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“Ich bin der von Wir sind Papst”

Gute PR verschweigt die eigenen Schwächen, betont die Fehler der anderen und erklärt alles zur eigenen Stärke, was kein eindeutiger Fehler ist. Insofern war der gestrige Vortrag des “Bild”-Chefredakteurs Kai Diekmann über den “Erfolg der Marke BILD” beim PR Club Hamburg perfekt. 170 “angemeldete Gäste” lauschten, davon locker 80 Prozent junge Frauen sowie ein Diekmann-Jünger (gleiches rosa Hemd, gleiche Brille — nur die Haare wirkten gewaschen).

“Ich bin ausgesprochen froh”, beginnt Diekmann, “heute Abend etwas für das Image der ‘Bild’-Zeitung tun zu können, denn das ist in der Tat dringend notwendig. Sie wissen alle: Die ‘Bild’-Zeitung ist eine wirklich schlimme Zeitung.” (Erstes leises Kichern im Publikum.) “Das kann man schon daran erkennen, dass ich Hauptarbeitgeber für den deutschen Presserat bin, wenn es darum geht, Beschwerden zu verteilen.”

Ja: Ehrlichkeit kommt immer gut. Schmerzhafte, selbstzerfleischende Ehrlichkeit. Packt Papst-Buddy Diekmann gleich die Geißel aus? Nein. “Als Angela Merkel zur ersten deutschen Bundeskanzlerin gewählt wurde, haben wir sie mit der Schlagzeile begrüßt: Miss Germany. Prompt hat ein Leser den Presserat aufgefordert, uns dafür zu rügen. Jeder wisse, bei der Bundestagswahl sei es gar nicht um eine Miss-Wahl gegangen”, (leises Kichern) “und deswegen hätten wir mit unserer Schlagzeile gegen den Grundsatz der wahrheitsgemäßen Berichterstattung verstoßen.”

Kichern, Lachen, Ho Ho Ho

Bei der Headline “Wir sind Papst” habe sich “ein Deutschlehrer” (weiteres Kichern) “beschwert, die Zeile sei nicht nur grammatikalisch falsch, sondern auch inhaltlich, weil eben nicht alle Deutschen zum Papst gewählt wurden.” (Lachen.) “So geht das übrigens den meisten Eingaben, über 90 Prozent werden zurückgewiesen.”

Wir lernen: Der Presserat ist dazu da, sich mit Lächerlichkeiten zu befassen.

Denn Fehler? Fehler macht “Bild” ja keine. Na gut, keine schwerwiegenden. “Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Macht ‘Bild’ mal einen Fehler, ist es gleich eine bösartige Kampagne, wenn nicht gleich eine Fälschung. Fehler passieren allen.” Nur in der Sportberichterstattung “darf nicht passieren, dass wir einen Fehler haben, darunter würden wir leiden.”

Der einzige “schwere handwerkliche Fehler”, den Diekmann zugibt, sei damals die Trittin-Geschichte gewesen. “Da hat jemand aufs Foto ‘Bolzenschneider’ und ‘Schlagstock’ geschrieben und das an den Texter geschickt. Der Texter dachte sich, dann muss das wohl stimmen und es in den Text übernommen, worauf sich der erste gedacht hat: Ah, hab ich also recht gehabt, steht ja auch im Text.” Onkel Kai hält Märchenstunde, und die Kinderlein lachen ganz brav. So harmlos war das also alles, wie nett!

Fehler machen immer die anderen: “Sport ist nicht die Kernkompetenz der SZ. Ich sehe es ihr nach, wenn sie bei Victoria Beckham nur von zwei Kindern spricht.“ Wo doch Frau Beckham eine so berühmte Sportlerin ist. “Ich nehme es aber der FAS übel, wenn sie beispielsweise den Kanzleramtsminister von Angela Merkel Lothar de Maizière nennt.” Sogar der “New York Times” sei doch vor kurzem wieder ein Fehler unterlaufen, das Foto mit dem “berühmten Mann im Gefängnis im Abu Ghraib”. Da sei ja auch der Spiegel drauf reingefallen.

Mit den Fingern in der Keksdose

Ablenkung ist ein wunderbares PR-Instrument. Auch mit den Fingern in der Keksdose hat man immer noch eine Hand frei, um damit auf jemand anderen zu zeigen. Und wenn einmal jemand anderer die gleichen Fehler macht, die einem selbst regelmäßig passieren, darf man umso lauter davon erzählen. Von diesem Tsunami-Foto vor zwei Jahren, nämlich, das von einem Leser angeboten worden war. Ein “gigantisches Foto von einer Flutwelle mit Menschen, die davonliefen.” Lange und aufwändig recherchiert habe man, bis man das Bild endlich im Internet gefunden habe: “Es war drei Jahre alt. Die Münchner tz ist am nächsten Tag damit erschienen, die haben das nicht erkannt.” Das Internet sei eben “kein journalistisches Medium, sondern ein Medium, in dem zuallererst Gerüchte verbreitet werden, unsortierte, ungeprüfte Informationen. Selbstverständlich müssen Leserinformationen genauso überprüft werden wie alle anderen Informationen auch.” Außer, man gefährdet damit eine tolle Schlagzeile. Die gestrige Headline über “Gerhard Schröders neues Russenbaby war nicht abgesichert”, gesteht Diekmann. “Das kam über einen Leser. Da habe ich lange gezittert.”

Da zeigt der Chefredakteur der drittgrößten Zeitung der Welt (“Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Nummer 1 und Nummer 2 die Schlagzeilen noch besser formulieren, dabei handelt es sich um zwei japanische Zeitungen”) also doch auch ein wenig Menschlichkeit. Es sei eben auch ein harter Job. Von Franz Müntefering wurde er während der Bonusmeilen-Affäre angezeigt, “nur wer anstößig ist, kann gegebenenfalls Anstöße geben. Dafür werden wir attackiert, beschimpft, verdammt – aber das muss man aushalten, wenn man Marktführer ist. Wir steigen einer Menge Leute auf die Füße.” Sauerei bleibt Sauerei, bei den Großen wie bei den Kleinen. Die ‘Bild’-Zeitung sei der “Anwalt des Lesers”, und wenn eines der eigenen “Volks”-Produkte Scheiße ist, “dann schreiben wir auch das.”

Nein, es gebe auch Grenzen. Die aktuelle Affäre um Günter Grass hätte man dann doch nicht mit “Gestatten: Grass — mit SS” betitelt. (“Ho ho ho” im Publikum.) Den Ausriss mit dem Diana-Unfallfoto habe man aber sehr wohl gedruckt, “das war ein überaus ästhetisches Bild.”

Pulsmesser und Gemeinschaftserlebnis

Als es nach knapp 50 Minuten Vortrag zur Fragerunde kommt, nimmt Diekmann schon vorab die “Mir doch egal”-Abwehrhaltung ein: Arme verschränkt, leicht schmollend, herumtrippelnd, als ob er ja eigentlich schon viel lieber ganz woanders wäre. Doch er muss sich nicht fürchten. Die Fragen sind mehr als freundlich.

Er hat gewirkt, der Bombenhagel aus Überheblichkeit (“Auf nationaler Ebene ist nur noch ‘Bild’ in der Lage, die großen Themen wirklich zu setzen. Wir sind das letzte mediale Gemeinschaftserlebnis in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird”; “Politiker messen mit ‘Bild’ den Puls Deutschlands”), Anekdötchen (“Ich habe zum Papst gesagt: ‘Ich bin der von Wir sind Papst'”) und Gags (“taz — die andere Boulevardzeitung in Deutschland”).

Als Belohnung, weil doch keine kritischen Fragen mehr kommen, wird dann noch eine Einladung ausgesprochen, doch mal eine Redaktionskonferenz zu besuchen. Das Publikum applaudiert dankbar, Diekmann wirkt erleichtert, verschwindet mit Kollegen in der Bar…

… und fast ist man versucht, noch ein wenig Leser-Reporter zu spielen.

Sigrid Neudecker
Die Autorin ist Redakteurin bei “Zeit Wissen” und Bloggerin

(Alle Links von uns.)

Heute anonym VI

“Bild” berichtet über eine Mutter, die ihrer inzwischen vierjährigen Tochter über einen längeren Zeitraum hinweg mehrmals Kalkreiniger eingeflößt haben soll. Wegen Misshandlung Schutzbefohlener wurde die Mutter jetzt angeklagt. Der Vater des Kindes wurde ebenfalls angeklagt, wegen Beihilfe. “Bild” illustriert die Geschichte mit Fotos aller Beteiligten.

Und wer weiß schon, was man sich bei “Bild” gedacht hat, als es um die Frage ging, welche der Beteiligten man anonymisieren solle. Der Gedanke, dass die Tochter mit ihren vier Jahren und als Opfer der ganzen Geschichte besonders schutzbedürftig sein könnte, scheint jedenfalls niemandem gekommen zu sein. “Bild” zeigt sie gleich zweimal unverfremdet:

P.S.: Bei Bild.de entschied man sich übrigens für eine, zwar seltsam anmutende, insgesamt aber nachvollziehbarere Anonymisierungspraxis.

Mit Dank an Frederik B. für den sachdienlichen Hinweis.

Billiger geht’s nicht

So wie rechts sah gestern die Titelseite der “Bild”-Zeitung aus. In ihrem Aufmacherartikel warb sie für ein Angebot des einschlägig bekannten Discounters Lidl: Man solle in eine der “über 2600 Lidl-Filialen” gehen und einen Coupon aus der “Bild”-Zeitung an der Kasse abgeben, dann werde man für 99 Cent einen Six-Pack “köstliches Grafenwalder Premium-Pils”, “eine große Tüte knackige Erdnuß-Flips” und eine Deutschland-Fahne bekommen.

Die Tageszeitung “taz” stellte daraufhin eine naheliegende Frage: Muss man über eine solche Anzeige nicht “Anzeige” schreiben? Sie bekam unterschiedliche Antworten:

Volker Nickel, Geschäftsführer des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft, sagte, ja, das Wort “Anzeige” fehle.

Carel Mohn, Sprecher des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen, sagte, Springer verstoße zur Gewinnmaximierung bewusst gegen das Gesetz — das sei ein “besonders krasser Fall von unlauterer Werbung”.

Tobias Fröhlich, Sprecher der “Bild”-Zeitung, sagte, hier werde gegen gar nichts verstoßen — das sei “eine Aktion der Zeitung für ihre Leser mit einem Partner und als solche klar erkennbar”.

Nur als was die Aktion klar erkennbar sei, als Werbung, als redaktioneller Beitrag oder als lustige Mischform, scheint der “Bild”-Sprecher der “taz” nicht gesagt zu haben.

Danke an Franz T. und viele andere!

Nachtrag, 27.7.2006: Der Presserat teilt die Einschätzung der Verbraucherzentralen und der Werbewirtschaft nicht. Wie man in einer Pressemitteilung der Axel Springer AG nachlesen kann, hat der Presserat “drei Beschwerden gegen BILD als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen”. In der uns vorliegenden Begründung heißt es, mit der der Lidl/”Bild”-Aktion werde der “Grundsatz der klaren Trennung von Werbung und Redaktion nicht verletzt”. Laut Presserat handelt es sich vielmehr um zulässiges “Eigenmarketing”.

Mit Dank an Tobias F. für den Hinweis.

  

Die Todsünde der Zornlosigkeit

Bei den Damen dominiert die Tropfenform bei der Wahl ihrer Ohrringe. Die Männer haben zu senfgelben Bundfaltenhosen gegriffen, kombiniert mit einem beigen Pulli. Das Publikum, das Kai Diekmann bei seinem Vortrag “der Zorn” vorfindet, sieht aus, als besuche es gern auch mal Jürgen-Fliege-Veranstaltungen oder einen gelungenen Orgelabend. Auf jeden Fall, man ist sich einig: “manchmal, da habe ich selbst einen richtigen Zorn. Aber auf die ‘Bild’-Zeitung und ihre schlimmen, schlimmen Zeilen”, wie ein Tropfenohrring ihrer Bundfalte zuflüstert.

Für ihre Vortragsreihe “Die 7 Todsünden” hat die St. Katharinen-Gemeinde in Hamburg am Dienstagabend den Chefredakteur der “Bild”-Zeitung geladen. Der Ort: die Kirche. Am Rand des Mittelschiffes stehen Apfelschorle und Mineralwasser zum Verkauf. Vorn neben dem Mikrophon massiert sich der Organist die Finger Bach-bereit. Und gleich in der ersten Reihe: Kai Diekmann mit Schimmer-Krawatte und dunklem Anzug.

“Ich könnte sagen, die St. Katharinen-Kirche ist die ehemalige Kirche der Bierbrauer und mir deshalb besonders sympathisch”, flötet er seinen Vortrag an, “oder: es ist mir eine Ehre, ausgerechnet meine subjektive Wahrheit in der Nähe einer Kanzel verbreiten zu können.” Captatio Benevolentiae nennt man das: Das Wohlwollen der Zuhörers einsacken.

Was folgt, ist ein Diskurs über den Zorn, bzw. über den Nicht-Zorn, der Deutschland seit etlichen Jahren mehltauartig befallen hätte. “Der Mangel an Empörungswillen ist weit verbreitet”, klagt Diekmann. Große Journalisten wie Henri Nannen, Gerd Bucerius oder, natürlich, Axel Springer seien stets zornig gewesen. Heute dagegen? “Wir machen es uns gemütlich, und statt zu demonstrieren, lesen wir Wohnzeitschriften und kaufen in schwedischen Möbelhäusern ein.” Diekmann wettert, schimpft und kanzelt — und tatsächlich: sein Ich-bin-so-sauer-auf-Sie-Herr-Diekmann-Publikum nickt beifällig den Kopf. Denn natürlich hält sich hier keiner für “zornlos”, nö, nie, Zorn gehört doch zum Leben, oder? Allgemeines Konsensgenicke. Die Apfelschorle schmeckt. Keiner regt sich auf, keiner ist zornig, dass er so mir nichts, dir nichts, mit den Praktiken der “Bild”-Zeitung verglichen wird. Komisches Paradox. Kann man einverstanden zornig sein?

Diekmann jedenfalls webt eine spinnwebendünne Allianz zwischen Zuhörern und Bild: “Wir sind eine Zorn-Zeitung”, sagt er und schließt kurz danach: “Zorn ist auch die Voraussetzung von Mut, sagt Thomas von Aquin.” Aha, große Denker können nicht irren, wir, die “Bild” und Thomas von Aquin sind einer Meinung: Zorn ist nötig. Und, warte mal, war da nicht auch was mit Jesus?

“Vielleicht muss man nicht immer so laut wie die ‘Bild’ sein, aber immerhin ist es Jesus selbst gewesen, der die Peitsche in die Hand genommen hat”, zieht Diekmann eine Parallele, gegen die sich zumindest Jesus verwahrt hätte. “Er hat damit die Händler aus dem Tempel getrieben.” Spätestens jetzt wird auch dem letzten Bundfaltenhosenträger in der St. Katarinen-Kirche klar: “Bild” hat im Sinne Jesus einen “brennenden, erfrischenden Zorn”.

Es fehlt nur noch, dass Diekmann seinen Vortrag mit “Passen Sie gut auf sich auf” beendet. Applausgeklatsche in der Kirche.

Die Fragen der Hauptpastorin Ulrike Murmann nach dem Vortrag (“Spielt ihr Gewissen bei der Arbeit eine Rolle?”) beantwortet er routiniert und auf der linken, pardon, rechten Pobacke. So richtig in die Ecke treiben lässt er sich nicht von Fragen, die eingeleitet werden mit: “Ich kenn’ mich ja in den Medien nicht so aus.” Auf die Frage, wie das denn sei, mit dem Presserat und den vielen Beschwerden, antwortet er mit der Beschwerde eines Lehrers im vergangenen Jahr nach der “Wir sind Papst”-Schlagzeile. Diese Behauptung sei grammatisch und inhaltlich falsch und deshalb ein Verstoß gegen das Wahrheitsgebot. Amüsiertes Geschmunzel auf den Korbflechtstühlen. Haha, nein, mit was für Kinkerlitzchen sich der Chef da rumschlagen muss.
Und erst die Fragen des Publikums — “Ich bin auch manchmal zornig. Zornig über die Auswahl der kirchlichen Losungen zum Beispiel”, “Finden Sie nicht auch, dass die Zornlosigkeit in Deutschland erst mit Einführung des Privatfernsehens stattfand?” — ach, geschenkt.

“Ein schöner Abend”, befindet eine Besucherin beim Hinausgehen. “Nur die letzte Frage der Pastorin, die fand ich zu indiskret für den Herrn Diekmann.” Hauptpastorin Murmann hatte gefragt, wie sein katholischer Alltag aussehe. Wirklich, das war ziemlich kontrovers.

Katrin Wilkens

Anderswo zum selben Thema:

“Chrismopolitan”: Todsünde ist keine, wenn man sie begeht
“Süddeutsche Zeitung”: Kai Diekmann zürnt beruflich
“Hamburger Abendblatt”: Zornlosigkeit ist eine Todsünde

Heute anonym V

“Bei der Berichterstattung über Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Jugendliche (…) soll die Presse mit Rücksicht auf die Zukunft der Betroffenen besondere Zurückhaltung üben.” (Pressekodex, Richtlinie 13.2)

Es gibt ein Foto, das den 16-jährigen, der am vergangenen Freitag bei einem Amoklauf in Berlin mehrere Dutzend Menschen verletzt hat, mit einem süßen Hund im Arm zeigt. Die “Bild”-Zeitung mag dieses Foto sehr. “Bild” und “Bild am Sonntag” haben es nun an vier Tagen in Folge groß im Blatt gezeigt.

Gestern und heute war dies die Augenpartie:

Am Sonntag und Montag sah dieselbe Stelle auf dem demselben Foto noch so aus:

Wir wissen nicht, was “Bild” dazu bewogen hat, seit gestern keine unverpixelten Fotos des Jugendlichen mehr zu zeigen. Wir wissen nur: Wenn die “Bild”-Zeitung den 16-jährigen heute nicht erkennbar zeigen darf, hätte sie es vorgestern auch nicht tun dürfen.

Aber für den Zeitungsverkauf ist das womöglich am besten: Erst mal einfach alle Gesichter unverfremdet zeigen, und dann im Nachhinein in Ruhe überlegen, welche eigentlich doch verpixelt werden müssen. Als könne man jemanden nachträglich anonymisieren.

PS: Dass es noch andere gute Gründe gibt als das Persönlichkeitsrecht, Kinder und Jugendliche, die einer Straftat verdächtigt werden, nicht groß und erkennbar abzubilden, zeigt der Fall des zwölfjährigen Jungen aus Berlin, der seine Lehrerin angegriffen haben soll. Ein Beitrag in den Nachrichten von RTL, die ein Interview mit dem Jungen gezeigt hatten, hatte erhebliche Proteste zur Folge — unter anderem von der Familie des Opfers. Die RTL-Chefredaktion versprach daraufhin, den Jugendlichen nur noch verpixelt zu zeigen, “um ihm kein unnötiges Forum zur Selbstdarstellung zu geben”.

Bei “Bild” guckte der Zwölfjährige am Dienstag cool aus der Schlagzeile auf Seite 1 — und war auch heute wieder unverfremdet im Blatt.

Der Mörder ist immer der Türke

In der vergangenen Woche suchte die Berliner Polizei nach zwei jungen Männern, möglicherweise “südländischer Herkunft”, die im Stadtteil Reinickendorf einen Mann erstochen haben sollen. Am Montag wurden zwei Tatverdächtige verhaftet. Am Dienstag berichtete “Bild” und nannte die beiden “Murat G.” und “Nasir L.”.

Das sind nicht ihre richtigen Namen. “Bild” hat die Namen der Verdächtigen geändert und vergessen, das irgendwo anzugeben. Was soll’s. Wahrscheinlich heißen die beiden in Wahrheit “Özgür” und “Muhammed”. Oder “Rahim” und “Ibrahim”? Irgendwie so halt.

Nein, ganz anders. “Bild” hat nämlich nicht nur die Namen der Verdächtigen geändert, sondern auch ihre scheinbare Herkunft. Wie der “Tagesspiegel” berichtet, sind die Tatverdächtigen “Deutsche, gänzlich ohne den so genannten Migrationshintergrund und ‘mit treudeutschen Namen’, wie die Staatsanwaltschaft am Montag beteuert hatte und dies gestern auf Nachfrage wiederholte”.

Danke an Ulrike S. und Henryk J.!

Nachtrag, 15.9.2006: “Bild” wurde für die diskriminierende Namenswahl vom Deutschen Presserat öffentlich gerügt.

Ungeprüft übernommen (1)

Okay, eigentlich ist es wohl ein Fehler der Nachrichtenagentur AFP. Deren deutschsprachiger Dienst berichtete nämlich am Dienstag über die (notwendige) “Entrümplung” britischer Gesetze. Einen aktuellen Anlass für die Meldung gab es nicht. Britische Medien hatten vor knapp einem Jahr über das 40-jährige Bestehen der für die “Entrümplung” zuständigen Law Commission berichtet und vor knapp zwei Monaten über eine sachdienliche Ausstellung der Law Society.

Dennoch übernahmen verschiedene deutschsprachige Medien die AFP-Meldung. Und darin heißt es u.a. (und mit Verweis auf das 2004 erschienene Buch “The Strange Laws of Old England” von Nigel Cawthorne) über den so genannten “Town Police Clauses Act”:

“Er verbietet es, Wäsche auf der Straße auszubreiten, Teppiche auszuschlagen, anzügliche Lieder zu singen, ohne Grund die Feuerwehr zu rufen, im Garten zu zündeln, Drachen steigen zu lassen, auf dem Eis zu laufen, ständig an der Türe anderer Leute zu klingeln oder öffentliche Lampen auszumachen.”

Und das ist so nicht ganz richtig. Denn der Act (von dem AFP zudem behauptet, er sei “von 1872”, obwohl er eigentlich aus dem Jahr 1847 stammt) verbietet nirgends, “ohne Grund die Feuerwehr zu rufen”, sondern Schusswaffen abzufeuern (wie vor drei Wochen auch noch die französische AFP korrekt zu berichten wusste).

Heute aber, mit drei Tagen Verspätung, findet sich das alles auch im Angebot von Bild.de wieder — in redaktionell bearbeiteter Form, also unter Verzicht auf jegliche Quellenangabe (und den Cawthorne-Verweis). Stattdessen behauptet Bild.de in der Rubrik “Zum Ablachen” über “Gesetze, die die Welt nicht braucht”:

Verrückte Gesetze der Briten -- Es ist ebenfalls untersagt, ohne Grund die Feuerwehr zu rufen. („Town Police Clauses Act“ von 1872)

Aber wer weiß: Womöglich liegen Bild.de-Redakteure auch bei der Lektüre von §145 StGB unterm Tisch und kriegen sich nicht ein vor Lachen.

Mit Dank an Beate T. und Nikolai S. für die Hinweise.

Nachtrag, 11.3.2006: Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass heute, einen Tag nach der verzögerten, fehlerhaften Berichterstattung bei Bild.de, auch Spiegel Online die fehlerhafte AFP-Meldung ungeprüft übernommen* hat.

*) Nur zur Info: Der Presserat ist der Ansicht, dass eine Zeitung darauf vertrauen können müsse, “dass das, was eine Nachrichtenagentur verbreitet, auch inhaltlich richtig ist. Die pressegemäße Sorgfalt verlangt demnach keine eigene Überprüfung des Wahrheitsgehaltes mehr.”

Jedes gruselige Detail

Am 24. Juli 2003 machte die Illustrierte “Stern” mit dem Titel “Der Kannibale” auf. Im Inneren schilderte sie auf vielen Seiten außerordentlich detailliert, wie Armin Meiwes im März 2001 einen Mann auf dessen Wunsch hin verstümmelte, tötete und später Teile der Leiche aß. Der Deutsche Presserat missbilligte zwei Monate später diesen Bericht und erklärte:

Die detaillierte Schilderung der Zubereitung und des Essens von Körperteilen geht nach Meinung des Gremiums über ein begründbares Informationsinteresse der Öffentlichkeit deutlich hinaus.

Armin Meiwes steht zur Zeit wieder wegen seiner Tat vor Gericht. “Bild”-Reporter Marco Schwarz ist vor Ort und beginnt seinen Bericht* vom vierten Prozesstag mit den Sätzen:

Er beschreibt jedes gruselige Detail. Geht’s nicht noch ein bißchen genauer? Noch ein bißchen ekliger?

Vierter Verhandlungstag gegen den Kannibalen von Rotenburg und die Frage: Wie halten das Zuschauer, Richter und Anwälte bloß aus?

Ja, und wie die Leser einer großen Boulevardzeitung? Das lässt sich doch herausfinden. Im Rest des Artikels gibt der “Bild”-Reporter die kaum auszuhaltenden Schilderungen über den genauen Ablauf der Tat ausführlich und wörtlich wieder. Er beschreibt jedes gruselige Detail. Und falls sich herausstellen sollte, dass es doch noch ein bisschen genauer, noch ein bisschen ekliger ging — “Bild” wird es ausführlich dokumentieren.

*) Der Artikel ist auch online. Verlinken wollen wir ihn nicht.

Nachtrag, 7.2.2006:
Bereits seit einigen Tagen ist der Artikel aus dem Angebot von Bild.de gelöscht. Ebenfalls seit einigen Tagen steht eine Antwort von Bild.de-Chef Oliver Eckert (auf unsere Frage nach dem Grund dafür) aus.

Vom Schweigen

Man könnte natürlich einfach sagen, dass es weder uns, noch die “Bild”-Zeitung irgendetwas angeht, ob Rudi Carrell krank ist und wie krank er ist. Interessanterweise sagt das Gesetz genau das Gleiche:

Die Intimsphäre bildet den engsten Persönlichkeitsbereich und genießt den stärksten Schutz vor öffentlichen Einblicken. Grundsätzlich vor Öffentlichkeit geschützt ist der Sexualbereich des Menschen, und sein körperliches Befinden, wozu auch medizinische Untersuchungen gehören.
(Dorothee Bölke: Presserecht für Journalisten.)

(…) selbst bei Personen der Zeitgeschichte bleibt die Art einer Erkrankung regelmäßig in der Geheimsphäre, es sei denn, die Betroffenen gehen mit dieser Information selbst in die Öffentlichkeit.
(Deutscher Presserat: Umgang mit Krankheiten.)

Bis zum 24. November 2005 hatte Rudi Carrell öffentlich nicht über seine Krankheit gesprochen. Das hatte “Bild” nicht vom Spekulieren abgehalten: “Wie schlimm steht es um Rudi Carrell”, fragte die Zeitung am 15. November in großen Buchstaben und berichtete:

Der Showmaster ist abgemagert, leidet an Haarausfall. (…)

Fragen zu seiner Krankheit möchte Carrell nicht beantworten. Sein Assistent Sören Haensell: “Es gibt von uns keine Auskunft zu diesem Thema.”

Erst, wie gesagt, neun Tage später äußerte sich Carrell öffentlich, in der “Bunten”. Man kann argumentieren, dass “Bild” seitdem das Recht habe, über Carrells Krebserkrankung zu berichten. Aber stimmen muss es natürlich.

Krebskranker Carrell: Stummer Abschied im TVEs spricht wenig dafür, dass das stimmt, was “Bild”-Reporter Daniel Cremer in seinem Artikel über den Auftritt Carrells bei der Aufzeichnung der letzten Ausgabe von “Sieben Tage, sieben Köpfe” suggeriert: dass Carrell nicht mehr sprechen kann. “Ist der Holländer mit dem unverwechselbaren Akzent für immer verstummt?”, fragt “Bild” und zitiert zur Antwort einen anonymen “langjährigen Kollegen”: “Rudi kann nicht mehr sprechen.” Cremer behandelt diese Aussage, als sei sie eine Tatsache, zitiert einen Arzt, der das Phänomen einer “Stimmbandlähmung” erklärte, und behauptet vielsagend: Carrell “kommuniziert über E-Mail”.

Wenige Tage später liest sich das in der “Bild am Sonntag” ganz anders. Cremers Kollegin Angelika Hellemann hat von Bernd Stelter erfahren, dass Carrell das Team “zusammengestaucht” habe, und zitiert Stelter mit dem Satz:

Er darf seine Stimme zwar nicht überanstrengen, kann aber ganz normal mit uns reden.

Und wir merken uns: Wenn “Bild” sorglos über die Krankheit von Menschen berichtet, kann immer auch das Gegenteil stimmen.

Danke an Michael M. für den Hinweis!

Die schärfste Sanktion

Im Juni dieses Jahres hatte “Bild” in der Überschrift zu einem Artikel geschrieben, “Kannibale grillte seine Cousine im Backofen”. Gut drei Monate später ging der Presserat bis zum Äußersten: Er rügte “Bild” öffentlich deswegen, und griff damit zur schärfsten Sanktion, die ihm zur Verfügung steht.

Und heute nun kommt “Bild” der Verpflichtung, die Rüge abzudrucken auf Seite zwölf nach — schließlich entspricht es laut Ziffer 16 des Pressekodex ja “fairer Berichterstattung”, öffentlich ausgesprochene Rügen abzudrucken:

P.S.: Damit Sie etwas leichter fündig werden: Die Rüge ist der kleine Text unter der handelsüblichen Streichholzschachtel, die wir zur Verdeutlichung dazu gelegt haben. Dort steht:

Presserat rügt
Wegen der Berichterstattung in der BILD vom 10.06.2005 unter der Überschrift “Kannibale grillte seine Cousine im Backofen” hat der Deutsche Presserat einen Verstoß gegen Ziffer 8 und Ziffer 13 des Pressekodex festgestellt und gerügt.

Nachtrag, 24.11.05:
Die gerügte Meldung findet sich nach wie vor unverändert bei Bild.de.

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