Archiv für Oktober 17th, 2011

Sieben auf einen Streich

Nicht alles, aber womöglich doch vieles von dem, was im Onlinejournalismus falsch läuft, lässt sich anhand dieses Artikels aus dem Online-Auftritt der “Abendzeitung” aufzeigen:

Siebenfacher Mord: Mann sprengt sich in die Luft

Da ist zunächst einmal dieses knallige Foto, das natürlich auch als Teaser auf der Startseite zu finden war. Es zeigt also einen Mann, “das Gesicht verhüllt, die Hände in Skihandschuhe gesteckt”, vor einer beeindruckenden Feuerwand/Explosion. Die Leute von der “Abendzeitung” haben ihn dort allerdings hineinmontieren müssen, denn der tatsächliche Bildhintergrund war nicht ganz so spektakulär:

Mindestens ebenso bemerkenswert sind natürlich auch die oben abgebildete Überschrift und der Vorspann der Meldung:

Handschuhe, Kapuze, Gesicht verhüllt: Wolfgang M. steht wegen siebenfachen Mordes vor Gericht und soll sich selbst in die Luft gesprengt haben. Der Mann hat schwerste Verbrennungen.

Bemerkenswert vor allem, weil auf den “siebenfachen Mord” in Überschrift und Vorspann diese Meldung folgte:

Wegen versuchten Mordes in sieben Fällen muss sich seit Montag der mutmaßliche Serienräuber Wolfgang M. vor dem Münchner Landgericht verantworten. Der 50-Jährige soll im August 2010 nach einem Überfall im Raum Augsburg auf der Flucht seinen Wagen mit Propangas in die Luft gejagt haben, um sich selbst zu töten.

Dabei wurden sieben Polizisten verletzt. Der Angeklagte erlitt schwerste Verletzungen und ist ein Pflegefall. Gegen ihn wird voraussichtlich an neun Tagen verhandelt.

Da haben wir also eine aufmerksamkeitsheischende Fotomontage und eine Überschrift, die nur wenig mit der Meldung selbst zu tun hatte. Geht noch mehr?

Aber ja: Im Laufe des Nachmittags haben die Online-Redakteure von der “Abendzeitung” die komplette Meldung durch einen deutlich längeren Artikel ersetzt und dabei auch unauffällig die Aussage der vorherigen Überschrift korrigiert.

Prozess in München - Mordversuch: Serienräuber sprengt Auto

Mit Dank an Bernd A.

Hin und Beck

Auf den ersten Blick passen Überschrift und Foto perfekt zusammen:

Beck kritisiert Auftritt von MDR-Fernsehballett bei Kadyrow-Gala

Doch der erste Satz des Artikels macht deutlich, dass hier etwas schief gegangen ist:

Die Osteuropaexpertin der Grünen-Bundestagsfraktion, Marieluise Beck, hat den Auftritt von Mitgliedern des MDR-Fernsehballetts in Tschetschenien als “unanständig” kritisiert.

Marieluise Beck, soweit bekannt nicht identisch mit dem abgebildeten Kurt Beck, sieht natürlich ganz anders aus.

Doch der Internetauftritt der “Abendzeitung Nürnberg” ist nicht das einzige Medium, das den Artikel über Frau Beck mit einem Foto von Herrn Beck bebildert hat:

Beck kritisiert Auftritt von MDR-Fernsehballett bei Kadyrow-Gala

Beck kritisiert Auftritt von MDR-Fernsehballett bei Kadyrow-Gala

Quelle jedes Mal: Die Nachrichtagentur dapd. Die hätte es allerdings noch sinnloser treffen können.

Mit Dank an Magnus G., Matthias U. und Schreiberling.

Bild  

Auf einem Auge blind

Hans-Hermann Tiedje klang am Freitag empört:

Linker Terrorismus — Was denn sonst?Es existiert da bei manchen offenbar Nachsicht bei Motiven von links, weil: Eigentlich meinen die Täter es ja irgendwie doch gut.

Wenn jetzt Linksextremisten durch Brandanschläge bei der Bahn Hunderte von Menschenleben gefährden, dann wird schon wieder um Worte gerungen.

Es wird Tiedje, den früheren “Bild”-Chefredakteur, wurmen, dass nicht einmal der Chef des Bundeskriminalamts bereit ist, angesichts der Brandanschläge auf Strecken der Deutsche Bahn von “Terrorismus” zu sprechen.

Tiedje selbst hingegen ist ein Freund klarer Worte, wie er schon zu Beginn seines Kommentars deutlich machte:

Wenn Neonazis Ausländer verprügeln, ist das dann schlicht nur Ausländerhass? Nein, es ist Terror, und zwar Terror gegen Menschen.

Hoyerswerda, Solingen, Oktoberfest 1980: alles Fälle von rechtem Terrorismus. Und jeder benennt es so, schon im Rückblick auf die Nazizeit.

Wenn wir den (bis heute nicht wirklich aufgeklärten) Bombenanschlag auf das Oktoberfest 1980 mal außen vor lassen: Es gibt wenig Hinweise darauf, dass im Zusammenhang mit den Ausschreitungen von Hoyerswerda und dem Mordanschlag von Solingen irgendjemand von “Terrorismus” gesprochen hätte.

Im Gegenteil, wie diese AP-Meldung vom November 1991 zeigt:

Für Generalbundesanwalt Alexander von Stahl sind die Anschläge auf Ausländer kein Terrorismus. Zwar habe der Rechtsextremismus zugenommen, sagte er am Donnerstag abend in Hamburg vor dem Übersee-Club. Aber es lägen bisher keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, daß die mittlerweile über 300 Brandanschläge auf Unterkünfte von Asylbewerbern und andere Ausländern durch terroristische Vereinigungen gesteuert würden oder daß sich terroristische Strukturen gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gebildet hätten. Der Rechtsterrorismus sei “keine aktuell erkennbare Gefährdung”.

Wenn Tiedje heute behauptet, “jeder” spreche im Zusammenhang mit diesen Ereignissen von “rechtem Terrorismus” (“schon im Rückblick auf die Nazizeit”), dann ist diese Behauptung mindestens gewagt. Oder auch geschichtsklitternd.

Einige Beobachter haben übrigens die “Bild”-Zeitung für die aufgeheizte Stimmung gegenüber Asylanten und Ausländern in Deutschland mitverantwortlich gemacht. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hatte schon im September 1991 die Berichterstattung von “Bild” scharf kritisiert. Im April 1992 titelte die Zeitung: “Die Flut steigt – wann sinkt das Boot? Fast jede Minute ein neuer Asylant”.

(Co-)Chefredakteur von “Bild” war damals Hans-Hermann Tiedje.

Mit Dank auch an Robert W.

Piratenpartei, Beißreflexe, Säbel

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Stille Post sie spielen”
(scilogs.de, Anatol Stefanowitsch)
Wie “Spiegel Online” eine dpa-Meldung über eine neue Studie umschreibt, “ohne die Studie zu kennen und verstanden zu haben”.

2. “Piratenpartei: Humor ist, wenn man trotzdem lacht”
(panorama.blog.ndr.de, Andrej Reisin)
Andrej Reisin reagiert auf wütende Reaktionen von Mitgliedern und Sympathisanten der Piratenpartei, die sich von einem NDR-Beitrag “verhöhnt” fühlen. “Über Inhalt und Qualität des Films lässt sich selbstverständlich streiten – und der NDR bietet dafür mit seiner Kommentarfunktion ja auch breiten Raum. In den Reaktionen kommt allerdings auch etwas anderes zum Vorschein, nämlich ein Gestus, der sich jedwede Kritik oder Satire schlicht und ergreifend verbitten will.”

3. “Genies nach Maßgabe des deutschen Journalismus”
(antimedien.de, Hektor Haarkötter)
“Deutschland hat wirklich einige Geistesgrößen zu bieten. Gescheite, unglaublich belesene Leute, die aus ihrem enormen Wissensschatz unter Anwendung der Gesetze der Logik (und machmal auch unter Umgehung derselben) zu brillanten Schlüssen kommen. Die ‘Zeit’- und ‘Spiegel’-Redakteure könnten vermutlich lebenslänglich suchen, sie würden diese echten ‘Genies’ nicht finden.”

4. “Das Scheißleben der Feuilletonisten”
(spiegel.de, Georg Diez)
Das Ich und das Wir im deutschen Feuilleton. “Was hier von unterschiedlicher Seite versucht wird, ist eine Umdeutung der Gegenwart mit den Mitteln der Literaturkritik.”

5. “Alte Beißreflexe”
(faz.net, Johannes Warda)
Es bestehe kein Zweifel, “dass sich die Bürgerbewegung von G8- und Bildungsprotest über den arabischen Frühling bis zu ‘Occupy Wall Street’ großer Medienaufmerksamkeit” erfreue, findet Johannes Warda. “So mancher Vorwurf an die sogenannten Mainstream-Medien erinnert da an alte Beißreflexe: ein anachronistisches Verhaltensmuster aus der Zeit der Blockkonfrontation, das gerade die Indie-Medien und die Netzkultur überwunden zu haben glaubten.”

6. “Symbolträchtiger Mongolismus und eine Wiener Leiche auf Abwegen”
(mediensalat.info, Ralf Marder)
Aus welchem Bild ein von express.de, mopo.de und berliner-kurier.de eingesetztes Symbolfoto eines Säbels ausgeschnitten wurde.