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Schmerzensgeld für “Nymphomanin”

Es ist schon zwei Jahre her, und es war Sommer. Damals war gerade ein Buch erschienen, und “Bild” versprach:

“BILD druckt exklusiv die aufregendsten Kapitel.”

Die dritte der insgesamt fünf Folgen erschien unter der Überschrift “Ich stellte mich aufs Bett. Dann setzte ich mich auf sein kleines Ausrufezeichen” — und begann so:

Sex ist ihr Leben. Und Hemmungen sind ihr fremd: Valérie Tasso (35). Die ehemalige Verlagsmanagerin aus Paris, die sich selbst als “sexsüchtig” bezeichnet, schrieb das Skandalbuch des Sommers.

Danach fing Tassos Ich-Erzählung an, die sich um ein großes Nacktfoto einer wolllüstig dreinblickenden Brünette schmiegte (siehe Ausriss). Betextet war das Foto mit den Worten:

“Gleicht wirst du merken, daß du’s mit einer Französin zu tun hast”, sage ich und drehe dabei meinen Kopf zu ihm, damit er mein Gesicht sehen kann…

Dafür allerdings wurde der Verlag Axel Springer am vergangenen Donnerstag, zwei Jahre später also, vom Landgericht Kaiserslautern (2 O 970/05) zu 12.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Denn: Die barbusige Frau, die “Bild” zeigte, war nicht die ehemalige Verlagsmanagerin Valerie Tasso aus Paris, sondern eine Studentin aus Kaiserslautern — ein Symbolfoto quasi.

Die Abgebildete fand das gar nicht lustig (sondern, wie es in der Urteilsbegründung heißt, “obszön und Frauen verachtend”) — und klagte. Denn ihre Aufnahmen waren von einer Foto-Agentur nur mit dem ausdrücklichen Vermerk “Aproval Frei. Nutzung nur in einem positiven Zusammenhang!” angeboten worden. Das war auch der “Bild”-Redaktion bekannt, als sie das Foto für 200 Euro kaufte, um damit Valerie Tassos “Nymphomanin”-Text zu illustrieren.

Wie “Bild” sich vor Gericht rechtfertigte

1.) Man habe das Foto “nicht im Bereich der Pornografie genutzt, sondern der Berichterstattung über erotische Literatur und damit im Bereich der Kunst”, also “in positivem Zusammenhang”.
Das Gericht widersprach: Schamlos geschilderte “Sexerlebnisse” und “obszöne Details” seien der Frau “inhaltlich geradezu in den Mund gelegt” worden, was “die sexuelle Verfügbarkeit der Klägerin suggeriert” habe.
2.) Man könne und müsse sich “im Tagesgeschäft” auch bei Fotos auf die Informationen der Agenturen verlassen und könne nicht jedesmal nachfragen.
Das Gericht widersprach: Bei einem Buch-Abdruck hätte die Zeitung auf das OK warten können und müssen; ihr Handeln sei “fahrlässig” und “leichtfertig”.
3.) “Bild” habe sogar trotzdem von einer Mitarbeiterin der Agentur “vor der Veröffentlichung” telefonisch das Einverständnis eingeholt.
Das Gericht zweifelte: Die Mitarbeiterin der Agentur habe unwiderlegt ausgesagt, dass “Bild” erst anrief, nachdem die Klägerin sich beschwert hatte.

Als Folge der “Bild”-Veröffentlichung habe die Frau “von Albträumen berichtet sowie Schlafstörungen, Angstgefühle, Nervosität und Antriebsstörungen beklagt”, sagte ihr Arzt dem Gericht. Sie sei knapp anderthalb Jahre in psychiatrischer Behandlung gewesen.

Das Gericht urteilte, die Aufmachung des “Bild”-Artikels habe beim Leser “eindeutig den Eindruck erweckt, dass die Klägerin die in dem ‘Tagebuch’ erwähnte Nymphomanin oder eine andere Nymphomanin ist, also eine Frau mit gesteigertem Geschlechtstrieb”. Kurzum:

Die Veröffentlichung des Nacktfotos stellt eine schwer wiegende Verletzung der allgemeinen Persönlichkeitsrechte der Klägerin dar (…). Durch die Veröffentlichung (…) ist die Klägerin in ihrer Menschenwürde aber auch in ihrem Ansehen empfindlich herabgesetzt worden.

Prozessbeobachter vermuten jedoch, dass Springer die 12.000 Euro Schmerzensgeld nebst Zinsen und 60 Prozent der Prozesskosten nicht zahlen, sondern in Berufung gehen wird.

PS: Dass eine Rückfrage von “Bild” bei der abgebildeten Frau für den Abdruck irgendwie hilfreich gewesen wäre, ist unwahrscheinlich: Der Fotograf erklärte vor Gericht, er sei sich mit seinem Modell darüber einig gewesen, dass die Nacktfotos “auf keinen Fall in der ‘Bild’-Zeitung” veröffentlicht werden sollten…

Mit Dank auch an Tomchen und Dirk S. sowie Heinz M. und swr.de.

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Showdown beim “Spiegel”
(ftd.de, Lutz Meier und Katrin Elger)
Der jüngste Streit im Verlag des “Spiegel” dreht sich zwar um die TV-Tochter. Doch in Wahrheit geht es auch darum, wie lange Chefredakteur Stefan Aust noch bleibt – und was danach kommt.

Wo bleiben die Verlage?
(boersenblatt.net, Wulf D. v. Lucius)
Die Zeit, in der Informationsprodukte von wenigen für viele hergestellt wurden, wird abgelöst von einer Ära, in der die Nutzer selbst Inhalte beisteuern. Das stellt alte Geschäftsmodelle infrage.

“Ich bin jetzt verdammt betrunken”
(spiegel.de, Konrad Lischka)
Es gibt Web-Unternehmer, die plaudern in öffentlichen Netzforen über ihren Alkoholkonsum oder den Kampf gegen ihr Übergewicht – und überschreiten dabei gelegentlich die Grenze zur Selbstentblößung. Ein Jurist hat eine Firma gegründet, um peinliche Postings aus dem Web 2.0 zu löschen.

Die Pfleger des Rauchtums
(taz.de, Hendrik de Boer)
Die “Tagesthemen” senden Meinungen zum Nichtraucher-Schutzgesetz – und befragen nur Raucher und Wirte.

Mediale Gipfelstürmer
(verdi.de, Günter Frech)
Irrationales Sicherheitsbedürfnis pointiert auf?s Korn genommen.

1000 digitale Meisterwerke: Der Newsroom der Welt-Gruppe in Berlin
(normanemailer.blogspot.com)

Diekmanns Sorge um Nuancierungen und Subtext

“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann beklagt in einem Gastbeitrag für das evangelische Magazin “chrismon”, dass “ganze Jahrgänge” von Schülern “im Babeltum” versänken, gibt den 68-ern die Schuld und sorgt sich um die Arbeitsgrundlage seiner Zeitung — die deutsche Sprache, die “Bild” in der Tradition Martin Luthers pflege:

Wir schauen, um mit Axel Springer zu sprechen, dem Volk dabei gern aufs Maul, reden ihm aber nicht nach dem Mund. Denn wir wollen zwar volksnah sein und eine Sprache sprechen, die das Volk versteht. Es ist aber durchaus fraglich, ob wir auch dessen Begrifflichkeiten übernehmen sollten. (…)

Der Variantenreichtum des Deutschen, gefördert durch die vergleichsweise freie Stellung der Satzteile und die Bojenfunktion der Artikel, ist dahin — und damit auch Nuancierungen, Redefiguren, Subtext. Auch in unserer Sprache herrscht nun, wenn überhaupt, der Terror von Subjekt, Prädikat, Objekt, allerdings unter Verzicht auf Konjugation und Deklination. (…)

Auch Leserbriefe, die wir erhalten, geben ein klares Bild: Orthografisch korrekt sind meist nur Briefe, die aus den neuen Bundesländern stammen oder von älteren Leuten aus dem Westen – also von Personen, die nicht dem Einfluss der Kultusministerkonferenz, der GEW oder reformwütiger Lehrerverbände unterworfen waren.

6 vor 9

TV-Show zeigt Menschen-Tetris
(spiegel.de, Konrad Lischka)
Die absurdeste Fernseh-Unterhaltung sieht in Japan aus wie ein Videospiel: Es gibt Zwischen-Sequenzen, Level, Punkte und Bonus-Kekse zum Einsammeln. B-Promis geben die Spielfiguren, zwängen sich in silberfarbene Strampler und durch winzige Mauerritzen.

“Ich bin der Derrick des Privatfernsehens”
(taz.de, David Denk)
Ulrich Meyer moderiert seit 13 Jahren die Sat.1-Sendung “Akte” – am Dienstag zum 600. Mal. Warum er noch lange nicht aufhören will, erklärt er im taz-Interview.

Wie Leser ihre Online-Zeitungen gestalten
(welt.de, Gerti Schön)
In den Vereinigten Staaten bieten immer mehr klassische Zeitungen ihren Lesern an, die Online-Ausgaben aktiv mitzugestalten. Dabei spielen auch Online-Videos eine immer größere Rolle – mit erstaunlichem Erfolg.

Medien in Frankreich: Sarkozy: Ein Freund, ein fast zu guter Freund?
(diepresse.at, Michael Huber)
Seit Amtsantritt wird dem französischen Präsidenten Sarkozy vorgeworfen, er halte die Medien an der kurzen Leine. Ein Vorurteil?

Nationalratskandidaten im Schlagfertigkeitsseminar
(sf.tv, Video, Dialekt, 5:18 Minuten)
Für einen wirkungsvollen Auftritt in der Öffentlichkeit schicken Parteien ihre Kandidaten vermehrt in Schlagfertigkeits-Kurse und Medientrainings. Denn im Herbst bewerben sich auf jeden Sitz mehr als zehn Kandidaten und um den Leuten im Gedächtnis zu bleiben, müssen sie auffallen.

?Des isch brutal?
(faz.net, Tobias Rösmann)
Strenge Predigerinnen, windige Zukunftsdeuterinnen und manche werbende Botschaft: Wer einen ganzen Tag lang Rhein-Main TV guckt, muss eine gewisse Leidensfähigkeit mitbringen.

100 % der “Bild”-Leser in die Irre geführt

"EU verschwendet 250 Mio. Euro! -- Brüssel. Die EU verschwendet jedes Jahr rund 250 Millionen Euro, weil die 785 Abgeordneten zwischen den beiden Parlamentssitzen in Brüssel und Straßburg hin- und herpendeln müssen. Laut einer Umfrage, die der deutsche FDP-Abgeordnete Alexander Alvaro organisiert hat, halten das 89 % der Parlamentarier für falsch, 81 % wollen Brüssel als einzigen Sitz. Alvaro zu BILD:

Hat’s also immerhin auf die Titelseite der heutigen “Bild”-Zeitung geschafft, die Pressemitteilung von Alexander Alvaro, Vorsitzender der “Kampagne für Parlamentsreform”: Da verschwendet die EU jährlich 250 Millionen Euro, und 89 Prozent der EU-Parlamentarier halten das für falsch — das ist doch was!

Nun ja: Schaut man sich die Pressemitteilung Alvaros, auf der “Bild”-Meldung beruht, genauer an, ist dort auch nirgends von “89 % der Parlamentarier” die Rede. Vielmehr betont Alvaro selbst, dass sich nur 306 der 785 EU-Abgeordneten (umgerechnet also 39 %) an seiner Umfrage beteiligt und “89 % der Teilnehmer” (umgerechnet also nur 35 % der Parlamentarier) gegen die Pendelei zwischen Brüssel und Straßburg ausgesprochen haben. Pendel-Gegner Alvaro hält sein Ergebnis dennoch für ein “durchaus repräsentatives” — und “Bild” gibt “Bild”-Lesern keine Chance, daran zu zweifeln.

Und was die Höhe der EU-Verschwendung anbelangt: Die “Kampagne für Parlamentsreform” beziffert sie nur auf 200 Millionen. Und der von “Bild” zitierte FDP-Mann Alvaro übrigens auch.

Work in progress

Offenbar fällt es ab und zu Mitarbeitern von Bild.de auf, wenn irgendwo bei Bild.de Unsinn steht. So stand bis vor kurzem noch in einem Info-Kasten dies hier:

Das war falsch, wie sich zum Beispiel auf kannstehaben.org nachlesen lässt, und wurde inzwischen “korrigiert”. Jetzt steht in dem Kasten:

Mal abwarten, ob und wann jemandem bei Bild.de auffällt, dass auch das falsch ist und wie es “korrigiert” wird.

Mit Dank an Eric S. für den sachdienlichen Hinweis.

Nachtrag, 18.30 Uhr: So, jetzt sind falschen Rechnungen verschwunden, und nachdem der Kasten kurzzeitig so aussah, wurde jetzt sogar sicherheitshalber der Schweiß von “82 Millionen Deutschen” aus dem Text entfernt. Bleibt vielleicht noch die Frage, wie realistisch eigentlich die Grundannahme ist, dass ein Mensch an einem Tag tatsächlich 24 Liter Flüssigkeit alleine durchs Schwitzen verliert. Aber bevor sich jetzt jemand bei Bild.de daran macht, da noch weiter dran rumzubasteln, oder auch noch die anderen Fehler bei der Haut oder beim Speichel zu korrigieren, wäre es vielleicht mal an der Zeit, sich zwischendurch um Wichtigeres zu kümmern. Zum Beispiel um diese Frage aus einer Bild.de-Überschrift: “Hat Seehofer sich für seine Frau entschieden?” Die hat Seehofer selbst nämlich schon beantwortet.

6 vor 9

TV 2.0
(gugelproductions.de, Bertram Gugel und Harald Müller)
Zusammen mit Harald Müller habe ich in den letzten Wochen das Whitepaper TV 2.0 (pdf, 5,4 mb) zum aktuellen Stand des Fernsehens im Spannungsfeld von Internet und neuer Technologien geschrieben.

Lokale Nachrichten auf Spiegel Online – die Fortsetzung
(print-to-inter.net)
Spiegel Online eruiere die Möglichkeit, in den Markt mit lokalen Nachrichten und folglich lokaler Werbung einzusteigen, heißt es.

«Ich finde, wo SF draufsteht, soll auch SF drin sein»
(sonntagszeitung.ch, Andreas Kunz und Chris Winteler)
SF-Chefin Ingrid Deltenre über Presse-TV, Diätpleiten und Fernsehen in China.

“Fun überlassen wir den Privaten”
(turi-2.blog.de)
Digital-Offensive: ARD-Vorsitzender Fritz Raff im Interview mit turi2 über Verleger-Ängste, nervöse Regungen und gemeinsame Gegner.

Fünf Artikel, zwei Prozesse
(fr-online.de, Thierry Chervel)
Das FAZ-Feuilleton brachte in den letzten zwei Jahren fünf Artikel und strengte zwei Prozesse gegen das Internetmagazin Perlentaucher an. Für einen dieser Prozesse hat sich die FAZ sogar mit der Süddeutschen Zeitung zusammengetan. Was hatte der Perlentaucher verbrochen?

Wie ich mit Live Earth Strom gespart habe
(blogs.radio24.ch/christoph)
Antwort: indem ich den Fernseher mit der Übertragung des weltumspannenden 24-Stunden-Konzerts auf SF2 am Mittag wieder abgestellt habe.

Kurz korrigiert (437)

In einem Interview der aktuellen “Bild am Sonntag” (siehe Ausriss) fragt Oliver Pocher den Fußballspieler Ailton:

(…) Und wann bitte hast du zuletzt getroffen?

Und Ailton antwortet (laut “BamS”):

In Zürich! Oft sogar: 13 Tore in 8 Spielen — perfecto! (…)

Fußballdaten.de, der “Kicker”, aber auch die Zürcher Grashopper selbst wissen zwar bloß von 8 Toren in 13 Spielen, doch…

… weil ja alle Journalisten bei Axel Springer “grundsätzlich, auch im Falle besonderen Termindrucks, dafür Sorge [tragen], dass Interviews vom Gesprächspartner mündlich oder schriftlich autorisiert werden”, ließe das nur einen Schluss zu: Ailton hat der “BamS” irgendwelchen Unsinn erzählt, den Unsinn anschließend sogar autorisiert* — und in der “BamS”-Sportredaktion hat’s niemand gemerkt…

*) Warum der Brasilianer Ailton im “BamS”-Interview wiederholt ausgerechnet spanische Vokabeln (“Hombre”, “Cojones”, “perfecto”) benutzt haben soll, entzieht sich unserer Kenntnis.

Mit Dank an Bernd H., Gerhard T., Dietrich K. und Michael H..

Nachtrag, 18.40 Uhr (mit Dank an Jan W.): Vergangenen Mittwoch wusste übrigens auch “Bild” noch, dass Ailton “in 13 Spielen immerhin acht Tore geschossen” hatte.

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“Bild” hört Phantomband bei Genesis-Konzert

Die Schwierigkeiten, die das journalistische Genre des Konzertberichtes mit sich bringt, sind offenbar wirklich, wirklich nicht zu unterschätzen. Unter einem im Nachhinein selbstironisch wirkenden Seitenmotto überraschte die Leipziger “Bild”-Ausgabe Kenner und Augenzeugen am Donnerstag mit der Information, dass es beim Genesis-Auftritt im Zentralstadion am Mittwoch eine Vorband gegeben habe. Und nicht irgendeine:

Da nicht nur nicht UB40, sondern niemand vor Genesis aufgetreten war, zögerte “Bild” nicht, den Fehler am folgenden Tag zu korrigieren — wenn auch vielleicht nicht unter der naheliegendsten Überschrift:

Aber das wüssten wir dann doch gerne genauer, wie das war, als die Reporterin der “Bild”-Redaktion die Informationen, äh, übermittelte:

Vielen Dank an Daniel G. für den Hinweis, die Scans und alles!

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