Archiv für Politisches

Deutschland ist immer und überall

“Was wird bei uns bestraft?” fragt “Bild” – und berichtet heute in großer Aufmachung über “Gotteslästerung in Deutschland” (siehe Ausriss) und “erklärt, was deutsche Gerichte als ‘Blasphemie’ (griechisch: Schmähung, Verleumdung) beurteilten – und was nicht!”

Nach einem Zitat aus dem deutschen StGB und unter der Zwischenüberschrift “Das ist verboten” schreibt “Bild”:

“Ein Gericht verurteilte den Karikaturisten Gerhard Haderer in Abwesenheit zu sechs Monaten Haft. Sein Comic ‘Das Leben des Jesus’ zeigte Gottes Sohn als ‘Weihrauchkiffer’, den Gang über den See Genezareth als ‘Surf-Trip’. Das Urteil wurde später aufgehoben.”

Und mal abgesehen davon, dass es einigermaßen verwunderlich ist, ein Urteil, das “später aufgehoben” wurde, in der Rubrik “Das ist verboten” unterzubringen: Der österreichische Karikaturist war im Januar 2005 in Griechenland (!) zu sechs Monaten Haft verurteilt und per Europäischem Haftbefehl zur Festnahme ausgeschrieben, ein Vierteljahr später aber im Berufungsverfahren von einer höheren Instanz in Athen freigesprochen worden. (Außerdem war gegen Haderer auch im österreichischen Wien ein Strafverfahren eröffnet, bald darauf aber wieder eingestellt worden.)

Mit Dank an Christian S. für den Hinweis.

Mehr dazu hier.

Verleumdungen, Falschmeldungen, Kampagnen

Es hat sich zudem herausgestellt, dass die Bild-Zeitung, der größte Profitbringer des Verlages, auch sein größtes Problem ist. In erster Linie liegt das an der hohen millionenfachen Auflage und der dominanten Stellung auf dem Anzeigenmarkt. Es liegt aber auch an dem außergewöhnlich miserablen Ruf der Zeitung, die mit ihren Verleumdungen, Falschmeldungen und Kampagnen weit über das hinausgeht, was man von einer Boulevardzeitung zu tolerieren bereit ist. Da darf es Springer nicht wundern, dass die Behörden in diesem Fall besonders penibel sind. Der Gefahr entgegenzutreten, dass sich diese Abart des Journalismus auf weitere Medien ausdehnt, ist die Pflicht verantwortungsbewusster Kontrolleure.

Die “Berliner Zeitung” über die von den Medienkontrolleuren verhinderte Fusion von Axel Springer mit ProSiebenSat.1.

Irgendetwas in dieser Richtung hat er doch gesagt!

Dies ist die Geschichte, wie der Hamburger CDU-Politiker Robert Heinemann einmal ganz groß bundesweit Schlagzeilen machte.

Es fing ganz unspektakulär an. Am Dienstag vergangener Woche gab Heinemann mehreren Zeitungen Interviews. Es ging um die aktuelle Diskussion, ob auf Schulhöfen deutsch Pflichtsprache sein sollte. Heinemann äußerte sich differenziert: Er begrüße solche Regeln, aber die Schulen dürften und müssten das selbst entscheiden. Eine Regelung “von oben” lehnte er laut “Hamburger Morgenpost” ausdrücklich ab. “Wir werden das nicht vorschreiben”, zitiert ihn das “Hamburger Abendblatt”.

In “Bild” las sich das am selben Tag schon etwas knackiger. Die Hamburger Ausgabe zitierte Heinemann am Mittwoch mit den Worten:

“Sanktionen müßten die Schulen selbst festlegen. Mögliche Strafe: Wer nicht deutsch spricht, soll den Schulhof fegen.”

Die Formulierung fand Heinemann, wie er später erklärte, “zwar erheblich verkürzt — aber noch nicht völlig falsch”. Eigentlich habe er dem “Bild”-Redakteur auf die Frage nach den Sanktionsmöglichkeiten für Schulen, die eine Deutschpflicht durchsetzen wollten, nur geantwortet, dass viele Maßnahmen denkbar seien: “vom erzieherischen Gespräch über Verfahren wie bei den Streitschlichtern bis hin zu Strafmaßnahmen wie dem Fegen des Schulhofes”. Am Mittwoch habe er den “Bild”-Redakteur angerufen und ermahnt, dass das ihm zugeschriebene Zitat “journalistisch an der Grenze” sei.

Am Donnerstag überschritt “Bild Hamburg” diese Grenze und machte aus der möglichen Maßnahme eine Forderung:

CDU-Politiker Heinemann löst hitzige Debatte aus: Deutsch sprechen oder Schulhof fegen! - Riesen-Wirbel um den Hamburger CDU-Schulexperten Robert Heinemann. Der forderte gestern in BILD: "Schüler, die nicht deutsch sprechen, sollen den Schulhof fegen!" Heinemann bekräftigte gestern gegenüber BILD noch einmal seinen Besen-Appell. "Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe!"

In einer Fotounterschrift machte “Bild” aus Heinemann sogar eine Art Grammatik-Polizisten:

Wer nicht richtig deutsch spricht, soll fegen, meint Schulexperte Robert Heinemann.
(Hervorhebung von uns.)

Heinemann sagt, er habe sich daraufhin “massiv bei der Bild-Zeitung beschwert”. Das scheint keinen großen Eindruck gemacht zu haben. Am Freitag erschien die Falschmeldung groß in der Bundesausgabe von “Bild”:

Und am Samstag wieder in der Hamburger Ausgabe, diesmal als “Spruch der Woche”:

Erst am gestrigen Montag, nachdem Heinemanns angebliches Zitat von vielen anderen Medien aufgegriffen worden war, erschien in “Bild” Hamburg so etwas wie eine Richtigstellung. Wobei die “Bild”-Zeitung über die Richtigstellung natürlich nicht “Richtigstellung” schrieb, sondern:

Herr Heinemann, wie ist das denn nun mit dem Schulhof-Fegen? (...) Schüler, die auf den Pausenhöfen nicht deutsch sprechen, sollen zur Strafe den Schulhof fegen. Mit dieser Idee hat CDU-Schulexperte Robert Heinemann bundesweit für Aufsehen gesorgt und für hetige Reaktionen bei SPD und GAL gesorgt (BILD berichtete).

Nichts deutet darauf hin, dass sich in dem folgenden Interview quasi “Bild” korrigiert und nicht Heinemann. Es sei denn, man kennt den Hintergrund – dann versteht man auch die merkwürdig trotzköpfige Fragestellung von “Bild”:

PS: Unsere Anfrage bei “Bild”, zu Heinemanns Vorwürfen Stellung zu nehmen, blieb unbeantwortet.

Nachtrag, 1. Februar. Inzwischen haben wir eine Antwort von “Bild” bekommen. Sie lautet: “Von unserer Seite gibt es dazu nichts zu sagen.”

“Bild” hat schon gewählt

In knapp zwei Monaten sind in Rheinland-Pfalz Landtagswahlen, und beide großen Parteien versuchen, sich mit Vorschlägen zur Familienpolitik zu profilieren. Die Nachrichtenagentur AFP fasste es gestern so zusammen:

Die SPD kündigte am Samstag auf ihrem Parteitag an, bei einer Wiederwahl bis 2010 eine vollständige Beitragsfreiheit für den Kindergartenbesuch zu erreichen. (…) Auch die CDU will die Kindergartengebühren abschaffen, und das sogar schon ab 2007.

Das Wahlprogramm der CDU [pdf], das am vorletzten Samstag beschlossen wurde, verspricht u.a., mehr Personal einzustellen, um in Zukunft auch Zweijährige schon zu betreuen, und mehr Lehrer einzustellen. Das Wahlprogramm der SPD [pdf], das am vergangenen Samstag beschlossen wurde, verspricht u.a. einen Rechtsanspruch für einen Kindergartenplatz für Zweijährige und Hilfen beim Schulbuchkauf und Schulessen.

Man könnte nun ins Grübeln kommen, welcher Seite eher zu trauen ist, die Versprechen auch einzuhalten, und welche Finanzierungsmöglichkeiten man realistischer findet. Kann man aber nicht, wenn man die heutige “Bild”-Zeitung liest. “Bild” hat sich trotz der fast gleichlautenden Vorschläge schon entschieden, wer in die Freunde-des-Hauses-Rubrik “Gewinner des Tages” gehört. Es ist der SPD-Ministerpräsident Kurt Beck*:

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (56, SPD) will die Kindergartengebühren abschaffen. Außerdem sollen alle Kinder ab zwei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz bekommen. Und: Höhere Zuschüsse für Schulbücher, Essen und ein beitragsfreies Erststudium soll es auch geben.

BILD meint: Ein wahrer Landesvater!

Für den Hinweis, dass die CDU ähnliche, teils weiter gehende Vorschläge gemacht hatte, fand die “Bild”-Zeitung in diesem Text keinen Platz mehr.

*) Kurt Beck hat sich in der vergangenen Woche — im Gegensatz zu vielen Parteikollegen — grundsätzlich offen für eine Ministererlaubnis gezeigt, die der Axel Springer AG eine Fusion mit ProSiebenSat.1 trotz des Vetos des Kartellamtes erlauben würde.

Danke an Jochen Z. für den Hinweis!

In Amerika sind die Türken Indianer

Wir müssen über den “Brief von Wagner” von gestern reden. Das ist, wie so oft bei den Kolumnen von Franz Josef Wagner, nicht so leicht, also fangen wir mit einem schlichten Fehler an:
Wagner behauptet, dass eine Berliner Schule ihren überwiegend aus ausländischen Familien stammenden Schülern “ab sofort” vorschreibt, auf dem Pausenhof ausschließlich deutsch zu sprechen. Dabei gilt die Regel schon seit fast einem Jahr.

Soweit die Kleinigkeiten.

Doch Wagner gibt in seinem Brief den “lieben türkischen Schülern” noch gute Ratschläge mit:

Wenn Deutschland zu Eurem Land werden soll, dann müßt Ihr fließend Deutsch sprechen. Oder Ihr übernehmt die Rolle der Indianer in Amerika. Straßenräuber, Drogenkranke, Geächtete.

Ohne Deutsch kein Schulabschluß, ohne Deutsch keine Lehrstelle, ohne Deutsch ein Indianer.

(…) Eine schöne Wohnung, ein Auto in der Garage, eine Topfpflanze auf dem Balkon, geachtet von den Nachbarn – all das kriegst Du, wenn Du deutsch kannst. In unserer Sprache heißt das Glück.

Hoppla. Die Rolle der Indianer in Amerika ist es, zugedröhnt unschuldige Leute zu überfallen? Wissen das die Indianer? Und hätten sie das verhindern können, wenn sie nur rechtzeitig
aufgehört hätten, ihre komischen Dialekte zu sprechen?

Da kommt man natürlich ins Grübeln, wie die amerikanische Geschichte verlaufen wäre, wenn die Indianer sich nur rechtzeitig an die Gepflogenheiten ihres Gastlandes… Moment: Gastland? Waren nicht die Indianer zuerst da? Wären dann nicht die Bleichgesichter die Türken Amerikas? Also quasi die Indianer? Oder, ganz anders, waren die Indianer einfach nicht integrationswillig genug, um es in der amerikanischen Geschichte zu einer anständigen Rolle zu bringen? Und wer hat hier auf dem Pausenhof wieder gekifft?

Und schon haben wir uns fröhlich in einer Kolumne von Wagner verlaufen und finden den richtigen Ausgang nicht mehr. Denn womöglich müsste man sich ernsthaft damit auseinandersetzen, dass Wagner unter der wirren Oberfläche hier eine klare Ideologie vertritt, welche Rolle Türken seiner Meinung nach in Deutschland haben sollten: brave Konsumenten, die ihren (deutschen) Nachbarn nicht unangenehm auffallen. Glückliche Türken sind die, die “wir” gar nicht als Türken erkennen.

Jetzt auch in “Bild”: Fischer korrigiert “Bild”

Wie angekündigt steht also heute auf Seite 2 der “Bild”-Zeitung wortwörtlich das, was bereits seit vergangenem Donnerstag als “Gegendarstellung” (und sinngemäß als “Richtigstellung”) bei Bild.de nachzulesen ist: dass Joschka Fischer – anders als “Bild” am 11. Januar 2006 behauptet hatte – zu keinem Zeitpunkt mit Harvard über eine Gastprofessur verhandelt habe, demnach dort auch keine Professur antreten werde und ebenso wenig vorhabe, für zwei bis drei Jahre in die USA umzuziehen.

“Bild” nennt es “Klarstellung” (siehe Ausriss) und beschließt deren Abdruck mit einer “Ergänzung der Redaktion”:

“Diese Darstellung ist korrekt, wie BILD am 12. Januar 2006 berichtete.”

Und ja: Auch diese Darstellung ist korrekt – insbesondere dann, wenn man hinzufügt, dass “Bild” ja (wie berichtet) am 11. Januar 2006 noch etwas ganz anderes behauptet hatte und am 12. Januar 2006 den irreführenden Eindruck zu erwecken versuchte, die nun korrigierten Fehler in der Berichterstattung seien (wie berichtet) ursprünglich gar nicht von “Bild”, sondern vom “Stern”.

Joschka Fischer und Bild.de korrigieren “Bild”

Nachdem “Bild” vor acht Tagen noch behauptet hatte, Joschka Fischer wolle nach Amerika auswandern, und der “Bild”-Bericht von Bild.de übernommen worden war, finden sich dazu nun bei Bild.de eine Gegendarstellung und eine Richtigstellung.

In Fischers Gegendarstellung heißt es u.a.:

“Zu keinem Zeitpunkt habe ich mit Harvard über eine Gastprofessur verhandelt. Ebenso falsch ist es demnach, daß ich dort eine Professur antreten werde. Ebenso wenig habe ich vor, für zwei bis drei Jahre in die USA umzuziehen.”

Und in Anbetracht der Tatsache, dass eine Gegendarstellung bekanntlich nicht beweist, dass eine Zeitung falsch berichtet hat, zitieren wir auch noch kurz aus der Richtigstellung:

“Zu keinem Zeitpunkt hat Herr Joschka Fischer mit Harvard über eine Gastprofessur verhandelt. Ebenso falsch ist es demnach, daß er dort eine Professur antreten werde. Ebenso wenig hat er vor, für zwei bis drei Jahre in die USA umzuziehen. (…)

Die Redaktion”

Nach unseren Informationen sollen eine entsprechende Gegendarstellung Fischers und eine Richtigstellung der Redaktion auch am Montag in der “Bild”-Zeitung stehen.*

*) Nachtrag, 20.1.2006:
Wir müssen uns präzisieren: Nach neuen Informationen soll am Montag in der “Bild”-Zeitung eine “Klarstellung” erscheinen, in der auch die “Bild”-Redaktion Fischers Darstellung als korrekt bezeichnen wird. (Genaueres dazu vielleicht später.)

Die Inflation der Milchmädchen

Inflation ist eine haarige Sache. Wenn ich heute annehme, dass ich in 30 Jahren 1000 Euro Rente bekomme, sollte ich mich nicht zu früh freuen — denn wegen der Geldentwertung sind diese 1000 Euro dann vielleicht nur noch soviel Wert wie 600 Euro heute (genau weiß es niemand).

Die Inflation war ein wichtiger Faktor für “Bild”, um in den vergangenen drei Tagen Renten-Panik zu verbreiten. “Bild” kombinierte eine (nicht ganz abwegige) Annahme über die zukünftige Geldentwertung mit einer (extrem unwahrscheinlichen) Annahme über die zukünftige Entwicklung der Rente und kam so zu erschütternden (und unrealistischen) Ergebnissen.

Interessant ist deshalb, dass die Inflation heute in “Bild” überhaupt keine Rolle mehr spielt. Heute diskutiert “Bild” nicht die Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern die Chancen der privaten Rentenversicherung. Die mag tatsächlich viele Vorteile haben — aber von der Geldentwertung ist sie natürlich exakt genauso betroffen. Seriöse Ratgeber verweisen deshalb darauf, dass “weder die Renteninformation der gesetzlichen Rentenversicherungsträger, noch die Berechnungen privater Anbieter von Zusatzrenten” die Inflation berücksichtigen.

Die “Bild”-Zeitung aber, die sich in ihrer Renten-Berichterstattung gerne von Instituten und Personen beraten lässt, die den privaten Versicherern nahestehen, lässt die Geldentwertung bei ihrer Tabelle “So sparen Sie für die Zusatz-Rente” einfach weg. Sie rechnet vor, wieviel man monatlich anlegen muss, um zum Beispiel in 30 Jahren eine Zusatzrente von 1000 Euro zu bekommen. Aber sie lässt den Hinweis weg, dass diese 1000 Euro, auch ihren eigenen Annahmen von den Vortagen zufolge, höchstens noch 600 Euro wert sein werden.

Das Beste, das sich über diese Art der Irreführung sagen ließe, wäre noch, dass sie fahrlässig geschieht. Lustig nur, dass “Bild”, egal wie, immer zugunsten der privaten Versicherer rechnet.

P.S.: “Bild” erwähnt heute in einem Satz die massive Kritik an ihrer bisherigen Berichterstattung. Scheinbar jedenfalls:

Die Deutsche Rentenversicherung bestritt gestern, daß die Kaufkraft der staatlichen Rente in Zukunft stark schrumpfen wird.

Nein, das bestritt die Deutsche Rentenversicherung keineswegs. Die Deutsche Rentenversicherung bestritt, dass die Kaufkraft der staatlichen Rente in Zukunft so stark schrumpfen wird, wie “Bild” behauptet.

Danke an Knut W. für den sachdienlichen Hinweis!

Wieviel Rente kriegen eigentlich Milchmädchen?

Natürlich ist es möglich, dass in den nächsten 30 Jahren die Teuerungsrate jährlich zwei Prozent beträgt, die Löhne aber nur um ein Prozent steigen und die Renten gar nicht. Möglich ist aber auch, dass uns in den nächsten 30 Jahren der Himmel auf den Kopf fällt oder sich herausstellt, dass das Erdinnere aus Schokoladenpudding besteht. Man kann diese Dinge nicht völlig ausschließen. Aber es empfiehlt sich vielleicht auch nicht, seine Lebensplanung darauf einzustellen.

“Bild” sieht das anders.

Die “Bild”-Zeitung tut zur Zeit wieder einmal, was sie routinemäßig mehrmals jährlich tut: Sie behauptet, dass unsere Rente noch viel weniger sicher ist, als sie beim letzten Mal schon behauptet hat. Aktueller Aufhänger ist die Prognose des Freiburger Ökonomieprofessors Bernd Raffelhüschen in der “Rheinischen Post”, wonach es in den kommenden Jahrzehnten möglicherweise keine oder nur geringe Rentenerhöhungen geben könnte. Die “Bild”-Zeitung berichtete über diese These am Montag groß auf den Seiten 1 und 2 — und bis hierhin geht das auch in Ordnung.

Am Dienstag aber war ihr die ohnehin schon dramatische Prognose nicht mehr dramatisch genug, und sie spitzte sie erheblich zu: Nun ging “Bild” (anders als Raffelhüschen) davon aus, dass es in keinem einzigen der nächsten 30 Jahre eine Rentenerhöhung geben werde. Verschärfend nahm das Blatt (als “vorsichtige Schätzung”) eine konstante Dauerinflation von zwei Prozent an (vor vier Monaten ging der gleiche “Bild”-Autor Oliver Santen bei einer ähnlichen Geschichte noch von einer Inflationsrate von 1,4 Prozent aus, warum auch immer).

Daraus errechnete “Bild” dann eine bedrohliche Tabelle, aus der “Bild”-Leser ablesen konnte, wieviel ihr heutiger Rentenanspruch 2020 oder 2025 oder gar 2035 wert sein wird. Die Berechnungen könnte man leicht mit dem Taschenrechner anstellen (für jedes Jahr einfach zwei Prozent abziehen), aber “Bild” gibt als “Quelle” das “Deutsche Institut für Altersvorsorge” (DIA) an. Auf dessen Know-How greift die Zeitung gerne zurück, und vergaß nur, wie schon früher, den Hinweis, dass es sich dabei nicht um unabhängige Experten handelt, sondern eine Gesellschaft, hinter der Firmen stehen, die ihr Geld nicht zuletzt damit verdienen, dass sie Menschen private Altersvorsorge verkaufen — also genau das, was das Studium der beunruhigenden Tabelle nahelegt. (Dass private Altersvorsorge auch sinnvoll erscheint, wenn man nicht auf die “Bild”-Panikmache hereinfällt, steht auf einem anderen Blatt.)

Selbst das DIA kommt sonst zu ganz anderen Ergebnissen, als denen, die es für “Bild” errechnete — was zeigt, wie abwegig die Annahmen der Zeitung sind. In seiner “aktuellen Prognose zum Rentenniveau” geht das Institut von einer deutlich niedrigeren Inflationsrate und besseren Lohnentwicklung aus als “Bild”. Entsprechend deutlich unterscheidet sich die Rentenentwicklung: Während “Bild” prognostiziert, dass der reale Wert der Renten zwischen 2010 und 2035 um 40 Prozent sinkt, nimmt er laut DIA-Prognose sogar marginal zu.

Weil “Bild” solche Geschichten gerne über mindestens drei Tage zieht, fragen heute in gewaltiger Größe auf Seite 1 viele Menschen mit “Bild”-Zeitung in der Hand: “SCHRUMPF-RENTE — Wovon sollen wir im Alter leben?” Da ist der Hotelfachfrau-Auszubildenden Katharina, “ganz mulmig”, seit sie glaubt, dass ihr Rentenanspruch gerade mal 140 Euro wert sei. Vielleicht sollte jemand die 21-jährige in den Arm nehmen und ihr sagen, dass sie doch (hoffentlich) noch viele Jahre vor sich hat, in denen sie mehr verdient und ihren Rentenanspruch erheblich steigert.

Die (in der Sache natürlich parteiische) “Deutsche Rentenversicherung” nannte die “Bild”-Berichte heute “unverantwortlich”, die ihr zugrunde liegenden Annahmen “unseriös und nicht nachvollziehbar” und die Berechnungen “unrealistisch”. In der Pressemitteilung heißt es, wenn die Annahmen von “Bild” über Inflation und Lohnsteigerungen einträfen, hätte das “unabsehbare Auswirkungen auf die Wirtschaft unseres Landes, die weit über die Verschlechterung der Einkommenssituation der Rentner hinaus gingen”. Mit anderen Worten: Dann dürfte auch durchschnittlichen “Bild”-Redakteuren ganz mulmig werden, weil sie sich schon vor dem Ruhestand von ihrem Gehalt nichts mehr kaufen könnten.

Wir haben aber sicherheitshalber noch einen Unbeteiligten um sein Urteil gebeten. Fragt man Carsten Germis, Wirtschaftsredakteur der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”, nennt er die “Bild”-Berichterstattung “kompletten Schwachsinn” und “Leuteverarschung”.

Danke auch an Matthias B.!

Ein Märchen für Merkel

Am Freitag gegen 9.45 Uhr* traf sich Kanzlerin Angela Merkel im Weißen Haus mit US-Präsident George W. Bush.

Von 11.37 Uhr bis 12.04 Uhr gaben die beiden eine Pressekonferenz. Anschließend gab’s ein Mittagessen im “Old Family Dining Room”, an dem auch die Präsidentengattin Laura Bush und US-Außenministerin Condoleezza Rice teilnahmen, und nach drei Stunden, so gegen 13 Uhr, war das Treffen vorbei.

Gut vier Stunden später strahlte der TV-Sender CNN ein Interview mit Laura Bush aus, das “BamS”-Autor Martin S. Lambeck zu folgenden Zeilen inspirierte:

“Heitere Stimmung im traditionsreichen ‘Old Familiy Dining Room’ des Weißen Hauses in Washington: Hier, im Familien-Eßzimmer, hat sich das Küchenkabinett von US-Präsident George W. Bush am Freitag versammelt, um die neue deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel genau zu studieren. Für das Ereignis ist eigens die First Lady Laura Bush nach Washington gereist. Die einflußreiche US-Außenministerin Condoleezza Rice ist auch dabei. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Angela Merkel beschert Condi Rice einen großen Tag.

Offenkundig stark beeindruckt von dem gelungenen Debüt der Kanzlerin in Washington, ruft Laura Bush wenige Stunden später im US-Fernsehsender CNN Condi Rice als US-Präsidentschaftskandidatin und damit als mögliche Nachfolgerin ihres Mannes aus.”

Ebenfalls offenkundig stark beeindruckt von dem gelungenen Debüt der Kanzlerin in Washington kommt “BamS”-Autor Lambeck zuletzt abermals auf des Mittagessen im “Old Family Dining Room” zurück und schließt:

“Bush betrachtet beim Dessert das deutsch-amerikanische GirlsCamp. Ein paar Stunden später wird seine Ehefrau die Wunschnachfolgerin des Präsidenten ausrufen.”

Was die “BamS” verschweigt und zudem durch Formulierungen wie “Überraschende Initiative nach Gespräch mit Merkel” arg verschleiert: Anlass für Laura Bushs Lobrede auf Condoleezza Rice war die Wahl von Ellen Sirleaf-Johnson zur Präsidentin von Liberia (zu deren Amtseinführung am morgigen Montag sie übrigens auch angereist ist), und…

… das am Freitagabend um 19 Uhr auf CNN ausgestrahlte Interview wurde vorab aufgezeichnet. Nach Angaben des Weißen Hauses zwischen 10.33 Uhr und 10.46 Uhr — und damit nicht nach, sondern während Merkels Besuch und bereits anderthalb Stunden vor dem gemeinsamen Mittagessen.

Mit Dank an Jens S. für den Hinweis.
*) Alle Zeitangaben: Ortszeit Washington, DC (EST)

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