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Wie “Bild” den Amoklauf in Szene setzt

Die “Süddeutsche Zeitung” hat die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg gefragt, wie hoch die Nachahmungseffekte bei Amokläufern sind, und sie hat geantwortet:

Sehr hoch. Auch wegen der Medien, die das Gesicht des Täters, seine Waffen, seine schwarze Kleidung zeigen und ein mystisches Bild von ihm zeichnen. Das wirkt wie ein Vorbild. Bei Selbstmorden sind die Medien sehr zurückhaltend, um nicht Nachahmer zu provozieren. Bei Amokläufen gilt leider das Gegenteil. Ab jetzt besteht die große Gefahr, dass wir es in den nächsten Wochen oder Monaten mit einem Nachahmungstäter zu tun bekommen.

Dieser Gedanke kommt oft zu kurz in den Medien: dass nicht nur Killerspiele möglicherweise eine gefährliche Wirkung auf labile Jugendliche haben können, sondern auch ihre eigene Berichterstattung. Das betrifft nicht nur “Bild”, sondern fast alle Medien. Aber wenn es vor allem wichtig ist, die Täter nicht in einer Heldenpose zu zeigen, hatte “Bild” eine besonders schlechte Idee. Die Zeitung zeigt Tim K., den Amokläufer von Winnenden, in einer Pose, die ihm selbst bestimmt am besten Gefallen hätte. Sie hat sein Gesicht auf das Foto eines Mannes in schwarzer Kampfuniform montiert, die Waffe drohend in Richtung Kamera gerichtet. Das Heldenfoto hat Postergröße, ist fast einen halben Meter hoch:


(Rote Unkenntlichmachung von uns.)

Zusätzlich hat sich der “Bild”-Zeichner ausgemalt, wie das wohl ausgesehen hat in dem Klassenzimmer zwischen Tafel und Overheadprojektor, als Tim K. in seiner schwarzen Rächeruniform gerade ein Mädchen erschoss.

Anders als die “Süddeutsche Zeitung” heute (und Bild.de gestern) nennt “Bild” nicht den Nachnamen des Täters. Und anders als die “Berliner Zeitung” gibt “Bild” auch nicht die exakte Anschrift des Hauses an, in dem seine Familie lebt.

Dafür hat Bild.de ein kleines Familienalbum des siebzehnjährigen Täters im Angebot — nicht weniger als sieben private Fotos, die ihn als kleines Kind und als Jugendlicher zeigen und die vor allem bei Tischtennisturnieren entstanden sind.

Aber die “Bild”-Zeitung hält nicht nur den Täter für eine Person der Zeitgeschichte, sondern identifiziert auch einige seiner Opfer. Sie zeigt vier getötete Mädchen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, ein Gesicht fast lebensgroß, mit Fotos, die offensichtlich von SchülerVZ und ähnlichen Internetseiten entnommen wurden.


(Rote Unkenntlichmachung von uns.)

Im Pressekodex heißt es:

Opfer von Unglücksfällen oder von Straftaten haben Anspruch auf besonderen Schutz ihres Namens. Für das Verständnis des Unfallgeschehens bzw. des Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Ausnahmen können bei Personen der Zeitgeschichte oder bei besonderen Begleitumständen gerechtfertigt sein.

Nachtrag, 13. März. Eines der vier angeblich toten Mädchen, die “Bild” gestern gezeigt hat, lebt. “Bild” schreibt heute:

Sie wurde zunächst selbst als tot gemeldet – doch Selina lebt! In BILD schildert sie die schlimmsten Minuten ihres Lebens – und den Tod ihrer Schulfreundinnen Chantal und Jana.

Wieder eine Rüge für “Bild”

Der Presserat hat die “Bild”-Zeitung mal wieder wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten gerügt. “Bild” hatte im Oktober vergangenen Jahres unter der Überschrift “Das letzte Foto – Drei Stunden später ist dieses Liebespaar tot” über einen Verkehrsunfall berichtet, bei dem drei junge Leute ums Leben kamen. Dazu hatte “Bild” Fotos der Toten veröffentlicht und “über die Unfallopfer mit Vor- und abgekürzten Nachnamen berichtet”, wie der Presserat in einer Pressemitteilung schreibt:

Durch die Veröffentlichung der Bilder und die Namensangaben wurden die Betreffenden eindeutig identifizierbar. Dies verletzt das Persönlichkeitsrecht nach Richtlinie 8.1, Abs. 1.

Laut Richtlinie 8.1 des Pressekodex ist die Presse verpflichtet, “bei der Berichterstattung über Unglücksfälle (…) in der Regel keine Informationen in Wort und Bild” zu veröffentlichen, “die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden.”

Außerdem beanstandete der Presserat eine Fotounterzeile, in der es hieß, eines der Opfer sei “zerquetscht” worden, als “unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid” gemäß Ziffer 11 Pressekodex.

“Bild” druckt “rätselhafte” Rüge ab

Anfang Dezember vergangenen Jahres wurde die “Bild”-Zeitung mal wieder vom Presserat gerügt. Die Rüge bezog sich auf die “Bild”-Berichterstattung über einen Flugzeugabsturz in Nepal, bei dem 18 Passagiere ums Leben kamen. “Bild” hatte auf der Titelseite unter der Schlagzeile “12 Deutsche im Flugzeug verbrannt!” ein Foto abgedruckt, auf dem “die verkohlten Leichen” geborgen wurden. Im Innenteil hatte “Bild” zudem mehrere unverfremdete Fotos von insgesamt sechs der zwölf deutschen Opfer gezeigt (siehe Ausriss).

“Bild” hatte die Rüge nicht verstanden, und “Bild”-Chef Kai Diekmann bezeichnete sie in einer Pressemitteilung als “rätselhaft”. Die “Bild”-Berichterstattung hätte “nach allen vom Presserat zu vergleichbaren Fällen kommunizierten Kriterien (…), die BILD vorab sorgfältig bedacht hat”, so Diekmann, “ethisch für unbedenklich gehalten werden müssen” (wir berichteten).

Das war Unsinn. Die Kriterien, die der Presserat bei der Rüge gegen die “Bild”-Zeitung kommuniziert hatte, entsprachen ziemlich exakt denen, die der Presserat zu den vergleichbaren Fällen kommuniziert hatte, auf die Diekmann sich in der Pressemitteilung bezog (wir berichteten).

Gestern druckte “Bild” die “rätselhafte” Rüge ab, wie es ihre Pflicht ist. Sie ist, wie üblich, nicht besonders prominent platziert (siehe Ausriss), aber der Text ist vergleichsweise lang – was daran liegt, dass “Bild” eine “Anmerkung d. Red.” hinzugefügt hat. Wie schon in der Pressemitteilung vom Dezember wird darin der DeutschlandRadio-Intendant Ernst Elitz zitiert. Der fand die “Bild”-Berichterstattung am Erscheinungstag in der öffentlichen Blattkritik nämlich völlig in Ordnung, denn “die Welt ist nun mal so wie sie ist”.

“Bild” hat indes immer noch nicht begriffen, dass sie für die Gesamtberichterstattung über den Flugzeug-Absturz gerügt wurde, weil dadurch laut Presserat “die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt” wurden. “Bild” habe einen “assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten im Innenteil und den anonymen Leichen auf der Vorderseite” hergestellt.

“Bild” behauptet heute beim Abdruck der Rüge unbeirrt etwas anderes:

"Rüge für BILD: Der Deutsche Presserat hat die Veröffentlichung eines Titelfotos in BILD gerügt, das die Bergung von verkohlten Leichen nach dem Flugzeugunglück im Himalaja am 8.10.2008 zeigt."

Nö.

Mit Dank an den Hinweisgeber (wir hätten es sonst übersehen).

neu  

“Bild” macht Mann zum “Kinderschänder”

Bei der “Bild”-Zeitung ist die Meinung weit verbreitet, dass Angeklagte eigentlich irgendwie auch immer schuldig sind. Entsprechend hat “Bild” kein Problem damit, Angeklagte vor einer Verurteilung vorzuverurteilen. Wie schlecht diese Idee ist, zeigt der Fall “Frank M.”:

Anfang Dezember 2008 stand in der “Bild”-Zeitung eine Geschichte, die wie gemacht war für den Boulevard. Es ging darum, “wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing”. “Bild” berichtete groß und ziemlich eindeutig:

"Wie die Thea (14) aus Leipzig einen Sexstrolch fing - Mädchen überführte Fummler mit Handy"

Thea ist erst 14 aber unterschätzen sollte man sie nicht. (…) Mit einem Trick und einer großen Portion Mut überführte sie einen Kinder-Schänder! (…) Der Vorwurf laut Staatsanwalt Michael Höhle: zwischen 2001 und 2007 soll er vier Mädchen (11-12) an ihren intimsten Stellen befummelt haben, darunter seine eigene Tochter.

“Bild” ließ kaum Zweifel daran, dass der vermeintliche “Kinder-Schänder” Frank M. schuldig sei. Zwar ließ sie ihn und dessen Anwalt die Vorwürfe kurz abstreiten (“Alle Vorwürfe sind falsch”, “Was meinem Mandanten vorgeworfen wird, stimmt nicht”), schrieb aber direkt im Anschluss:

Doch die Beweislage lastet schwer. Denn es gibt eine Tonaufzeichnung von einer der Taten des Kinderschänders. Die mutige Thea hat Frank M. damit zur Strecke gebracht!

Detailliert schildert “Bild”, wie “Thea” und ihr Bruder mit einem “Handy-Trick” Frank M. “zur Strecke” brachten:

“Am 13. Januar 2007 lockte er mich zu sich (…)”, erzählt das Mädchen. (…) [Ihr Bruder] sollte sie anrufen, nachdem sie bei Frank M. eingetroffen war. Damit er alles mithören und aufzeichnen konnte. In der Wohnung zog sich Frank M. aus, befummelte die Schülerin. (…) Am anderen Ende der Leitung hörte Theas Bruder alles mit, zeichnete das Gespräch auf. (…) “Dann sind wir mit den Handyaufzeichungen zur Polizei, haben ihn angezeigt”, sagt das tapfere Mädchen.

Anfang Januar sprach das Amtsgericht Leipzig Frank M. von “allen Vorwürfen” des sexuellen Missbrauchs frei.

Das überrascht angesichts der geradezu erdrückenden “Beweislage”, die “Bild” nach dem ersten Verhandlungstag schilderte. Allerdings hatte die mit dem Verlauf der Verhandlung ohnehin nur sehr wenig zu tun.

Was womöglich kein Wunder ist. “Bild”-Autorin Angela Wittig war offenbar einen erheblichen Teil der Verhandlung gar nicht im Saal. So schildert es uns jedenfalls der von “Bild” als “Fummler”, “Sexstrolch” und “Kinder-Schänder” verunglimpfte Frank M.: Der erste Verhandlungstermin habe ein paar Stunden gedauert, die “Bild”-Mitarbeiter seien jedoch nach etwa einer Dreiviertelstunde aus dem Saal gegangen und hätten “Thea” draußen “bearbeitet” und offenbar auch fotografiert (siehe Ausriss oben). Am zweiten Verhandlungstermin im Januar, an dem auch der Freispruch verkündet wurde, sei indes niemand mehr von “Bild” da gewesen.

Und anders als das Gericht, das bereits nach dem ersten Verhandlungstermin den seit 2007 bestehenden Haftbefehl gegen Frank M. aufhob, glaubte “Bild” der “mutigen Thea” offenbar jedes Wort und schrieb das am nächsten Tag ohne jede Distanz auf.

Wäre die “Bild”-Zeitung etwas länger geblieben und hätte der Verhandlung mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie eigentlich mitbekommen müssen, was uns der Anwalt von Frank M., Stephan Bonell, erzählt:

  • dass auf dem vermeintlichen Handy-Mitschnitt des sexuellen Missbrauchs außer Rauschen nichts zu hören gewesen sei;
  • dass die Polizei das bereits am Tag, als “Thea” Frank M. angezeigt hatte, festgestellt hatte;
  • dass die Widersprüche in den Aussagen der Mädchen, die Frank M. sexuell missbraucht haben sollte, so groß gewesen seien, dass das Gericht sie als “unglaubwürdig” eingeschätzt habe.

Laut Frank M. handelt es sich bei den Anschuldigungen um eine pubertäre Racheaktion an ihm und seiner Tochter.

Unabhängig davon zeigt die Urteilsbegründung vom Januar, was das Gericht von den Aussagen der “Opfer” hielt. Zu den Anklagepunkten 4., 5. und 6. (insgesamt waren es sechs), die auf der Aussage von “Thea” beruhten und in denen es jeweils darum ging, wie Frank M. sie und andere Mädchen sexuell missbraucht haben sollte, heißt es unter anderem:

Diese Zeugin ist als völlig unglaubwürdig einzuschätzen, nachdem sie (…) dargelegt hat, dass sie das Tatgeschehen zu 4. frei erfunden habe und sich an das Tatgeschehen zu 5. überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Ihre Aussagen (…) besonders auf Punkt 6. bezogen, sind darüberhinaus derart widersprüchlich, dass ihnen nicht gefolgt werden kann. Insbesondere durch die Aussagen ihres Bruders (…), der ohne Umschweife in der Hauptverhandlung kundtat, den Angeklagten in den Knast bringen zu wollen, wurde deutlich, dass dem Angeklagten auch das Tatgeschehen vom 13.01.2007 nicht angelastet werden kann.

Pressekodex:

Richtlinie 13.2 – Folgeberichterstattung
Hat die Presse über eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung eines Betroffenen berichtet, soll sie auch über einen rechtskräftig abschließenden Freispruch (…) berichten, sofern berechtigte Interessen des Betroffenen dem nicht entgegenstehen.

Zu den zwei weiteren Zeuginnen (die Tochter von Frank M. hatte die Aussage verweigert), merkt das Gericht an, ihre Aussagen seien “bemerkenswert widersprüchlich” zu vorherigen gewesen.

All das hätte die “Bild”-Zeitung spätestens am 6. Januar bei der Verkündung des Freispruchs zumindest in groben Zügen erfahren können – hätte sie sich die Mühe gemacht, über den Ausgang des Verfahrens zu berichten, wie es ihre Pflicht gewesen wäre (siehe Kasten). Hat sie aber nicht.

Für die “Bild”-Zeitung und ihre Leser ist Frank M. immer noch der “Fummler”, der “Sexstrolch” und der “Kinder-Schänder”.

Mit Dank auch an Mario S. und Uwe H.

Allgemein  

“Bild” hat sich vorab sorgfältig verdacht

Seit einiger Zeit versteckt die “Bild”-Zeitung die Rügen, die der Presserat gegen sie ausspricht, nicht mehr möglichst unauffällig im Blatt, sondern widerspricht lieber lautstark – beweist darin aber deutlich weniger Geschick.

Aktuell sieht sich die “Bild”-Zeitung ja zu Unrecht für ihre drastische Berichterstattung über einen Flugzeugabsturz in Nepal gerügt. Deshalb gab die Axel Springer AG gestern eine Pressemitteilung heraus. “Bild”-Chef Kai Diekmann bezeichnet die Rüge darin als “rätselhaft”, berief sich auf frühere Entscheidungen des Presserats, schien aber gar nicht begriffen zu haben, warum “Bild” eigentlich genau gerügt wurde (wir berichteten).

Der Presserat sah sich daraufhin genötigt, heute seinerseits eine Pressemitteilung herauszugeben, in der er Diekmanns Kritik “entschieden zurück” weist:

Die Rüge für die Abbildung von verkohlten Leichen auf der Titelseite der Zeitung – insbesondere in Verbindung mit Porträtfotos von Absturzopfern im Innenteil – liegt auf einer Linie mit der bisherigen Spruchpraxis des Presserats. Dies zeigen die Entscheidungen des Selbstkontrollgremiums zu Beschwerden über die Veröffentlichung von Fotos vom Concorde-Absturz und der Tsunami-Katastrophe, in denen ebenfalls gerügt bzw. missbilligt wurde.

Damit geht der Presserat explizit auf eine Passage aus der gestrigen Springer-Pressemitteilung ein, in der Diekmann sich so zitieren ließ:

“Nach allen vom Presserat zu vergleichbaren Fällen kommunizierten Kriterien – siehe ‘Stern’ und ‘Spiegel’ zum Concorde-Absturz und Tsunami –, die BILD vorab sorgfältig bedacht hat, hätte diese Veröffentlichung ethisch für unbedenklich gehalten werden müssen.”

Wie sorgfältig “Bild” insbesondere die Begründung des Presserats etwa zur Rüge für die Concorde-Berichterstattung des “Stern” bedacht hat, wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Kriterien der Presserat im Jahr 2000 in seiner Entscheidung kommuniziert hat:

Unter der Überschrift “Die Tragödie – Das Leben geht weiter” zeigt [der “Stern”] die Stelle in Paris, an der am 25. Juli 2000 eine Concorde-Maschine der Air France abgestürzt ist. Das Farbfoto veranschaulicht das Grauen auf dem Trümmerfeld und die Bergungsarbeiten nach der Katastrophe. So sind auf dem doppelseitigen Bild verkohlte Leichen zu sehen. Am rechten Rand der Seite sind die Fotos zweier Ehepaare und eines Mannes eingeblockt, die sich an Bord der Unglücksmaschine befanden. (…)

Der Presserat (…) erteilt der Zeitschrift eine öffentliche Rüge. (…)

Die eingeblockten Fotos der Absturzopfer stellen einen optischen und assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten und den anonymen Leichen her. Das verletzt zumindest die Würde der trauernden Angehörigen.

Zur Erinnerung hier nochmal die Begründung der aktuellen Rüge gegen die “Bild”-Zeitung:

Durch den assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten im Innenteil und den anonymen Leichen auf der Vorderseite wurden die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt.

Was auch immer Kai Diekmann daran nicht verstanden hat – es scheint ein grundsätzliches Problem zu sein.

  

Ernst Elitz über die “Bild”-Titelseite vom 9.10.2008

— Dokumentation —

Der DeutschlandRadio-Chef in der “Bild”-Blattkritik (ab ca. 13’30”):

“Bild”-Chef Kai Diekmann: (…) Wir haben gestern lange über das Foto diskutiert. Finden Sie das nachrichtlich adäquat oder überschreitet es das Maß der Grausamkeit? Unsere Argumentation gestern ist gewesen: Das ist das Nachrichtenfoto – genauso wie wir die Fotos gezeigt haben von den springenden Menschen aus den Twin Towers oder wie wir auch die Fotos gezeigt haben von den angeschwemmten Opfern nach dem Tsunami (nicht nur wir, sondern alle Medien) – und das deshalb hier einfach einen nachrichtlichen Gehalt hat.
Ernst Elitz: Die Welt ist nun einmal so, wie sie ist und man kann sie nicht schöner zeichnen. Und wenn es bei einem Flugzeugabsturz Leichen gibt, die ja hier nicht in den Vordergrund gerückt werden, die ha nicht in dem Sinne ins Auge fallen – man sieht ja erstmal die Betroffenheit der anderen Menschen –, so halte ich das für ‘ne akzeptable Lösung.

Der DeutschlandRadio-Chef in Springers Pressemitteilung:

Man darf die Welt nicht schöner zeichnen als sie ist. Unglücke, Kriege und Katastrophen bei denen Menschen ums Leben kommen, lassen sich nicht verdrängen. BILD hat eine aus der Distanz aufgenommene Totale nach dem Flugzeugabsturz gezeigt. Menschliche Leichen wurden hier keineswegs in den Vordergrund gerückt. Aber das Gesamtbild hat Betroffenheit geweckt. Das Bild hat Wirklichkeit gezeigt, aber keinen Voyeurismus betrieben. An der Wirklichkeit kann man nicht vorbei gehen, auch wenn sie bedrückend ist und betroffen macht. Die Abbildung dieser realen Situation kann beim Fernsehzuschauer und beim Leser Mitgefühl wecken. Auch das ist eine Aufgabe der Medien.

“Bild” missversteht “rätselhafte” Rüge

"12 Deutsche im Flugzeug verbrannt!"Die “Bild”-Zeitung hatte am 9. Oktober dieses Jahres über einen Flugzeugabsturz in Nepal berichtet, bei dem 18 Passagiere starben. “Bild” zeigte auf der Titelseite unter der Schlagzeile “12 Deutsche im Flugzeug verbrannt!” ein Foto, auf dem “die verkohlten Leichen” geborgen wurden. Zudem druckte “Bild” im Innenteil der Ausgabe mehrere unverfremdete Fotos von insgesamt sechs der zwölf deutschen Opfer.

Für diese Berichterstattung wurde “Bild” nun vom Presserat gerügt.

“Bild”-Chef Kai Diekmann indes ist mit der Rüge nicht einverstanden. In einer Pressemitteilung der Axel Springer AG wird er mit den Worten zitiert:

“Der Presserat misst mit zweierlei Maß und problematisiert mit dieser Entscheidung jede Fotoveröffentlichung, sofern sie Opfer auch nur aus der Ferne zeigt. Nach allen vom Presserat zu vergleichbaren Fällen kommunizierten Kriterien – siehe ‘Stern’ und ‘Spiegel’ zum Concorde-Absturz und Tsunami –, die BILD vorab sorgfältig bedacht hat, hätte diese Veröffentlichung ethisch für unbedenklich gehalten werden müssen. Mit einer solch rätselhaften Entscheidung verunsichert der Presserat die Redaktionen. Vollständigkeit gehört auch zur Wahrheitspflicht der Berichterstattung.”

(Außer Diekmann kommt in der Springer[!]-Pressemitteilung auch DeutschlandRadio-Intendant Ernst Elitz zu Wort, weil er am Tag der Veröffentlichung bei “Bild” zufällig die öffentliche Blattkritik abhielt und die Berichterstattung schon damals als “eine akzeptable Lösung” bezeichnet hatte. In einem ausführlichen Statement äußert er sich jetzt – siehe auch hierabermals in Diekmanns Sinne.)

Diekmanns Argumentation ist im Prinzip nachvollziehbar, hat aber einen Haken: Sie hat nur am Rande mit der “rätselhaften” Rüge des Presserats zu tun. Das Titelseiten-Foto spielt darin zwar eine Rolle, gerügt wurde jedoch die “Gesamtberichterstattung”, die laut Presserat unangemessen sensationell bzw. respektlos gegenüber dem Leid der Opfer und den Gefühlen von Angehörigen sei und zudem das Privatleben und die Intimsphäre der Betroffenen verletze (Pressekodex Ziffer 11 bzw. Richtlinie 11.3 und Ziffer 8):

Öffentlich gerügt wurde die BILD-Zeitung aufgrund der Berichterstattung zum Absturz eines Flugzeuges im Himalaya, bei dem auch zwölf deutsche Touristen starben. Die Zeitung hatte auf der ersten Seite großformatig ein Foto der Unglücksstelle abgebildet, auf dem verkohlte Leichen zu sehen waren. Im Innenteil wurden zudem Fotos einiger Passagiere veröffentlicht. Dadurch wurde ein Teil der Opfer identifizierbar. Durch den assoziativen Zusammenhang zwischen den Abgelichteten im Innenteil und den anonymen Leichen auf der Vorderseite wurden die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt.
(Hervorhebung von uns.)

“Bild” nennt Sex-Täter (nicht) “Schwein”

Was “Bild” sich da heute leistet, findet auch Lutz Tillmanns vom Presserat “sehr …

Aber nein, fangen wir lieber gleich mit der “Bild”-Überschrift selber an:

"Schon wieder so ein brandgefährlicher Kinderschänder frei -- JUSTIZ LÄSST ******* LAUFEN (Schwein darf BILD nicht schreiben, sonst gibt es Ärger mit dem Presserat)"

Die Überschrift steht über einem Artikel zu einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Umgang mit einem Sexualstraftäter.

Und um das einmal ausdrücklich hinzuschreiben: Das Bekenntnis zur Achtung vor der Wahrheit, zur Wahrung der Menschenwürde usw. (wie der Pressekodex als “oberste Gebote der Presse” umreißt) ist freiwillig. Auch wenn die “darf nicht”-Formulierung, die “Bild” über das Wort “Schwein” gedruckt hat, einen anderen Eindruck erweckt: Niemand hat “Bild” das Wort “Schwein” verboten; “Bild” hat es selbst gewählt – und tut anschließend so, als sei der “unfassbare Fall” geradezu doppelt unfassbar: als dürfe über den Justiz-“Skandal” nicht einmal so berichtet werden, wie “Bild” es für angemessen hält.

Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns nennt die Überschrift auf Nachfrage* jedenfalls “sehr ungewöhnlich” und erkennt darin “eine gewisse Form von differenzierter Unsicherheit” – als versuche “Bild”, sich “von der ethischen Verantwortung zu entlasten”, die öffentliches Publizieren nun mal mit sich bringt. Doch könne auch der Presserat der “Bild”-Zeitung die eigene Verantwortung nicht nehmen.

*) Für die Frage, ob die “Bild”-Überschrift zulässig ist oder gegen den Pressekodex verstößt, sei laut Tilmanns der Beschwerdeausschuss zuständig, wenn denn dazu beim Presserat eine berechtigte Beschwerde eingehe.

Allgemein  

“Bild” sicher: “Murat S.” fuhr den Todes-BMW

Für die “Bild”-Zeitung ist der Fall klar: Der Mann, den sie “Murat S.” nennt, hat am vergangenen Wochenende einen 77-Jährigen am Potsdamer Platz überfahren und tödlich verletzt. Daran ließ “Bild” schon gestern keinen Zweifel, als sie unter der Überschrift “Staatsanwalt sicher: ER FUHR DEN TODES-BMW” über den Fall berichtete:

"Staatsanwalt sicher: ER FUHR DEN TODES-BMW"

Im Text fand sich allerdings nichts, das diese Überschrift getragen hätte (das dafür aber gefettet oder in Großbuchstaben):

JETZT ZIEHT SICH DIE SCHLINGE ZU! HABEN SIE DEN TOTRASER BALD? (…)

Die Staatsanwaltschaft bestätigt: “Ja, wir führen einen 25-jährigen Mann als Beschuldigten.” (…)

Nach BILD-Informationen hat Murat S. in einer Vernehmung die Fahrt bestritten. Die Beamten versuchen jetzt durch gesicherte Spuren und Zeugenaussagen den Totraser zu überführen.

Wie der Staatsanwalt sich angesichts dieses Ermittlungsstands sicher sein kann, dass “Murat S.” den 77-Jährigen überfahren hat, lässt “Bild” offen. Uns sagte die Staatsanwaltschaft, dass es einen “Anfangsverdacht” gebe, und dass sie nicht “sicher” sei, ob der Beschuldigte tatsächlich gefahren sei. Oder, wie es heute in der “Welt” heißt:

Eine Sprecherin der Berliner Staatsanwaltschaft sagte gestern, dass die Verdachtsmomente gegen den mutmaßlichen Fahrer sehr spärlich seien. Weitere Zeugenbefragungen sollen Klarheit bringen. Ein Kriminalbeamter ist dagegen skeptisch: “Derzeit sieht es danach aus, dass der wahre Fahrer nicht ermittelt werden kann.”

Warum das womöglich so ist, kann man heute auch der “Bild”-Zeitung entnehmen. Die berichtet nämlich über “Fahndungs-Probleme der Polizei”:

"Fahndungs-Probleme der Polizei"

“Murat S.” behaupte, er habe den Wagen zwar am Tag des Unfalls gehabt, ihn jedoch am Abend an einen Verwandten verliehen. Da sich nahe Verwandte nicht gegenseitig belasten müssen, und die Spuren im Fahrzeug wohl nur beweisen können, was “Murat S.” schon zugegeben hat (dass er am Tattag den Wagen gefahren habe), kommt “Bild” zu dem Schluss:

"Es MUSS sich also mindestens ein Zeuge melden, der zu 100 % sagen kann: Ja, Murat S. ist gefahren."

Das ist eine Möglichkeit. Eine andere, die in der “Bild”-Zeitung indes nicht mal ansatzweise vorkommt, wäre freilich, dass sich ein Zeuge meldet, der zu 100 % sagen kann: Nein, “Murat S.” ist nicht gefahren.

Mit Dank an Benjamin H., Ivo B. und Lutz A. für den Hinweis.

P.S.: BILDblog-Leser Lutz A. fragt sich übrigens angesichts der Bild.de-Überschrift Murat (70 Seiten Polizei-Akte) tötet Rentner mit Luxus-Auto”, ob Bild.de sie wohl “genauso gewählt hätte, wenn der mutmaßliche Täter Herbert, Tim oder Peter mit Vornamen hieße”.

“Bild” entdeckt Großteil in “Porno-Denkmal”

In der Gemeinde Bodman-Ludwigshafen am Bodensee passiert — vorsichtig ausgedrückt — nicht ganz so viel. Im Moment allerdings stauen sich die Schaulustigen: Ein neues Kunstwerk zeigt unter anderem nackte Politiker. “Unglaublich” fand “Bild” das — und brachte am Montag in seinen süddeutschen Ausgaben einen großen Artikel:

Merkel, Stoiber & Co beim Ringelpiez am Bodensee: Ärger um neues Porno-Denkmal

“Unglaublich” fand “Bild” auch dies:

Unglaublich: Bürgermeister Matthias Weckbach hat das Kunstwerk auch noch gefördert, ein Großteil der Kosten (35 000 Euro) kommt aus Steuergeldern - vom Touristikamt.

Vielleicht kommt es ein bisschen darauf an, wie man einen “Großteil” definiert. In diesem Fall wohl ungefähr so (der Großteil ist das Dunkle):

Geldgeber: Sonstige (95,53%), Gemeinde (4,47%)

An den Anschaffungskosten von 35.000 Euro ist die Gemeinde Bodman-Ludwigshafen nämlich mit 1.500 Euro (oder 4,47% 4,29%) beteiligt. Das ist der Zuschuss, den die “Kunstfreunde Bodman-Ludwigshafen e.V.” von der Gemeinde bekommen haben, wie Bürgermeister Matthias Weckbach im “Südkurier” klarstellte. Er hat sich deshalb beim deutschen Presserat über die Berichterstattung in “Bild” beschwert.

Möglicherweise hat “Bild” die Falschinformation schlicht aus einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa (hier bei der “Schwäbischen Zeitung”) übernommen.

Andererseits ist es nicht so, dass “Bild” nicht nachrecherchiert hätte, und das sogar mit verschärftem Einsatz: Ein “Bild”-Reporter (oder jemand, der sich als als solcher ausgegeben hatte) soll nach Angaben von Weckbach vor Erscheinen des Artikels mindestens ein Gemeinderatsmitglied telefonisch bedrängt haben, ihm gefälligst Auskunft zu geben. Der Anrufer habe wissen wollen, wie alt der Bürgermeister war und welcher Partei er angehörte.

Mit Dank an Christoph S. für den Hinweis und den Scan.

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