpfen, und wie sie es selbst mit den Asylanten halten — Seite 2.
Gösmanns Artikel auf Seite 2, erschienen nach Monaten und Wochen mit Angriffen von Deutschen auf Ausländer, trägt die Überschrift:
Auch in den Tagen und Wochen nach den Ausschreitungen kämpft “Bild” gegen eine ausgeruhte Debatte und heizt die Stimmung weiter an:
“Bild”-Kommentator Boenisch legitimiert am 14. September schon vorauseilend mögliche weitere Ausschreitungen, wenn die Politik nicht unverzüglich im Sinne seines Blattes und des Mobs handele:
Die Wartezeit für Bonn ist um. Es ist Tatzeit.
Sonst wird die Straße zum Tatort.
So war sie damals, die Berichterstattung der “Bild”-Zeitung; das, was der amerikanische “Zeit Online”-Kolumnist Eric T. Hansen mit seinem schlechten Gedächtnis als die “gute Seite der ‘Bild’-Zeitung” erinnert, wenn er sich fragt, was die Linken mit ihrem Schubladendenken eigentlich bloß immer gegen dieses Blatt haben.
Stellvertretender Chefredakteur und verantwortlich für die Politik-Berichterstattung der “Bild”-Zeitung im August 1992 war übrigens: Kai Diekmann.
Nachtrag, 23. April. Eric T. Hansen hat in den Kommentaren unter seiner (unveränderten) Kolumne reagiert:
Die Bildblog.de hat mich zurecht darauf hingewiesen, dass ein Satz in meiner Kolumne von Sonntag, in der ich die Kritik der Bild Zeitung kritisiere, nicht stimmte: Ich hatte aus dem Gedächtnis eine Überschrift der 90er (wohlwollend) wiedergegeben, die es gar nicht gab. Ich war fahrlässig, es nicht vorher zu überprüfen, und jetzt ist es mir ziemlich peinlich.
Nachtrag, 24. April. “Zeit Online” hat dem Artikel eine Korrektur hinzugefügt.
2008 war, wenn man so will, ein gutes Jahr für “Bild”. Der Deutsche Presserat sprach nur in zwei Fällen Rügen gegen “Bild” aus:
Das Gremium beanstandete — aufgrund einer Beschwerde von BILDblog — die teils frei erfundene Berichterstattung über zwei Mädchen, die angeblich von ihrer Mutter nach Afrika gebracht und dort beschnitten werden sollten (BILDblog berichtete).
Und der Presserat rügte die “unangemessen sensationelle” Art, wie “Bild” über einen Flugzeugabsturz berichtetete, verkohlte Leichen auf der Titelseite zeigte und die Opfer im Inneren identifizierte — und so “die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt” habe. (Die “Bild”-Zeitung fand die Beanstandung, wie berichtet, “rätselhaft” und führte ihre Leser beim Abdruck der Rüge in die Irre, was dem Presserat aber egal ist.)
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.
Trotzdem hatte der Presserat auch im vergangenen Jahr reichlich mit “Bild” zu tun und sprach eine Reihe von “Missbilligungen” und “Hinweisen” aus. Und wie in jedem Jahr gibt das vor kurzem erschienene “Jahrbuch” des Presserates seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.
Eine Auswahl:
Tote Kinder ohne Rechte?
“Die toten Kinder von Darry — Von der Mutter erstickt, vom Vater wieder ausgegraben”. Unter dieser Überschrift berichtet “Bild” am 26. Juni 2008, wie drei tote Kinder von einem Berliner Friedhof nach Schleswig-Holstein umgebettet werden. Sie und zwei weitere waren von ihrer Mutter getötet worden. “Bild” zeigt ein Familienfoto, auf dem die Gesichter der Erwachsenen unkenntlich gemacht wurden, sowie Nahaufnahmen der Särge und der Gruft — und ein Notfallseelsorger aus Schleswig-Holstein, der beruflich mit dem Fall zu tun hat, beschwert sich beim Presserat, der seine Position so wiedergibt:
Die Umbettung habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Mit allen Firmen und den Friedhöfen sei Stillschweigen und absolute Vertraulichkeit vereinbart worden. Zu Beginn der Exhumierung in Berlin hätten mehrere Journalisten fotografieren und filmen wollen. Die Friedhofsverwaltung habe vergeblich versucht, sie davon abzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Medien habe das Boulevardblatt Nahaufnahmen der Särge, der Gruft und des gesamten Vorgangs veröffentlicht. Zudem sei in der Online-Ausgabe ein “abscheuliches Video” mit Nahaufnahmen abrufbar gewesen. Der Geistliche sieht einen Missbrauch der Pressefreiheit und eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder und des trauernden Vaters.
Die Antwort von “Bild” ist vor allem eine juristische: Die Vorwürfe seien unbegründet, weil das Persönlichkeitsrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Tod erlösche. Es müsse dann nur noch allgemein die Menschenwürde geachtet werden. “Bild” habe die Kinder aber nicht herabgewürdigt oder erniedrigt. Das (nicht mehr abrufbare) Video auf Bild.de habe allerdings religiöse Gefühle verletzen können — das habe der Chefredakteur in einem Brief an den Seelsorger bedauert. Die Reporter hätten versichert, dass sie während der Exhumierung nicht am Fotografieren gehindert worden seien.
Der Presserat sieht in der Veröffentlichung der Fotos einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex, der eine Identifizierung der Opfer von Unglücksfällen und Straftaten untersagt. Der “engeren juristischen Wertung” des Verlages wollte er sich nicht anschließen. Aus ethischer Sicht hätte die Redaktion auf die Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder sowie des trauernden Vaters größeres Gewicht legen müssen. Der Presserat sah darin allerdings keinen rügenswerten Verstoß, sondern “missbilligte” die Berichterstattung nur — warum auch immer.
Lea-Sophie, nackt und verhungert auf dem OP-Tisch
Am 6. April 2008 veröffentlichten “Bild am Sonntag” und Bild.de zwei Fotos der fünfjährigen Lea-Sophie, die ihre Eltern verhungern ließen. Eines zeigte das Mädchen zu Lebzeiten, eines den Leichnam, nackt auf dem Obduktionstisch. Das zweite Foto, das die Zeitung auf unbekannte Weise bekommen hatte, war, wie die “BamS” damals schrieb, ein “schreckliches” Foto. Die Redaktion, behauptete die Redaktion, habe lange diskutiert, ob sie es zeigen solle. Dass sie sich dafür entschieden habe, das tote Kind auf diese Weise vor einem Millionenpublikum auszustellen, begründete sie mit dem Satz: “Denn wir wollen, dass so etwas nie wieder in Deutschland passiert!” (BILDblog berichtete.)
Ein Leser beschwerte sich beim Presserat, weil er in der Veröffentlichung des Bildes Sensationsmache und eine Verletzung der Menschenwürde der Verstorbenen sieht. Die Rechtsabteilung der “BamS” hält ihm entgegen, er habe sich mit den Überlegungen der Redaktion nicht auseinandergesetzt: Darin seien die Beweggründe, das Foto zu veröffentlichen, ausführlich dargelegt worden. Sie erinnerte an das “vermutlich eindringlichste Foto der Pressegeschichte”: fliehende, weinende, teilweise nackte und vom Napalm verletzte Kinder im Vietnam-Krieg. Wenn die Eltern von Lea-Sophie und ihr Anwalt ein falsches Bild der Ereignisse zeichneten, so die “BamS” laut Presserat, müsse dies ausnahmsweise durch ein Fotodokument korrigiert werden können.
Der Beschwerdeausschuss widersprach: Das Foto sei für eine wahrhaftige Berichterstattung über die Grausamkeit der Todesumstände nicht erforderlich gewesen — eine Beschreibung der Vorgänge hätte ausgereicht. Die “BamS” habe “unangemessen sensationell” berichtet und die Würde des Opfers verletzt — und somit gegen die Ziffern 1 und 11 des Pressekodex verstoßen. Der Presserat fand das aber offenbar lässlich genug, keine “Rüge”, sondern nur eine “Missbilligung” auszusprechen.
Ein “Kinderschänder” und sein Opfer im Bild
Zu den für “Bild” nachhaltig unbegreiflichen Realitäten gehört es, dass auch (mutmaßliche) Täter Rechte haben, sogar Persönlichkeitsrechte. Und dass die Richtlinie 8.1 des Pressekodex vorsieht, dass die Presse bei Straftaten in der Regel keine Informationen veröffentlicht, die die Beteiligten erkennbar machen. Es ist vermutlich die Richtlinie, gegen die “Bild” am häufigsten verstößt, so auch am 5. Juni 2008. Das Blatt titelte “Kinderschänder lockt 13-Jährige in Sex-Falle” und berichtete über ein Ermittlungsverfahren gegen einen Mann, der ein Mädchen, das er im Internet kennen lernte, zu sich nach Hause gelockt, dort vier Wochen lang versteckt und mit ihm einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt haben soll. “Bild” zeigt beide auf einem Foto. Der Anwalt des Beschuldigten sieht in der Bezeichnung “Kinderschänder” eine unzulässige Vorverurteilung und weist darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bereits nach einer Woche die Aufhebung des Haftbefehls beantragt habe. Das Foto, auf dem der Mann mit dem Mädchen zu sehen ist, sei auf unlautere Weise aus den Privaträumen des Beschwerdeführers beschafft worden. Und sowohl die Bildunterschrift “In diesem Gartenhäuschen auf dem Hotelgrundstück fanden die Ermittler Kinderpornos” als auch die Behauptung “Der Mann fiel der Polizei schon früher auf: Als 17-Jähriger soll er erstmals zwei Mädchen in einen Schuppen gelockt und gefesselt haben” seien frei erfunden.
Die Rechtsabteilung von “Bild” hingegen meint, dass die Wertung als “Kinderschänder” und der Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch die Beschreibung der beiden Betroffenen erfüllt sei. Und an der Veröffentlichung der Fotos gebe es ein öffentliches Interesse. “Wenn jemand eine 13-jährige Schülerin vier Wochen lang vor deren Eltern versteckt halte, sei das so außergewöhnlich, dass die Fotoveröffentlichung auch gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei”, erklärt “Bild” laut Presserat. “Die Mutter des Beschwerdeführers habe das strittige Foto zur Verfügung gestellt. Sie habe damit zeigen wollen, dass es sich um eine einvernehmliche Beziehung zwischen ihrem Sohn und dem Mädchen gehandelt habe.” Somit habe “Bild” nicht gegen Ziffer 4 des Pressekodex verstoßen, die unlautere Recherchemethoden untersagt. Schließlich beruhten die angeblich “frei erfundenen Behauptungen” auf Informationen der Ermittlungsbehörden und Aussagen der Mutter des Beschwerdeführers, die man “nicht als Tatsachen, sondern in der Soll-Form wiedergegeben” habe.
Der Presserat “missbilligte” die Berichterstattung von “Bild”. Er sah zwar keine Verletzung der Unschuldsvermutung und konnte, wie fast immer, nicht klären, ob “Bild” unlautere Methoden bei der Recherche angewandt hat. Aber “Bild” habe den mutmaßlichen Täter nicht einmal teilweise unkenntlich gemacht. Sowohl er als auch die 13-Jährige seien erkennbar. “Der Fall ist sicher von großem öffentlichem Interesse, doch ist es auch dann nicht gerechtfertigt, die Beteiligten erkennbar zu machen”, urteilte der Beschwerdeausschuss. “Diese hätten anonymisiert werden müssen.”
Ein Irak-Soldat “frisst” einen kleinen Hund
Man kann sicher darüber streiten, ob es wirklich, wie ein Beschwerdeführer meint, “abartig” ist, dass die “Bild”-Zeitung am 11. Januar 2008 auf ihrer letzten Seite zwei AFP-Fotos zeigt, auf denen ein irakischer Soldat einen Hund erst mit seinem Messer tötet und dann isst, um den Jahrestag der Übernahme der Stadt Nadschaf zu feiern. Aber die Argumente, mit denen die “Bild”-Justiziare die Veröffentlichung der drastischen Aufnahmen rechtfertigen, sind atemberaubend. Der Presserat gibt sie so wieder:
Die Rechtsabteilung der Zeitung hält das Foto mit dem irakischen Soldaten für ein über den Tag hinaus wirkendes zeitgeschichtliches Dokument. Es zeige die Verrohung des Menschen im Krieg. Das Foto dokumentiere zudem den Hass, der einen Moslem dazu bringe, genau das Tier zu verspeisen, das in seiner Religion neben dem Schwein als besonders unrein gelte. Das Foto sei aktueller Informationsträger und erfülle eine nachrichtliche Funktion. Das blutige Ritual zeige, zu welchen Taten Soldaten im Krieg — namentlich, wenn er von Glaubensgegensätzen begleitet werde — fähig seien. Dies dürfe die Berichterstattung aufgreifen. Sie solle weder verschleiern, noch verharmlosen, sondern die Wirklichkeit so abbilden, wie sie sei.
Der Hass eines Moslems? Ein Krieg, der von Glaubensgegensätzen begleitet wird? Und all diese Informationen und Hintergründe entdecken erfahrene “Bild”-Leser zwischen den gerade einmal 20 Zeilen eines Artikels, in dem von Glauben und Religion nicht einmal die Rede ist?
Der Presserat sieht in den Fotos kein “zeitgeschichtliches Dokument”: “Es scheint sich hier um einen sehr speziellen Einzelfall zu handeln.” Das Veröffentlichen brutaler Bilder sei zwar ausnahmsweise zulässig, wenn sie zu einer politischen Debatte beitragen. Ein solches öffentliches Interesse sei aber nicht zu erkennen; die Darstellung sei unangemessen sensationell. Der Presserat sprach einen “Hinweis” aus.
Franz Josef Wagner und die “Monster” in der Psychiatrie
Und dann hatten die Mitglieder des ersten Beschwerdeausschusses des Presserates noch eine Aufgabe, um die man sie wirklich nicht beneiden kann: Sie mussten versuchen herauszufinden, was Franz Josef Wagner in einer seiner “Bild”-Kolumnen eigentlich sagen wollte. Am 26. März 2008 schrieb er an den damals noch unbekannten Täter, der einen schweren Holzklotz von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg geworfen und damit eine Frau getötet hatte. Unter der zu seinem Markenzeichen gewordenen Umgehung von grammatischen und logischen Regeln formulierte Wagner:
Mehrere Menschen, darunter Vertreter sozialpsychiatrischer Einrichtungen und Verbände, beschwerten sich beim Presserat darüber, dass Wagner psychisch kranke Menschen als “Monster” bezeichne. Einer fühlte sich an die Nazi-Zeit erinnert, zumal schon am Beginn des Beitrages von einer Art Sippenhaft gesprochen werde; ein anderer sah in Wagners Text eine menschenverachtende Diffamierung von Personen, die psychisch krank sind und Hilfe in psychiatrischen Einrichtungen suchen.
Die Rechtsabteilung der “Bild”-Zeitung hatte für die insgesamt vier Beschwerdeführer eine überraschende Antwort: Wagner habe gerade nicht psychisch kranke Menschen, sondern Kriminelle als “Monster” bezeichnet. Die Justiziare verstiegen sich sogar zu der — vermutlich auch für Wagner selbst überraschenden — These, seine Kolumne habe einen gedanklichen “roten Faden”: Der Autor beklage, dass selbst Straftäter, die gröbste Verbrechen begehen, immer irgendwie durch “mildernde Umstände” exkulpiert würden. Erwachsene Täter, die man aufgrund ihrer Verbrechen nur noch als “Monster” bezeichnen könne, schicke man nicht ins Gefängnis, sondern zur Behandlung in die Psychiatrie. Wagners Fazit laute: Verbrechen wie die des “Holzklotzwerfers” würden nicht wirksam bekämpft; ein nächster Fall sei zu befürchten. Dass einige der Beschwerdeführer die räumliche Nähe der Begriffe “Monster” und “Psychiatrie” in dem Kommentar als Erinnerung an die Nazi-Zeit “hochschraubten”, betrachte man als polemische Übertreibung im Rahmen ihrer politischen Agitation, erklärte die Rechtsabteilung des Verlages, den man ja in Sachen “politischer Agitation” getrost als Experten betrachten darf.
Und der Presserat? Er hält den Nazi-Vorwurf für überzogen und stellt sicherheitshalber fest, dass Wagners Text mehrere Deutungsmöglichkeiten habe und man deshalb nicht zwingend davon ausgehen könne, dass Wagner alle Patienten einer Psychiatrie als “Monster” bezeichnet habe:
Eine weitere Deutungsmöglichkeit ist jedoch, dass hier nur Menschen als “Monster” bezeichnet werden, die monströse Taten begehen. Ein so monströses Verbrechen wie der Holzklotzanschlag auf eine Familie kann umgangssprachlich durchaus einem “Monster” zugeordnet werden. Die Feststellung des Autoren, “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt”, ist anders zu beurteilen. Dies ist eine falsche Tatsachenbehauptung. Die Feststellung, dass Kranke in der Psychiatrie gefesselt würden, ist in dieser pauschalen Form falsch und verletzt Ziffer 2 des Pressekodex (Journalistische Sorgfaltspflicht). Sie kommt einer Schmähung der Institution Psychiatrie gleich und zieht einen Hinweis nach sich.
Der Presserat erklärt also Wagners Satz “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt” für sachlich falsch und diffamierend, indem er das Wort “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” interpretiert, glaubt aber nicht, dass Wagner “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” gebraucht habe. Irre.
1. Bild.de schreibt offenbar aus der NZZ am Sonntag ab (klartext.ch, Nick Lüthi)
Karl Wendl, bei bild.de für die “Zusammenhänge der Weltpolitik” zuständig (bildblog.de), schreibt eine Kolumne, die in weiten Teilen an einen Artikel in der NZZ am Sonntag erinnert. Damit konfrontiert, spricht Wendl von einen “Irrtum” – bild.de habe fälschlicherweise eine “Skizze” veröffentlicht.
2. “25 Jahre Privat-TV” (tagesspiegel.de, Harald Martenstein)
Harald Martenstein freut sich über ein Vierteljahrhundert Privatfernsehen und erklärt, was sich geändert hat: “Das Fernsehen ist nicht mehr pädagogisch. Das Fernsehen sendet, jedenfalls meistens, nicht mehr das, was eine gebildete Elite sich wünscht oder dem Volke, mit guten Gründen vielleicht, zuzuteilen geruht. Seit es Privatfernsehen gibt, wird gesendet, was die Leute sehen möchten.”
3. Migros stellt seine Werbung in Frage (persoenlich.com, Matthias Ackeret und Christian Lüscher)
An der Verlegertagung stellt ausgerechnet der Chef der Migros, Marktleader im Detailhandel, seine bisherige Werbestrategie in Frage. Für die klassischen Verlage ein massive Bedrohung, denn schon die Kürzung des Budgets für 2009 um 50 Millionen Franken wird massive Restrukturierungsmassnahmen nach sich ziehen.
Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” informierte ihre Leser am vergangenen Donnerstag im Reiseteil ausführlich darüber, dass Lufthansa erstmals im Winter eine durchgängige Verbindung von München nach Boston anbietet (ab 2299 Euro). Und das nicht etwa auf 15 Zeilen. Nein, die FAZ hat dafür keine Kosten und Mühen gescheut, um das Angebot selbst zu testen (“Unser Nachmittagsflug von München nach Boston wird von einem nicht enden wollenden Sonnenuntergang begleitet. (…) Maja, die Purserette, rät uns, den französischen Rotwein zu testen. Beim Menü können wir zwischen Gänsebraten und Zander aus der Küche des kanadischen Sternekochs Susur Lee wählen.”) – und die große deutsche Qualitätszeitung ist nicht nur angetan vom “sehr persönlichen Service an Bord”, sondern auch von der Grundidee.
Hier ein kleiner (!) Ausschnitt:
Das FAZ-Resümee unter einem Foto, das die Autorin des FAZ-Artikels, Catharina P., nach erfolgreicher Teilnahme an einer Lufthansa-Pressereise gleich mitgeliefert hat, lautet:
Das Resümee eines FAZ.net-Lesers zum Artikel liest sich… anders:
“Dass sich die FAZ für einen solchen plumpen Werbeartikel für diese Airline hergibt, ist schon verwunderlich und störend.”
Lufthansa-O-Ton:
“(…) Durch die späte Rückflugzeit haben Sie in der Ostküsten-Metropole genügend Zeit, sich ganz auf Ihre Termine zu konzentrieren. In München kommen Sie morgens an und können ausgeruht in den neuen Arbeitstag starten.”
Und natürlich könnte man das mit dem “plumpen Werbeartikel” für eine plumpe Unterstellung halten — auch wenn sich in der FAZ Text-Passagen finden, die quasi wörtlich auch in Lufthansa–Pressemitteilungen stehen (siehe Kasten). Und was heißt es schon, dass die Autorin vor Jahren selbst mal für ein Lufthansa-Magazin geschrieben hatte? Was soll’s, dass sie für die FAZ auch schon aufgeschrieben hatte, wie toll man im Münchner Flughafen einkaufen kann (so toll, dass sie das ein gutes halbes Jahr später auch noch mal für die “Financial Times Deutschland” aufschrieb), wie toll man vom Münchner Flughafen aus kleine Kinder auf Flugreisen schicken kann (FAZ vom 10.4.2008), und was für eine tolle Fluggesellschaft Qatar Airways ist (FAZ vom 2.10.2008)?
Die djd über sich selbst:
“Die deutschen journalisten dienste – djd – sind führender Dienstleister für verbraucherorientierte Pressearbeit im deutschsprachigen Raum. In mehr als 5.000 verschiedenen Medien konnte djd bis heute Veröffentlichungen für seine Kunden erzielen: Vom Anzeigenblatt und der Lokalzeitung über Spezialtitel wie ‘medizin heute’ oder ‘fit for fun’ bis hin zu ‘FAZ’, ‘HÖRZU’, ‘Stern’ oder ‘Spiegel’ und von brigitte.de über MDR, WDR oder SWR bis hin zu RTL und ZDF. (…)
Alle Medien stehen vor der Herausforderung, in regelmäßigen Abständen immer wieder interessante Lektüre für ihre Leser bzw. attraktive Sendungen für ihre Hörer und Zuschauer zu erstellen. Um das in zunehmend dünner besetzten Redaktionen leisten zu können, nehmen sie gerne gezielte Unterstützung in Anspruch, die selbstverständlich den strengen presserechtlichen Kriterien entspricht.”
Tatsache ist, dass Catharina P. neben ihrer freien Journalistentätigkeit für FAZ, FTD und andere auch seit Jahren für die PR-Agentur “deutsche journalisten dienste” (djd) arbeitet. Auf der Website der djd (die — siehe Kasten — sich vor Werbekunden dafür rühmt, PR-Texte bei Print-, TV-, Hörfunk- und Online-Medien unterzubringen) wird sie als Redaktionsmitglied für die Bereiche “Gesundheit/Reise” geführt, von ihr verfasste PR-Texte werden von der djd verbreitet — und in djd-eigenen Broschüren werden ihre PR-Texte als Beispiele für gelungene Platzierung von Themen präsentiert. Aber die djd schwärmt zudem davon, wie sie selbst jedwedes PR-Thema “sicher in TV- und Hörfunksendungen unterbringen kann” und veröffentlicht u.a. entsetzlich lange Listen mit “Abdruckerfolgen” in Zeitschriften und Zeitungen (darunter auch die FAZ).
Öffentlich möchte sich die FAZ-Autorin, die einen Zusammenhang zwischen den FAZ-Texten und ihrer PR-Arbeit bestreitet, uns gegenüber weder zu ihrer PR-Tätigkeit noch zu ihrer journalistischen Arbeit äußern oder zitieren lassen.
Dabei sind wir sicher: Catharina P. ist kein Einzelfall im Reise-Journalismus. Aber genau darum schreiben wir’s ja auf.
Nachtrag, 11.12.2009: Nach Veröffentlichung dieses Eintrags wird Catharina P. auf der Website der PR-Agentur djd unter “Redaktion” nicht mehr zu den Themen “Gesundheit/Reise” geführt, sondern nur noch zum Thema “Gesundheit”. Und die FAZ-Reiseredaktion bestreitet in einer Stellungnahme uns gegenüber, einen reinen Werbeartikel für die Lufthansa veröffentlicht zu haben.
Einmal im Jahr veröffentlicht der Deutsche Presserat in seinem Jahrbuch alle Entscheidungen, die er im Vorjahr gefällt hat. Interessanter als seine nur selten nachvollziehbaren Urteile sind oft die (anonymisierten) Stellungnahmen der Zeitungen.
Das Jahrbuch bietet auch seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.
Da war etwa die Beschwerde, dass “Bild” am Tag des Fußball-WM-Spiels gegen Polen 2006 dreizehn Witze über Polen veröffentlichte, von denen zwölf darauf abzielten, dass Polen Diebe seien. Ein Leser fand das diskriminierend und ehrverletzend. Der Presserat gab ihm Recht und sprach einen “Hinweis” aus. Die Rechtsabteilung von “Bild” aber erklärte in den Worten des Presserates:
Der Abdruck der Witze sei (…) dem aktuellen Ereignis geschuldet. Kollektiv abwertende Vorurteile würden nicht zum Ausdruck gebracht. (…) Die Rechtsabteilung verweist auf die gängige Praxis in der Sportberichterstattung, Schlagzeilen zu wählen, die mit dem sportlichen Wettkampf zusammenhingen und zum Ausdruck brächten, dass Deutschland hoffentlich gewinnen werde. Eine Diskriminierung oder Herabsetzung des Gegners gehe damit nicht einher. Es handele sich vielmehr um eine Motivationshilfe für das jeweilige deutsche Team.
Bemerkenswert ist auch die Erklärung des Verlages, warum es zulässig gewesen sei, das Porträtfoto eines 17-Jährigen zu zeigen, der gestanden hat, am Raubüberfall auf das Haus von Dieter Bohlen beteiligt gewesen zu sein — obwohl der Pressekodex eine solche Identifizierung in der Regel untersagt und bei Jugendlichen ganz besonders. Laut Presserat erklärte Springer:
Den Tätern habe auch klar sein müssen, dass ihr Überfall auf den prominenten Dieter Bohlen eine besondere öffentliche Wirkung entfalten würde. Das wiederum habe zwangsläuzfig zur Folge gehabt, dass auch sie im Fall einer Festnahme und anschließender Anklage einem besonderen Informationsinteresse ausgesetzt sein würden.
Die Erwiderung des Presserates, der in diesem Fall eine “Missbilligung” aussprach, liest sich vergleichsweise trocken: “Die Resozialisierungschancen eines Täters hängen nicht von der Prominenz des Opfers ab.” Nun ja, möchte man erwidern: dank “Bild” eben doch.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.
Die nüchtern zusammengefassten Stellungnahmen der Rechtsabteilung lesen sich manchmal wie erstaunliche Leugnungen des Unleugbaren. Wenn “Bild” etwa in großer, aus gutem Grund unzulässiger Ausführlichkeit die tragischen Begleitumstände einer Selbsttötung schildert, und die Juristen erklären, der Artikel sei einfühlsam und mit viel Fingerspitzengefühl geschrieben.
Dazu passt, dass “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, der die Suizid-Berichterstattung angeblich zur Chefsache gemacht hat, im vergangenen Jahr erklärte, “Bild” sei in diesem Bereich “extrem zurückhaltend”, weil man “wisse, dass die Berichterstattung über Selbstmorde labile Menschen möglicherweise zum Nacheifern veranlasst”. “Bild” hat in den vergangenen sechs Jahren acht Rügen für ihre Suizid-Berichterstattung kassiert.
Wie immer haben wir alle Rügen, die der Presserat im vergangenen Jahr gegen “Bild” ausgesprochen hat, und die jeweilige Rechtfertigung des Verlages dokumentiert.
Wie “Bild” aus schwererziehbaren Jugendlichen “Gangster” macht und andere Verstöße gegen Ethik und Menschenwürde: “Bild”-Rügen 2007
Wir hatten das — in vorweihnachtlicher Zeit — ja schon mal gefragt: Wie oft trifft es dieses arme Boulevardblatt? Kaum ist ein Artikel erschienen, wird “Bild” vorgeworfen, er sei von vorne bis hinten falsch – oder von hinten bis vorne. Und wem glaubt man? “Bild” etwa? Eher nicht – und das mit gutem Grund. Nur werden wir ab und zu das Gefühl nicht los, “Bild” doch irgendwie in Schutz nehmen zu müssen…
Aber beginnen wir einfach wieder wie so oft:
Gestern sah die Titelseite der “Bild”-Zeitung so aus:
“Bild” berichtete über Konrad Göckel, Kandidat der RTL-Show “Wer wird Millionär?” und von Beruf “Bundestags-Chauffeur” (genauer: Angestellter des Fuhrunternehmens RocVin, das gelegentlich auch Bundestagsabgeordnete chauffiert). Laut “Bild” durfte Göckel nämlich “ab sofort keine Politiker mehr fahren”. Ihm bliebe “nichts als ein Auflösungsvertrag” seines Arbeitgebers, weil er in der TV-Show auf die Frage des Moderators Günter Jauch, welche Abgeordneten freundlicher seien, “die Höhergestellten oder die Hinterbänkler” geantwortet hatte: “Je höher, desto arroganter.”
In “Bild” begründete Göckels Chef die angebliche Kündigung u.a. mit der in Göckels Anstellungsvertrag festgeschriebenen “absoluten Verschwiegenheitspflicht”. Das kann man einleuchtend finden.
“Bild” fand’s nicht — und war damit nicht allein. Nicht nur der in “Bild” herbeizitierte Jauch hatte “kein Verständnis dafür, dass Herr Göckel (…) seinen Job verlieren soll”, zahlreiche andere Medien, darunter auch “Spiegel Online”, machten sich gestern vormittag ebenfalls die “Bild”-Geschichte um “Wer wird Millionär?” und Bundestag zueigen.
Dann aber überschlugen sich die Ereignisse. Im Kölner “Express” fand sich unter der Überschrift “Bei Jauch gelästert: Fahrer ist Bundestags-Job los” alsbald ein erstes Dementi des Chauffeur-Chefs:
“Aber der Fahrer hat uns gebeten, nach seiner Aussage in der Show aus der Schusslinie genommen zu werden”, so RocVin-Geschäftsführer Manfred Reuter zum EXPRESS. Gekündigt worden sei ihm nicht: “Wir haben uns in beiderseitigem Einvernehmen geeinigt. Und über diese Einigung bewahren wir Stillschweigen.”
Wenig später legte der “Münchner Merkur” mit einem zweiten, anderslautenden und weitaus weniger diskreten Dementi nach:
“Die Sache ist so kompliziert, die kann man mit wenigen Worten nicht erklären”, sagt der Chef von Konrad Göckel (…) am Telefon. Deshalb will er auch seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Am liebsten würde er über den Fall nicht mehr sprechen – “die Presse schreibt doch eh, was sie möchte, und die ‘Bild’-Zeitung sowieso.” (…) Der Auftritt bei “Wer wird Millionär” werde für den Chauffeur keine Konsequenzen haben, versichert der Chef (…): “Wir haben Herrn Göckel nicht entlassen. Wir haben unseren Mitarbeiter nur aus der Schusslinie genommen. Er ist in Urlaub gegangen. (…) Der Vorgang wurde von der Zeitung konstruiert. Wir lassen die Sache auf sich beruhen.” Konrad Göckel entstünden durch seine Äußerungen keine Nachteile. “Wir sehen nicht, wo das Problem liegen soll.” Er habe seinen Angestellten zunächst in Urlaub geschickt, bis sich die Wogen glätten: “Er hat mir heute Morgen gesagt, dass er von allen Seiten bedrängt wird und dass ihm die Sache über den Kopf wächst. Das ist menschlich doch verständlich.” Kamerateams belagern den Quiz-Kandidaten, zu Hause wird er mit Telefonanrufen bombardiert. “Er möchte am liebsten abtauchen — und diese Möglichkeit haben wir ihm gegeben”, sagt sein Chef. (Hervorhebung von uns.)
Und spätestens als die Dementis über die Nachrichtenagenturen AP und AFP verbreitet wurden, fand die Angelegenheit noch größere Beachtung, wurde vielerorts eilig nachgebessert, bereits Veröffentlichtes neu- und umgeschrieben. Sueddeutsche.de wusste dem “Tohuwabohu” in einem sichtlich kopflos den Ereignissen hinterherklappernden (inzwischen komplett überarbeiteten) Artikel zwischenzeitlich immerhin noch hinzuzufügen:
Der Kandidat [Göckel] schweigt momentan. Jetzt sitzt er, so sein Bruder auf Anfrage, beim Anwalt und lässt sich beraten.
Aha. Die “Bild”-Zeitung jedenfalls, deren Berichte sonst zu gern unkritisch übernommen werden, war plötzlich die Übeltäterin. FAZ.netbehauptete gar auf der Startseite unter dem Stichwort “Medien-Ente”, die “Bild”-Behauptung sei “falsch”* — auch wenn der dazugehörige “FAZ”-Artikel lediglich behauptete:
Der Haken an der Sache: Göckel sei überhaupt nicht entlassen worden, erklärte der Geschäftsführer des Fuhrunternehmens (…). Man habe lediglich mit dem Fahrer gesprochen. Dies bestätigt auch Göckel selbst. Man habe ihn auf seine Äußerung angesprochen, im Beisein des Betriebsrats. Man habe über Konsequenzen wie eine Abmahnung oder eine Suspendierung nachgedacht, auch der Begriff “Auflösungsvertrag” sei einmal gefallen. Was folgte, sei allein eine Abmahnung gewesen. Für “Bild” stellt sich die Sache allerdings wie folgt dar: Göckel sei entlassen worden, und zwar am Mittwoch, am Donnerstag — dem Tag der Geschichte also — sei die Entlassung zurückgenommen worden. Das aber bestreitet Göckel im Gespräch mit dieser Zeitung vehement: Es habe keinen Auflösungsvertrag gegeben.
Und gegen Abend dann dackelte auch noch die “Rheinische Post” hinterdrein, um zu berichten, dass Göckel “nach Rücksprache mit seinem Anwalt (…) wegen der Medienberichterstattung keine rechtlichen Schritte einleiten” wolle.
Uff? Immerhin hatte “Spiegel Online” (unter Beteiligung der ehemaligen “Bild”-Redakteurin Patricia Dreyer) die Sache da aber schon ganz ordentlich und ausgeruht zurechtgerückt.
Dort wird dann auch deutlich, dass Göckels unbedachte Worte offenbar weitreichendere Folgen für ihn hatten, als sein Arbeitgeber im Nachhinein beteuerte, denn:
Am Nachmittag (…) bestätigte der Sprecher des Bundestages, Christian Hoose, SPIEGEL ONLINE, dass die RocVin GmbH der Bundestagsverwaltung bereits vor Veröffentlichung des “Bild”-Artikels mitgeteilt habe, dass Herr Göckel keine Parlamentarier mehr chauffieren werde.
Im Nachhinein muss man “Bild” trotzdem einiges vorwerfen. Nach unseren Informationen wurden eingeholte Statements, die den Sachverhalt in Teilen womöglich schon im Vorfeld hätten weniger irreführend wirken lassen können, für die Berichterstattung nicht verwendet; anderes wurde zugespitzt: So findet sich für die Schlagzeilenbehauptung, der Chauffeur sei “gefeuert” worden, im Artikel selbst keinerlei Indiz, keine Quelle. Und dass “Bild” berichtete, ohne mit dem Betroffenen selbst, “den BILD (…) nicht erreichte”, gesprochen zu haben, bleibt irritierend.
Aber dass die im Laufe eines Tages immer wieder nachgebesserten Dementis des Fuhrunternehmers für andere Medien offenbar geradezu reflexhaft eine höhere Glaubwürdigkeit haben als der dementierte “Bild”-Artikel selbst, den viele zunächst einfach nur nachgebetet hatten, kann man beileibe nicht nur “Bild” vorwerfen.
Dort hatte man sich öffentlichkeitswirksam über arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen einen Mann empört und war dabei fraglos übers Ziel hinausgeschossen. Ob’s aber ohne “Bild” für Göckel heute auch so ein positives Ergebnis gegeben hätte (siehe Ausriss), fragt niemand.
*) Nachtrag, 17.6.2007: Anders als z.B. “Münchner Merkur” und sueddeutsche.de ruderte die “FAZ” am Samstag, einen Tag nach Erscheinen des FAZnet.-Textes in der Druckausgabe, in einer kurzen Meldung zurück: “Der Bericht in der ‘Bild’-Zeitung hat wohl doch den Umschwung bei der Kündigung des Bundestagsfahrers Konrad Göckel bewirkt, auch wenn er und der Geschäftsführer der Firma RocVin, Norbert Tietke, welche die Fahrbereitschaft stellt, dies gegenüber dieser Zeitung dementierten. Ein Sprecher des Bundestages hatte ‘Bild’ zuvor jedoch bestätigt, dass die Firma RocVin schon vor der Veröffentlichung mitgeteilt habe, Göckel werde keine Parlamentarier mehr fahren. (…)”
Bereits gestern hatte Rolf Kleine sich in “Bild” irreführend und tendenziös mit dem Fall Kurnaz/Steinmeier auseinandergesetzt (wir berichteten). Heute legt Kleine nach — auf noch irreführendere und noch tendenziösere Weise:
Eine befremdliche Frage (die online gar “Wie gefährlich ist er wirklich?” lautet), die in letzter Zeit recht wenig diskutiert wurde. Mit gutem Grund: Schon seit längerem ist nämlich klar, dass Kurnaz offenbar nie gefährlich war. Doch das ficht Kleine nicht an. Er schreibt:
Tatsache ist, noch 2005 waren sich deutsche Ermittlungsbehörden sicher: Kurnaz ist brandgefährlich! (Hervorhebung von uns.)
Wie Kleine auf diese Idee kommt, wissen wir nicht. Belege für diese vermeintliche “Tatsache” liefert er keine. Stattdessen schreibt er im folgenden Satz:
In einem Vermerk des LKA Bremen vom Mai 2002 heißt es: Es “besteht Grund zu der Annahme, dass Kurnaz nach Pakistan gereist ist, um von dort aus an der Seite der Taliban in Afghanistan gegen die USA zu kämpfen.” (Hervorhebung von uns.)
Weiter erzählt “Bild” von einem Freund von Kurnaz’, dem “das LKA ‘erkennbar hohe Gewaltbereitschaft'” bescheinigt habe. Von einem anderen Freund weiß “Bild” zu berichten, dass er für Kurnaz das Flugticket nach Pakistan bezahlt und angeblich Kontakte zu “den radikalen Taliban” habe. Außerdem habe der “Vorbeter der Bremer Abu-Bakr-Moschee” Kurnaz zum “militanten Islam bekehrt”.
Das sind alles weiß Gott keine Neuigkeiten. “Bild” beschreibt heute vielmehr die Ausgangslage, die die Bremer Staatsanwaltschaft dazu bewogen hatte, ab Oktober 2001 gegen Kurnaz und drei seiner Bekannten zu ermitteln. Der “Spiegel” (und danach die “taz”) hatte bereits im Januar 2002 im Wesentlichen über dieselben Verdachtsmomente berichtet, die “Bild” heute hervorkramt. Allerdings ließen sich zu keinem Zeitpunkt Belege für Kurnaz’ Schuld finden — woran auch die wenigen Details nichts ändern, die “Bild” heute dem längst Bekannten hinzufügt. Die Bremer Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen Kurnaz, das während seiner Inhaftierung geruht hatte, kurz nach dessen Rückkehr nach Deutschland im Oktober 2006 ein. Die Bundesanwaltschaft, die das Verfahren gegen Kurnaz Anfang 2002 auf Betreiben der Bremer Staatsanwaltschaft geprüft hatte, wollte schon im Februar 2002 nicht mal Ermittlungen aufnehmen, weil sie keinen Anfangsverdacht erkennen konnte. Und eine Amerikanische Bundesrichterin verwarf im Januar 2005 sämtliche Vorwürfe, die von amerikanischen Behörden gegen Kurnaz vorgebracht worden waren.
Und was tut “Bild”? “Bild” ignoriert all das, kramt uralte Indizien hervor (noch mal: von denen keine zu einer Erhärtung des Verdachts gegen Kurnaz führten), tut dabei so, als wären das Neuigkeiten (und hat damit auch nochteilweiseErfolg), um was zu erreichen? Um den Eindruck zu erwecken, es habe Kurnaz ganz Recht geschehen, viereinhalb Jahre lang ohne rechtsstaatliches Verfahren in Guantanamo inhaftiert und offenbargefoltert worden zu sein?
Nachtrag, 25.1.2007: Die “Süddeutsche Zeitung” zeichnet in ihrer heutigen Ausgabe den Gang der Ermittlungen gegen Kurnaz nach und fasst das interessanterweise so zusammen: “Bis heute streuen Politiker Verdächtigungen gegen Murat Kurnaz, obwohl ihn die Justiz längst für unschuldig hält.”
Nachtrag, 26.1.2007: Nachdem Rolf Kleine also in den vergangenen Tagen wie beschrieben über den Fall Kurnaz/Steinmeier berichtet hatte, führt er heute ein recht ausführliches Interview mit Steinmeier.