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Mitte(l)lose Milchmädchen

Nikolaus Blome, Leiter des Hauptstadtbüros der “Bild”-Zeitung, hat sich gut in Fahrt kommentiert: Die beunruhigenden Zahlen über Armut in Deutschland, die der Paritätische Wohlfahrtsverband gestern veröffentlichte, beruhten auf einem “Taschenspieler-Trick”, behauptet er. Und Blome glaubt, er könne das auch beweisen:

Der Beweis: Kommen morgen tausend neue Millionäre nach Deutschland, steigt das Durchschnittseinkommen — und wir haben rechnerisch, oh Schreck, noch “mehr Arme”, die darunter liegen. Verlassen tausend Millionäre das Land, sinkt plötzlich auch die Zahl der “Armen”.

Blome hätte Recht, wenn sich die Definition von Armut auf das “Durchschnittseinkommen” beziehen würde. Das tut sie aber nicht. Sie bezieht sich auf das “mittlere Einkommen”. Nach der Definition der Europäischen Union, die der Paritätische Wohlfahrtsverband übernommen hat, gilt als arm1), wer weniger als 60 Prozent davon zur Verfügung hat.

Das mittlere Einkommen ist der Median. Man erhält diesen Wert, indem man alle Bürger sortiert nach Einkommen in einer Reihe aufstellt und denjenigen, der dann genau in der Mitte steht, fragt, was er verdient. Der Unterschied zum durchschnittlichen Einkommen kann erheblich sein — und zwar genau dann, wenn zum Beispiel einzelne Millionäre ins Spiel kommen wie im “Beweis” von Nikolaus Blome.

Denken wir uns ein Blome-Land, in dem elf Blombürger leben (Schema rechts). Zwei verdienen 1000 Euro, fünf 2000 Euro, drei 3000 Euro — und einer hat sagenhafte 10.000 Euro im Monat. Ihr durchschnittliches Einkommen beträgt 2818 Euro (die Summe geteilt durch elf); das mittlere Einkommen ist das, das bei einer Aufreihung der elf Blombürger der sechste hat (*): 2000 Euro. Als “arm” gelten die beiden 1000-Euro-Blombürger.

Nun stellen wir uns vor, dass plötzlich zwei weitere Reiche mit 10.000 Euro Einkommen nach Blomland ziehen. Das durchschnittliche Einkommen steigt deutlich. Das mittlere aber bleibt konstant: diesmal müssen wir bei 13 Einwohnern in der Reihe von arm nach reich den siebten (*) fragen: Auch er hat 2000 Euro.

Würde sich die Armutsdefinition nach dem Durchschnittseinkommen richten, wären nun auch die 2000-Euro-Blombürger “arm”. Da sie sich aber nach dem mittleren Einkommen richtet, ändert sich — in diesem Beispiel — nichts.

Der Median ist deshalb eine so praktische statistische Größe, weil er genau die Verzerrungen vermeidet, die Blome behauptet. Eine kleine Zahl von großen Ausreißern beeinflusst den mittleren Wert nur minimal. Der Zuzug von tausend Millionären würde bei 80 Millionen Einwohnern das mittlere Einkommen nur unwesentlich erhöhen, wenn überhaupt.

Und apropos: Ist es nicht arm, so laut von “Taschenspieler-Tricks” und “Unsinn” und “Aberwitz” zu schreien, wenn man nicht einmal die Grundlage der Berechnungen verstanden hat?

Leider ist Blome nicht allein. Klaus Köster, Wirtschaftschef der “Stuttgarter Nachrichten”, kommentiert heute:

Wenn ein Topmanager sein Einkommen steigert, steigt statistisch die Armut.

Nein, denn der Median ändert sich dadurch nicht.

(Über die durchschnittliche und die mittlere Klugheit aller Zeitungskommentare zum Thema heute treffen wir also lieber keine Aussagen.)

Mit Dank an Benjamin B.!

1) Korrektur, 21:20 Uhr. Genau genommen definiert diese Größe nicht, wer arm ist, sondern “armutsgefährdet”.