Archiv für Politisches

Ein Hartz für Kinder

Mit traurigen Kinderaugen und süßen Sparschweinen kämpft “Bild” seit Tagen gegen die Ungerechtigkeit der sogenannten Hartz-IV-Reformen. Die Botschaft ist klar: Kinder von Langzeitarbeitslosen können sich in Zukunft ihr kleines Glück abschminken. “Fünf Kinder sagen: Mein Sparbuch kriegt ihr nicht”, schreibt “Bild”. Die Frage ist nur: Will überhaupt jemand (Herr Eichel? Herr Hartz?) ihre Sparbücher? Gehen wir die Fälle einmal durch:

Der 4-jährige Cedric will einen Fußball und ein Trikot von Rot-Weiß-Erfurt haben. Zugegeben, RWE hat sein erstes Spiel der Saison gewonnen, trotzdem ist zu bezweifeln, dass die Trikots jetzt zu Preisen von über 750 Euro gehandelt werden – und darunter ist dem Staat Cedrics quietschgelbes Spartier egal. (Wenn da mal überhaupt 750 Euro reingehen…).

Nicole will ein Mountain Bike, ein teures, sie spart schon zweieinhalb Jahre. Da Mutter Bärbel laut Text nicht mal so viel Geld wie ihre Tochter auf dem Konto hat, spricht nichts dagegen, das Geld einfach auf Mamas Konto zu überweisen – Sie hat nämlich als 42-jährige einen Vermögensfreibetrag von 8400 Euro. Aber dann hätte man ja nichts, worüber man sich bei der “Bild” beklagen könnte.

Die 4-jährige Laura umklammert ihr grünes Sparschwein ganz fest und sagt: “Ich habe schon 400 Euro auf meinem Sparbuch. Das Geld gebe ich nicht her!” Liebe Laura, hör auf, so eine Schnute zu ziehen! Erstens: Keiner will dein Sparbuch! Zweitens: Selbst wenn du mehr als 750 Euro hättest, würde Mutti immer noch Arbeitslosengeld II bekommen, nur der Kinderzuschlag würde reduziert.

Schließlich die Brüder Kevin (8) und Mario (?). In ihrem gemeinsamen Sparschwein stecken 25 Euro. Kevin spart auf ein Fußball-Trainingslager, Mario auf einen Gameboy. Sagen wir es so, Kevin: Kein Problem, solange du nicht tatsächlich ein eigenes Fußball-Trainingslager haben willst. Sowas ist dann wohl doch teurer als 750 Euro.

Fassen wir zusammen: Ja es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, völlig irreführende Mitleidstexte zu drucken und dafür unschuldige Kinder zu missbrauchen.

Dank an Konrad A. für diesen sachdienlichen Hinweis!

Clockwork Orange

Na, wenn das keine Illustration ist, die den Adrenalinspiegel (und die Klickraten von bild.de) in die Höhe treibt. Tatsächlich gab es gestern neue Warnungen vor möglichen Al-Quaida-Angriffen. Tatsache ist aber auch, dass die zweithöchste Sicherheitswarnstufe (orange) für New York City ununterbrochen seit dem 11. September 2001 gilt. Sie wurde nicht erhöht.

Das weiß übrigens auch “Bild”. Es steht unauffällig am Ende des Artikels.

Nachtrag 2.8.04, 10:04: Stunden nach der “Bild”-Meldung erhöhten die USA dann tatsächlich die Sicherheitsstufe: Für Finanzzentren in Washington und New Jersey gilt jetzt auch die Stufe orange, die in New York ohnehin schon seit drei Jahren galt. (Bürgermeister Bloomberg gestern: “As you know, New York City has been at orange since back on 9/11”. Sein Vorgänger Giuliani am 22.07.2004: “Almost three years at threat level orange, which never changes here…”.)

Wer wird Millionär?

Seit Tagen macht “Bild” Front gegen Mangager- und Politiker-Gehälter, listet in langen Tabellen auf, was wer verdient. Franz Josef Wagner fragte DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp, was er mit seinen 5,44 Millionen Euro im Jahr eigentlich anstelle: “Haben Sie private Küchenchefs, fliegen Sie Ihre Kinder mit Privatjets in die Schulen, hängen die Picassos in Ihren Büros???” Wagner hätte einfach seinen Arbeitgeber fragen können. Die “Berliner Zeitung” rechnet vor, dass Mathias Döpfner, der Vorstandschef von Axel Springer, laut Geschäftsbericht 2003 ebenfalls ungefähr 5 Millionen Euro verdient haben müsste. Und das, obwohl DaimlerChrysler 60 mal so viel Gewinn mache wie Springer.

Zum Weglaufen

In seiner “Bild”-Kolumne “Mein Tagebuch” erzählt Claus Jacobi ohne ersichtlichen Zusammenhang unter anderem folgende Anekdote:

Vorsicht

Ein Mann mit Koffer hastete durch Berlins Flughafen Tegel. “Wohin so eilig?”, fragte ein Freund. Der Mann setzte seinen Koffer ab und sagte: “Im NS-Reich wurde es verfolgt. Unter Adenauer war es verboten. Unter Kohl wurde es erlaubt. Jetzt werden sie als Pärchen in der Kirche gesegnet.” Er nahm den Koffer wieder: “Ich will weg sein, bevor es Pflicht wird.”

Die Anekdote handelt offensichtlich von Homosexualität. Im Dritten Reich wurden rund 100.000 Menschen wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt und gefoltert, zwei Drittel davon ermordet. Viele weitere wurden zwangskastriert. Bis 1969 stellten die Paragraphen 175 und 175a homosexuelle Handlungen unter Strafe und trieben viele Schwule in die Isolation oder den Selbstmord. Erst 1994 wurde das Sonderstrafrecht für Homosexuelle abgeschafft.

Und Claus Jacobi erzählt einen Witz darüber, dass die Situation nicht 1933, nicht 1945, nicht 1954, nicht 1969 zum Weglaufen war, sondern heute, wo Schwule und Lesben viele Rechte haben und sichtbar in verantwortlichen Positionen sind. Was will er uns damit sagen?

In einem Aufwasch

Lustig, dass FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt die Falle nicht gesehen hat, die “Bild” aufgestellt hatte. Die Zeitung hatte berichtet, dass die zwei Gehalts-Nullrunden des Bundes-Kabinetts durch einen Automatismus im Gesetz bei der nächsten Erhöhung 2005 ausgeglichen werden könnten. Nach einer kurzen Empörungswelle verkündete sie jetzt den Sieg: “Bild stoppt Gehaltserhöung für Politiker”.

All das bezieht sich zwar auf Minister und nicht den normalen Bundestagsabgeordneten, wie “Bild” auch im Text andeutete. Aber an entscheidender Stelle groß in den Schlagzeilen schrieb sie nicht “Minister”, sondern immer “Politiker”, was nicht nur dramatischer klang, sondern die nächste Erregungswelle vorbereitete. Als Gerhardt in einer “Sabine Christiansen”-Sendung über Managergehälter die Diäten von Abgeordneten verteidigte, schnappte die Falle zu: Mit der Schlagzeile “Dieser Politiker fühlt sich unterbezahlt” findet er sich nun im Ministergehälter-Kontext im Blatt. Damit hat sich vermutlich jeder Gedanke an die geplante Diätenerhöhung erledigt.

Hatte Gerhardt eigentlich wirklich unterbezahlt gesagt? “Bild” zitiert ihn mit den Worten, die Diäten seien “eher bescheiden” und “nicht überhöht”. Das ist ja fast das Gleiche. So wie Abgeordneten-Diäten und Kabinetts-Gehälter.

Zurechtschreibung

Ironie [zu griech. eironeia “Verstellung, Scheinheiligheit, Vorwand”]: Redeweise, bei der das Gegenteil des eigtl. Wortlauts gemeint ist.

So jedenfalls steht’s im Lexikon. Aber das nur nebenbei. Denn in der “Bild”-Rubrik “Gewinner & Verlierer” steht heute Otto Schily, weil er die neue Rechtschreibung “boykottiert”. Und zwar so:

“Stur schreibt der SPD-Politiker seine persönliche Post weiter nach den alten Regeln.”

Warum ihn das in einer Zeitung, die seit dem 1.8.1999 selbst nach den neuen Regeln schreibt, zum “Gewinner des Tages” macht? Keine Ahnung. Andererseits kann einer, der (laut “Bild”) “denkt und schreibt wie die Mehrheit der Deutschen“, (für “Bild”) ja kein “Verlierer” sein.

Ich peitsche nackte Männer aus

In Berlin gibt es Aufregung um eine Inszenierung der Komischen Oper von Mozarts “Entführung aus dem Serais”. “Bild” fragt: “Wird das Ekel-Theater gestoppt?” und beschreibt die Inszenierung als einen “Wechsel aus Sex, Blut, Nackten und Leichenschändungen. Da wurden Frauen ausgepeitscht.” Bäh. Sowas geht natürlich gar nicht.
Übrigens, heute startet endlich die neue “Bild”-Serie: “Ich bin eine Domina, ich peitsche nackte Männer aus.” Und in einem Extra-Fenster öffnet sich Werbung: “Frauen unter sich!!! Wünsch dir was und sie machen es für dich vor der Cam! OHNE TABUS. LIVE. Hemmungslos & unzensiert.”

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