Wenn Sie uns gerade ein paar Wochen zurück ins Jahr 2012 folgen möchten — oder besser vielleicht noch ein bisschen weiter, ins neunte bzw. elfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung, als der Mariengesang “Ave Maris Stella” (“Meerstern, sei gegrüßet”) entstand, mit dem drei deutsche Priester und eine Sopranistin in diesem Jahr beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest (ESC) antreten wollen.
Die “Bild”-Zeitung entdeckte darin, nicht ganz zu unrecht, ein Problem, denn eigentlich dürfen laut Wettbewerbsregeln nur Lieder teilnehmen, die nicht vor dem 1. September des Vorjahres veröffentlicht wurden — eine Deadline, die “Ave Maris Stella” um etwa tausend Jahre gerissen hätte.
Andererseits hatte der NDR als verantwortlicher Sender eine ganz gute Antwort auf die “Bild”-Frage, warum der Song trotzdem teilnehmen dürfe: Es handele sich um eine “Neukomposition, die lediglich von der historischen Vorlage inspiriert wurde”.
Die “Bild”-Zeitung nahm diese Erklärung zur Kenntnis und zitierte sie sogar in ihrem Artikel. Andererseits ist für sie natürlich die Tatsache, dass eine heikle Frage mit “Nein” beantwortet wurde, kein Grund, sie nicht trotzdem zu stellen:
Beim Produzieren der potentiellen Skandalhaftigkeit, die dafür sorgte, dass die vermeintlich drohende Skandalisierung sogar von Medien im befreundenachbarten Ausland aufgenommenwurde, half “Bild”-Mann Mark Pittelkau ein Kronzeuge: der ausgewiesene ESC-Fachmann Ivor Lyttle. Er wird von “Bild” so zitiert:
“Ein klarer Regelverstoß”, sagt Grand-Prix-Experte Ivor Lyttle (52, EuroSong News). “Das Lied kennt doch jeder.”
Auf unsere Nachfrage sagt Lyttle allerdings, Pittelkau habe ihn lediglich gefragt, ob es ein Verstoß gegen die Regeln wäre, wenn das Lied schon 900 bzw. 1100 Jahre alt wäre. Das habe er bejaht.
Den Satz “Das Lied kennt doch jeder” habe er nie gesagt. Er, zum Beispiel, kenne es nicht.
Obwohl die Lage auch Tage nach dem Amoklauf an einer Grundschule in Connecticut immer noch unübersichtlich ist, scheinen die Medien zu jedem beliebigen Zeitpunkt und vorübergehenden Nachrichtenstand schon zu wissen, was das alles zu bedeuten hat.
Als “aus Ermittlerkreisen verlautete” (“Hamburger Morgenpost”), der Täter habe das Asperger-Syndrom, war für Bild.de schon alles klar:
Die mediale Ferndiagnose läuft dabei so ab:
Ehemalige Mitschüler erinnern sich an einen nervösen, unsicheren Jungen. Wenn er angeschaut wurde, blickte er weg. Wenn man ihn ansprach, würgte er die Worte hervor.
Dieses Verhalten deutet auf eine bestimmte Krankheit hin: das “Asperger-Syndrom”, eine autistische Störung. Immer öfter, auch aus Ermittlerkreisen, fällt dieser Begriff, wenn es um den psychischen Zustand [des Täters] geht.
Der letzte Satz ist natürlich eine selbsterfüllende Prophezeiung, denn dieser Begriff fällt in Medien von Bild.de über die “Hamburger Morgenpost” bis zu “Spiegel Online”.
Dass Bild.de das Asperger-Syndrom letztlich einigermaßen fundiert und unaufgeregt erklärt, dürfte an den Quellen liegen, mit denen die Seite gearbeitet hat. Das Porzellan ist da freilich schon zerschlagen: “Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid.” Und das, ohne dass bisher überhaupt klar wäre, ob der Täter wirklich das Asperger-Syndrom hatte.
Der Blogger Querdenker, selbst Autist, hat sich in zweiTexten damit auseinandergesetzt, wie die Medien dieser Tage mit dem Thema umgehen.
* * *
Einige hatten ihn vielleicht schon vermisst, heute ist er endlich da: Kriminologe Christian Pfeiffer, Hans Dampf in allen Gossen, beantwortet auf Bild.de die wichtigsten Fragen (“Kann man Amokläufer erkennen?”, “Ist so ein Massaker auch in Deutschland möglich?”):
BILD.de: War das ein untypischer Amoklauf?
Kriminologe Dr. Christian Pfeiffer: “Das war ein sehr untypischer Amoklauf. Der Täter hat eine unglaubliche Wut auf seine Mutter. Deshalb hat er sie auch erschossen. Doch das hat ihm anscheinend nicht gereicht, deshalb ist er in die Schule gefahren, an der die Mutter unterrichtete. Er suchte gezielt die Räume auf, in denen die Mutter lehrte und wütete weiter.”
Der Zeitstempel des Artikels ist von Montagabend, 23.55 Uhr. Seit Samstagabend deutscher Zeit ist klar, dass – vorsichtig ausgedrückt – erheblicheZweifel daran bestehen, dass die Mutter des Täters Lehrerin oder auch nur Aushilfslehrerin war.
Entgegen früherer anderslautender Berichte war [die Mutter] keine Lehrerin an der Schule, wo die Morde stattfanden, sagte Janet Vollmer, eine Vorschullehrerin an der Sandy Hook Elementary School.
Eine ehemalige Vertreterin der Schulbehörde von Newton widersprach früheren Berichten, wonach es eine Verbindung [der Mutter] zur Sandy Hook Elementary School gegeben habe, möglicherweise als Teil des Lehrkörpers.
“Niemand hat von ihr gehört”, sagt Lillian Bittman, die bis 2011 in der lokalen Schulbehörde arbeitete. “Lehrer kennen sie nicht.”
(Übersetzung von uns.)
Tatsächlich fehlt der Name der Frau auf der Mitarbeiter-Seite der offiziellen Website der Schule.
Aber wer hätte schon auf die Idee kommen können, dort nachzusehen? Journalisten etwa? Die zitieren lieber Experten, die wissen, dass der Täter “gezielt” die Räume aufgesucht habe, “in denen die Mutter lehrte”.
Vor gut einem Jahr sind sich im Luftraum über Frankfurt zwei Flugzeuge ungewöhnlich nahe gekommen. Der Vorfall wurde daraufhin von der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) überprüft, vergangene Woche hat sie ihren Untersuchungsbericht veröffentlicht.
“Bild” fasst ihn in der Frankfurter Regionalausgabe so zusammen:
Online widmete Bild.de dem “Schockbericht” gleich zweiArtikel, beide mit derselben Grafik illustriert:
Die Grafik zeigt die gefährliche Situation: Der Lufthansa-Airboss vorweg, der Aeroflot A 320 dahinter. Der Abstand: an einer Stelle gerade mal 30 Meter.
In den Artikeln selbst klingt das schon ein wenig anders:
Es war laut Flugsicherung der “gefährlichste Zwischenfall im deutschen Luftraum” seit langem, der sich am 13. Dezember 2011 um 14.27 Uhr und 55 Sekunden rund 1500 Meter über Raunheim abspielte …(…)
Die beiden Flugzeuge kommen sich immer näher, über Raunheim beträgt der Abstand der A320 zur gefährlichen “Wirbelschleppe” des riesigen Airboss gerade noch 30 Meter.
Genau: Der Abstand zur Wirbelschleppe betrug 30 Meter. Der Abstand zwischen den beiden Flugzeugen aber war laut Untersuchungsbericht erheblich größer. Vertikal waren die Maschinen nämlich knapp 61 Meter voneinander entfernt.
Ach so, und dann waren da noch 1.796 horizontale Meter zwischen den beiden Flugzeugen, die “Bild” ganz unterschlägt. Nach der Art, wie das Blatt rechnet, lägen Zugspitze und Mount Everest bloß läppische sechs Kilometer voneinander entfernt.
Die BFU betonte uns gegenüber auf Anfrage, unmittelbare Kollisionsgefahr habe zu keiner Zeit bestanden. Das steht auch explizit in dem Untersuchungsbericht. Doch darüber verliert der “Bild”-Redakteur (der den Airbus übrigens nach “Bild”-Art konsequent “Airboss” nennt) kein Wort.
Die Grafik, mit denen “Bild” und Bild.de die “gefährliche Situation”, diese Beinahe-“Flugzeug-Katastrophe” illustrieren, müsste also eigentlich in etwa so aussehen:
Um ein Gespür dafür zu bekommen, wie die Redakteure von “Bild” so ticken, reicht eigentlich diese Bildunterschrift, heute auf der Titelseite, unter dem unverfremdeten Foto einer jungen Frau, das fast eine halbe Seite hoch ist:
Mario Balotelli gilt als spezieller Charakter, die Boulevardmedien in ganz Europa berichten gern über sein schwer zu zügelndes Temperament und seine exzentrischen Anwandlungen. Spätestens seit seinen zwei Toren im EM-Halbfinale gegen Deutschland steht der Italiener in Diensten von Manchester City auch bei den deutschen Medien im Fokus.
Der Stürmer von Manchester City hält offenbar nichts von elektronischen Navigationssystemen. Lieber lässt er sich die Strecke von Manchester nach London von einem Taxifahrer zeigen. Der teure Spaß soll ihn jetzt ganze 980 Euro gekostet haben. Pro Strecke! Inklusive Rückweg blätterte Balotelli also rund 2000 Euro hin.
Am Dienstag zog die gedruckte “Bild” nach. Eine Quelle nennen beide nicht, aber es spricht vieles dafür, dass die Geschichte ursprünglich aus dem englischen “Sunday Mirror” stammt, wo sie am Samstagabend online gegangen war.
Nur, dass der “Mirror” von ganz anderen Zahlen schreibt:
Diesen letzten Einblick in Marios Heißsporn-Welt gewährte sein Agent Raiola in einem Interview mit einem niederländischen Magazin. […]
Ein Taxi von Manchester nach London kostet atemberaubende 400 Pfund in jede Richtung!
(Übersetzung von uns.)
400 Pfund, das sind etwa 495 Euro. Macht 980 für hin und zurück und nicht “pro Strecke!”, wie Bild.de behauptet — und anschließend etwa der “Berliner Kurier”.
Der Sportinformationsdienst (sid) war beim Abschreiben erfolgreicher und kommt auf eine Summe von “insgesamt also rund 1000 Euro”.
“RP Online” hingegen ist das Kunststück gelungen, die Quelle zu nennen, aber die falsche Zahl:
Wie der englische Mirror berichtet, habe Balotelli dafür 980 Euro pro Richtung berappen müssen. Insgesamt also rund 2000 Euro.
Wie realistisch die ganze Geschichte überhaupt ist, steht auf einem anderen Blatt. Von dem “niederländischen Magazin”, dem Balotellis Agent davon laut “Mirror” berichtet haben soll, fehlt nämlich bisher jede Spur.
Eine Frage, die “Bild” so ähnlich auch kennt, hat die Zeitung mit ihren Lesern doch das gleiche Problem.
Und in der Zeitung gibt es nicht mal Showacts:
Richtig wach wurden die Zuschauer offenbar nur bei den Showeinlagen.
Wurde bei Gottschalk eher abgeschaltet, wenn irgendjemand gesungen hat -so ist das bei Lanz umgekehrt
Der Quotenverlauf zeigt: Je weniger Lanz redete, umso mehr guckten zu!
Bei den Auftritten von Pink, den “Fantastischen 4” oder Rihanna zeigte die Quotenkurve prompt nach oben.
Diese Behauptung ließ sich dann bei näherer Überprüfung doch nicht aufrechterhalten, wie “Bild” heute zugeben musste:
Das Diagram auf der Titelseite, das einen beschleunigten Zuschauerschwund suggeriert, war übrigens auch falsch: Online ist es treffender.
Ebenfalls auf dünnem Eis bewegt sich “Bild” mit der Geschichte der Sängerin Pink, die vor ihrem Auftritt bei “Wetten dass ..?” einem “Bettler” bzw. einem “Obdachlosen” ihr “letztes Kleingeld” gegeben habe:
Die “Badische Zeitung” bemerkte dazu gestern in ihrer Online-Ausgabe:
Erst als ein Reporter der Bild-Zeitung am Sonntag bei [Schäfer Hans Kletschkus] auftauchte und nachfragte, erfuhr er davon [dass Pink ein Foto von ihm auf Twitter verbreitet hatte]. Die Bild-Zeitung machte daraus die Story des armen Freiburger Obdachlosen, dem Pink einen zehn Euro-Schein und einen fünf Euro-Schein in den Hut legte. Auf dem Fotos sieht man zwar die Scheine, aber wer sie in den Hut legte? Ob Weltstar Pink das war, kann Hans Kletschkus nicht sagen. Eines ist sicher: Obdachlos ist er auf jeden Fall nicht, auch wenn er zurzeit im Wohnwagen unterwegs ist.
Ende November kamen beim Brand in einer Behindertenwerkstatt in Titisee-Neustadt 14 Menschen ums Leben.
In der “Badischen Zeitung” erschien diesen Samstag ein Interview mit dem Polizeisprecher Karl-Heinz Schmid, der “Grenzverletzungen” “seitens einzelner Medienvertreter” beklagt.
Unter anderem berichtet er von Journalisten, die Notfallseelsorgeteams bei der Arbeit begleiten wollten, “beim Überbringen der Todesnachricht oder beim Betreuen von Angehörigen”, und von einer Journalistin, die sich mit der Begründung, sie wolle sich kurz aufwärmen, in das Gebäude “einschlich”, wo die Betroffenen betreut wurden, letztlich aber versuchte, dort journalistisch zu arbeiten.
Es wird sogar noch ein bisschen konkreter:
BZ: In einer Boulevardzeitung war zu lesen, samt Foto, eine Betreuerin sei gerettet worden, habe sich dann aber wieder zurück in die Werkstatt begeben und das mit dem Tod bezahlt. Stimmt das? Schmid: Das ist haltlos. Wir haben dafür nach unseren Ermittlungen nicht den geringsten Beleg. Die Behauptung hat bei uns zu geschätzt 70 Nachfragen geführt, die wir allesamt richtigstellen mussten. Dies hat uns lange Zeit nahezu gelähmt.
Zumindest in diesem Fall lässt sich auch herausfinden, um welche Boulevardzeitung es sich handelte:
Dies ist die Geschichte von einem kleinen Stück Papier. Und davon, wie die “Bild”-Zeitung aus dem kleinen Stück Papier eine ganz große Sache machte.
Die Geschichte beginnt am 25. Oktober. An diesem Tag erscheint in der Dresdner Regionalausgabe dieser Artikel:
Auf dem berühmten Dresdner Elbe-Flohmarkt fanden Rentner Reinhold Hoffmann (70) und Lebensgefährtin Bärbel (71) unter all dem Plunder und Trödel eine unheimlich seltene Briefmarke.
Opa Reinhold: “Bärbel kaufte vor zwei Jahren wie so oft am Elbufer für 20 Euro zwei Kilo alte Briefmarken. Als ich diese auf dem Küchentisch ausbreitete, stockte mir der Atem!”
Und zwar zurecht: Denn allem Anschein nach lag dort auf dem Küchentisch der Hoffmanns eine absolute Rarität: die “Benjamin Franklin One Cent” mit Z-Grill!
Und weil Ihnen das vermutlich genauso wenig sagt wie uns, als wir erstmals davon hörten, hier nun ein kurzer Exkurs in das weite Feld der Philatelie: Im 19. Jahrhundert war es beim U.S. Postal Service für wenige Jahre üblich, ein Muster in die Briefmarken zu prägen, eine Art Wasserzeichen, das die Wiederverwendung von bereits gebrauchten Marken verhindern sollte. Im Englischen werden diese Einprägungen “Grill” genannt. Es gibt davon verschiedene Varianten, etwa den “A-Grill”, den “F-Grill” — oder eben den “Z-Grill”. Das Vorgehen war übrigens nicht sonderlich erfolgreich: schon bald verschwanden die Grill-Briefmarken also wieder und wurden zu Sammlerstücken.
Die “One Cent”-Marke mit Z-Grill ist heute eine der seltensten Marken der Welt, bisher sind nur zwei als echt zertifizierte Exemplare bekannt. Deshalb beträgt der aktuelle Katalogwert auch stolze drei Millionen Dollar. Nur zum Vergleich: von der berühmten “Blauen Mauritius” gibt es noch zwölf Exemplare, im Katalog kommt sie auf vergleichsweise geringe 625.000 Euro.
Nun aber zurück zu “Opa Reinhold”. Ob der auf dem Flohmarkt tatsächlich einen Z-Grill gefunden hat, muss natürlich erst noch geprüft werden.
Das Echtheitszertifikat kann in diesem Fall jedoch nur die ‘Philatelic Foundation’ in New York ausstellen.
… zitiert “Bild” einen Briefmarken-Experten. Und schlussfolgert:
Die Marke der sächsischen Flohmarkt-Fans muss nun also zum Vergleich mit dem Original in die USA.
Es gibt allerdings einen kleinen Haken:
Und das ist Opa Reinholds Dilemma: “Ich habe nur 600 Euro Rente. Damit kann ich mir die Reise und die Prüfgebühr nicht leisten.” Verzweifelt suchen sie jetzt einen Sponsor.
Mit dieser rührenden Szene endet der Artikel. Danach passiert ein paar Tage lang gar nichts. Doch nachdem auch die “Dailymail” in ihrer Online-Ausgabe über den Fall berichtet hat, erkennt “Bild” offenbar das Potenzial der Story und hebt sie am 2. November groß in die Bundesausgabe:
Plötzlich springen auch etlicheandereMedien darauf an und berichten über die “Sammlersensation vom Flohmarkt”.
Ob es sich aber tatsächlich um die wertvolle Rarität handelt, steht immer noch nicht fest. “Bild” schreibt:
Offiziell muss die Echtheit der One-Cent-Marke noch von der “Philatelic Foundation” in New York bestätigt werden. Ohne ein Zertifikat dieser Stiftung kann die Marke nicht in einem Auktionshaus verkauft werden.
Die Experten hierzulande sind allerdings schon mal hin und weg:
Bild.de hatte die Marke von “Gutachter Klaus Finthe” untersuchen lassen.
Flinthe fasziniert: “Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius. Eine Fälschung ist unwahrscheinlich.”
Um aber, so betont Bild.de einen Tag später erneut, …
(…) die 100-prozentige Echtheit einer Marke festzustellen, ist ein Besuch in New York unumgänglich. Denn nur die Expertise der “Philatelic Foundation” bestätigt, dass es sich um ein Original handelt. Eine Reise, die Reinhold Hoffmann auch noch vor sich hat.
Aber gab’s da nicht noch ein Problem? Ach ja:
Reinhold Hoffmann (70) und Lebensgefährtin Bärbel (71) suchten einen Sponsor, um an die Expertise der “Philatelic Foundation” New York zu kommen. Denn nur diese bestätigt die Echtheit.
Doch dank der bundesweiten Aufmerksamkeit gibt es für die “Briefmarken-Millionäre”, wie Bild.de sie nun schon nennt, eine gute Nachricht: Ein Verlag für Briefmarken-Zubehör bietet an, “den Rentner Hoffmann sowohl zu betreuen als auch finanziell zu unterstützen” und will “alle anfallenden Kosten für die Reise in die USA übernehmen”. Auch der Verlag erklärt noch mal das Ziel der Reise: “Jetzt muss die One-Cent-Marke noch von der ‘Philatelic Foundation’ in New York (USA) auf ihre Echtheit überprüft werden.”
Reinhold Hoffmann und seine Lebensgefährtin treffen derweil schon mal die ersten Vorbereitungen:
Doch heute geht das Paar erst einmal zur Meldestelle, beantragt einen neuen Reisepass. Reinhold: “Mein alter ist fast abgelaufen, genügt für den Flug nach New York nicht mehr.”
Und dann, am 27. November, ist es so weit. Der Höhepunkt der Geschichte rückt näher. Endlich treten Herr Hoffmann und ein paar Leute von “Bild” die langersehnte Reise an. Endlich kann die Briefmarke auf Echtheit geprüft werden. Endlich geht es mit dem Flugzeug nach …
Jetzt brachte er seine Marke persönlich nach London – zur Wertermittlung. BILD begleitete ihn!
Seltsam. Da wird “Bild” nicht müde, immer und immer und immer wieder zu betonen, dass “nur die ‘Philatelic Foundation’ in New York” das Echtheitszertifikat ausstellen kann, dass die Marke “ohne ein Zertifikat dieser Stiftung (…) nicht in einem Auktionshaus verkauft werden” kann und “ein Besuch in New York” damit “unumgänglich” ist – und plötzlich geht die Reise nicht in die USA, sondern nach England. Und die Marke wird nicht der “Philatelic Foundation” vorgelegt, sondern der “Royal Philatelic Society”.
Wir haben beim Verlag, der die Reise gesponsert hat, nachgefragt, woher der plötzliche Kurswechsel kommt, allerdings wollte uns dort niemand eine Stellungnahme abgeben.
Aber: Wir hätten da eine mögliche Erklärung. Vielleicht haben Herr Hoffmann und “Bild” die Briefmarke nicht zu den Experten in New York gebracht, weil die schon einen Monat zuvor mitgeteilt hatten, dass es auf keinen Fall die berühmte Rarität sein könne.
Denn schon am 26. Oktober, also einen Tag nachdem “Bild” zum allerersten Mal über den Fund berichtet hatte, und eine Woche bevor die “Bild”-Maschinerie dann so richtig anlief, schrieb die “Huffington Post”:
Reinhold Hoffmann, ein Rentner, der der deutschen Zeitung “Bild” berichtete, er habe eine 3-Millionen-Dollar-Briefmarke gefunden, hat nun wohl einen Grund auszurasten: Die “Philatelic Foundation” sagte, die Marke sei weniger als 100 Dollar wert.
“Wir haben ihm mitgeteilt, dass es nicht der Z-Grill ist”, sagte David Petruzelli von der Foundation der Huffington Post am Freitag. “Er hat uns einen guten Scan davon zugeschickt. Es ist nicht die Briefmarke.” (…)
Aber die Foundation sagte, sie habe ihm geschrieben, er solle sich nicht damit herumquälen [einen Sponsor zu suchen und nach New York zu fliegen]. Die Marke sei es nicht mal wert, daran zu lecken, jedenfalls nicht im Vergleich zu drei Millionen Dollar. “Ich habe mein Bestes gegeben, ihm zu erklären, dass es nicht die Briefmarke ist”, sagte Petruzelli. “Wir wollten nicht, dass er sich die Mühe macht.”
Petruzelli sagte, schon viele Sammler seien auf eigene Kosten [nach New York] geflogen, nur um enttäuscht zu werden. (…) Hoffmanns Fund sei wahrscheinlich ein F-Grill, der (…) weit weniger wert sei als der Z-Grill. In diesem Zustand schätzte er den Wert der Marke auf einen Bruchteil des Katalogwertes von derzeit 475 Dollar.
(Übersetzung von uns)
Gut, man könnte jetzt argumentieren, dass ja immerhin ein deutscher Gutachter, nämlich Klaus Flinthe, “begeistert” und “fasziniert” von der Marke war (wir erinnern uns: “Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius”).
Doch derselbe Klaus Flinthe wird in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift “Briefmarken Spiegel” so zitiert:
“Also erstmal bin ich kein Gutachter”, so Flinthe am Telefon. “Und zweitens sind die Sätze vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe zwar erwähnt, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine echte, also schlichtweg um eine nicht gefälschte Briefmarke handelt, die auch echt gelaufen sein dürfte. Aber ich habe nie behauptet, dass es sich um die besagte Rarität handelt. Dies könnte ich ja auch gar nicht beurteilen.” Dazu in der Lage wäre einzig die Philatelic Foundation.
Und was die gesagt hat, wissen wir ja nun.
Wolfgang Jakubek, ein bedeutender Philatelist und weltweit anerkannter Experte für US-Briefmarken, sagte dem Fachblatt, ein Fund könne “natürlich nie ganz” ausgeschlossen werden, “allerdings sei dieser außerhalb der USA extrem unwahrscheinlich, erst recht in einer Kiloware”. Auch der Verlag, der den Flug nach England gesponsert hatte, geht laut “Briefmarken Spiegel” mittlerweile davon aus, “dass die Marke nicht die erhoffte Marke ist”.
Nur “Bild” lässt sich weiterhin nicht beirren. Dort erwähnen sie all das mit keinem einzigen Wort und spinnen stattdessen fröhlich das Märchen vom Flohmarkt-Schatz weiter. Und das ist durchaus ergiebig: Sechs Artikel konnten “Bild” und Bild.de bisher daraus stricken. Netter Lesestoff über Wochen hinweg, nationale und sogar internationale Medien schenkten der Geschichte und damit der Zeitung ihre Aufmerksamkeit.
Klar, ein Besuch bei den New Yorker Fachleuten – oder auch bloß die Erwähnung von deren Einschätzung – hätte dem Märchen ein ziemlich jähes Ende bereitet. Da fliegt man doch lieber zu anderen Experten, die nicht schon öffentlich verkündet haben, dass die Marke nichts wert ist. Zum Beispiel nach London.
Dort soll die Prüfung übrigens bis zu einem halben Jahr lang dauern. Doch bis dahin ist die “2,5-Millionen-Marke” wahrscheinlich schon wieder in Vergessenheit geraten. Und “Bild” wird nicht mal mehr schreiben müssen, dass die Geschichte vom “Sammlerglück” ohne Happy End auskommen musste.
Mit großem Dank an Björn T., Jürgen K. und Markus R.
“Spinnen die jetzt komplett?”, fragt “Bild” auf der Titelseite und es kann bei dieser Formulierung eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass “die” auch vorher schon nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt hätten.
“Die”, das sind diesmal nicht die Griechen und auch nicht die Hartz-IV-Empfänger, sondern die dritten Lieblingsfeinde der “Bild”-Redaktion: die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, im konkreten Fall die ARD und deren “Tagesschau”.
[…] Insider ätzen: Bei der “Tagesschau” geht es zu wie auf dem Berliner Flughafen – große Pläne, aber nichts klappt. Ein neues Nachrichten-Studio verschlingt viele Millonen. Und wird immer teurer, weil (fast) nichts fertig wird.
“Tagesschau”-Chefredakteur Kai Gniffke ließ gestern erklären: “Die Arbeiten für das Studio liegen voll im Budgetplan.” Aber konkrete Zahlen nannte er nicht.
BILD schon! Über 20 Millionen Euro Gebührengeld wurden für das neue Studio bereits vorab veranschlagt. Fürs Feinste vom Feinen: neues Design, Touchscreens, eine 20 Meter lange HD-Monitorwand, neue digitale Technik.
Das Wort “Gebührengeld” steht da nicht zufällig: “Bild” kämpft schon lange gegen die aus der Sicht der Zeitung viel zu hohen Rundfunkgebühren. Warum die allerdings nicht für ein Studio mit modernster Technik ausgegeben werden sollten, lassen die drei Autoren offen.
“Bild” hat aber noch mehr herausgefunden:
Die “Tagesschau” sollte in ihrem Mega-Studio am 26. Dezember pünktlich zum eigentlichen Geburtstag auf Sendung gehen. “Tagesschau”-Chefredakteuer Kai Gniffke hatte schon am 2. Januar 2012 in seinem Blog geschrieben: “Ende des Jahres nehmen wir unser umgebautes Studio in Betrieb.”
Jetzt plötzlich spricht Gniffke nicht mehr von “Betrieb”, sondern von “Probebetrieb”. WARUM?
Ganz einfach: weil vieles noch nicht funktioniert.
Tatsache: Das hatte Gniffke geschrieben. Nicht geschrieben hatte er allerdings, dass das Studio dann auch schon auf Sendung gehe.
Dass neue Technik nicht immer so funktioniert, wie man sich das wünscht, müssten sie bei “Bild” eigentlich am Besten wissen. Das neue Layout von Bild.de im Moment sorgt noch für einige interessante Effekte:
Andererseits könnte ein nicht funktionierendes Studio natürlich für eine dieser lustigen “Pannen” sorgen, über die “Bild” und Bild.de bei Fernsehsendern sogerneberichten.
In jedem Fall sah sich der NDR, bei der ARD verantwortlich für die “Tagesschau”, gezwungen, mit einer Pressemitteilung auf die “Bild”-Berichterstattung zu reagieren.
Darin erklärt NDR-Sprecher Martin Gartzke unter anderem:
Das neue Studio wird erst in Betrieb gehen, wenn alle Arbeitsabläufe zu hundert Prozent sitzen. Der Starttermin 26. Dezember wurde ausschließlich von der BILD-Zeitung behauptet, wir selbst haben aus guten Gründen bislang keinen solchen Termin gesetzt.
Tatsächlich tauchte das Datum 26. Dezember erstmals auf, als “Bild” (ebenfalls ziemlich ahnungslos) über die “neue” Erkennungsmelodie der “Tagesschau” berichtet hatte.
“Tagesschau”-Chefredakteur Kai Gniffke sagte dann auch auf unsere Frage, dass niemand, der etwas von den Abläufen eines TV-Betriebs verstünde, ein neues Studio am 26. Dezember eröffnen würde: In einer solch schwierigen Phase müsse man quasi mit doppelter Besetzung arbeiten, was “völliger Unfug” wäre, wenn am 2. Weihnachtsfeiertag alle Mitarbeiter bei ihren Familien sein wollten.
Auch der Behauptung von “Bild”, Technikern seien von anderen ARD-Anstalten “eingeflogen” worden, um Fehler zu finden, widersprach Gniffke: Da man im Probebetrieb mit doppelter Besetzung arbeiten müsse (eine Crew fährt das Live-Programm, die zweite die Test-Sendungen), habe man das Team vor Ort mit erfahrenen Journalisten aus den Landesstudios verstärkt.
Das Geraune “mehrerer Insider”, die “Bild” mit den Worten zitiert, das Studio könne am Ende “bis zu 40 Millionen” kosten, kommentierte Gniffke mit den Worten, das geplante Budget von unter 25 Millionen Euro werde “sehr sicher” eingehalten.
Bleibt noch die Fußnote, in der “Bild” behauptete, Anne Will gelte als “Top-Kandidatin” bei der “Tagesschau”, weil die Nachrichtensendung “in Zukunft mehr ‘moderierende Elemente’ enthalten” und die nach Will benannte Talkshow eingestellt werden solle.
Die bezeichnet NDR-Sprecher Martin Gartzke als “völlig befremdlich”. Und fährt fort:
Es gibt keine Entscheidung über die Zukunft der Talkshows. Es gibt auch – anders als von BILD behauptet – keinen Auftrag an eine Intendantin oder einen Intendanten, für Anne Will eine andere Beschäftigung zu suchen; sie moderiert ihre Sendung außerordentlich erfolgreich. Geradezu unsinnig wäre es im Übrigen, angesichts des großen Erfolgs der Tagesschau das bewährte Sprecherprinzip aufzugeben. In diesem Fall zitiert BILD mich vollkommen korrekt mit: ‘Alles Quatsch!”
Am vergangenen Mittwoch hat sich ein Mann in einem Kölner Supermarkt mit Benzin übergossen und selbst angezündet. Er wurde lebensgefährlich verletzt.
Viele Medien berichten seitdem über den Fall. Vermutlich sind es die besonderen Begleitumständen der Tat – insbesondere die Tatsache, dass der Mann auch andere Menschen in Gefahr gebracht hat –, die aus Sicht der Journalisten eine Berichterstattung rechtfertigen.
Einige Medien hielten sich dabei sogar (mehr oder weniger) an das, was der Presserat und Psychologen seit Jahren immer wieder fordern, nämlich zurückhaltend über (versuchte) Suizide zu berichten.
“Bild” gehörte nicht dazu.
Die Zeitung schilderte nicht nur sämtliche Details der Tat, sondern zeigte auch ein nicht unkenntlich gemachtes Foto des Mannes beim Kauf des Benzins. Dazu werden im Text sein Vorname sowie weitere Einzelheiten aus seinem Privatleben genannt.
Und dann war da noch das:
So sah die Seite drei der “Bild”-Bundesausgabe vom letzten Freitag aus.
Bei “Bild” ist das eine gängige Masche, vor allem bei tödlichenUnfällen, Morden und anderenbrutalenGeschichten: Wenn die Redakteure schon kein grausames Foto auftreiben können, lassen sie eben eine grausame Zeichnung anfertigen.
All denjenigen, die sich nicht vorstellen können, wie eine Kinderleiche oder ein brennender Mann aussehen, hilft “Bild” also nach. Ob sie wollen oder nicht.