Archiv für November 4th, 2010

Wie man Zustimmung zu Stuttgart 21 produziert

Das ist eine überraschende Nachricht heute in “Bild”:

Die meisten Umfragen bisher hatten eine Mehrheit gegen das Bahnhofsprojekt gesehen. Entweder gibt es also, wie “Bild” suggeriert, einen Stimmungsumschwung.

Oder nicht.

Zunächst einmal ist die Umfrage nicht repräsentativ — eine Information, zu der “Bild” sogar laut Pressekodex verpflichtet wäre.

Der Verein “Mobil in Deutschland”, auf dessen Seite die Online-Befragung veranstaltet wurde, nennt als ein zentrales Ziel seiner Arbeit, “Mobilität zu fördern”, unter anderem durch den “Ausbau der Infrastruktur (Strasse, Schiene, Flughäfen)”. “Mobil in Deutschland” kämpft auch konkret für “Stuttgart 21”.

Entsprechend jubelt der Verein in einer Pressemitteilung über die angeblichen Ergebnisse seiner Umfrage:

Was noch vor 3 oder 4 Wochen undenkbar schien, wird jetzt offenbar Realität. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung scheint hinter Stuttgart 21 zu stehen. “Offenbar hat sich der Wind gedreht”, so Dr. Michael Haberland 1. Vorsitzender von Mobil in Deutschland e.V. “Gesprächsbereitschaft, Verhandlung und Kommunikation aber auch Beharrlichkeit in dem Ziel der Umsetzung scheint ein gutes Konzept zu sein.”

Und Desinformation, natürlich. Anders als der Verein und “Bild” behaupten, wurden die Teilnehmer der Umfrage nämlich gar nicht gefragt, ob sie “für” oder “gegen” “Stuttgart 21” sind. Die erste Frage lautete stattdessen:

Halten Sie Stuttgart 21 für ein wichtiges Verkehrsprojekt?

59 Prozent antworteten mit Ja — aber für ein wichtiges Projekt kann man Stuttgart 21 auch halten, wenn man gegen seine Verwirklichung ist.

Die Frage, auf die sich “Bild” in seiner Überschrift bezieht, ist die zehnte. Sie lautet:

Sollte die Politik an großen Infrastruktur- und Verkehrsprojekten wie Stuttgart 21 festhalten?

Der Mobilitäts-Verein schreibt dazu:

Dies ist die entscheidende Frage in unserer Umfrage und hat ein klares Ergebnis. Fast 58 % der Befragten sind der Meinung, dass man an Stuttgart 21 festhalten soll. Nur 37 % der Befragten möchten das nicht.

Die Uminterpretation des Ergebnisses ist fast schon lächerlich plump. Es ist, als würde man die Menschen fragen: “Sollten Eltern ihre Kinder erziehen (z.B. durch Hausarrest)?” — und wenn 58 Prozent mit Ja antworten, behaupten, 58 Prozent der Menschen seien für Hausarrest.

Ein Verein macht Stimmung für sich und ein von ihm unterstütztes Projekt. Und Medien wie “Bild” und die “Abendzeitung” helfen ihm dabei.

Bild  

Allee: Hopp!

Der Streit um das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 wird längst auch in den Medien ausgetragen. Am Mittwoch etwa erschien in der Stuttgarter Regionalausgabe von “Bild” ein Bericht über eine “Nacht- und Nebelaktion” gegen das Alternativkonzept Kopfbahnhof 21 (K21), bei der Stuttgart-21-Befürworter Flyer mit der Aufschrift “Wir fallen für K21” an 130 Bäumen befestigt hatten:

Plakat-Aktion! Auch bei K21 müssen Bäume weg

Im Text lässt “Bild” dann auch keinen Zweifel daran, dass die Bäume für K21 fallen müssten:

Morgens um 5 Uhr wurden Bäume markiert, die auch für das Alternativkonzept K21 gefällt werden müssten. (…) Die Allee-Bäume sind bis zu 200 Jahre alt.

“Bild” beruft sich dabei ausschließlich auf den Stuttgart-21-Befürworter Lutz Aichele:

Aktivist Lutz Aichele (40): “Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass auch für K21 erhebliche Eingriffe in dem Park notwendig sind. Wenn K21 kommt, muss die Allee sterben.”

Ob die Bäume tatsächlich für das Projekt K21 fallen müssten, hat “Bild” nicht überprüft. Dabei wäre es für eine ausgewogene Berichterstattung das Mindeste gewesen, wenigstens auch der Gegenseite die Gelegenheit zur Stellungnahme zu bieten.

Deshalb hat der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD) “Bild” inzwischen aufgefordert, den Eindruck, mit K21 müssten die Bäume der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Allee gefällt werden, zu zerstreuen. In einer Gegendarstellung, die auch BILDblog vorliegt, erklärt der VCD, der maßgeblich an der Entwicklung der Alternativkonzeption Kopfbahnhof 21 beteiligt war und ist, unter anderem:

Das Konzept Kopfbahnhof 21 sieht keine zwei zusätzlichen Gleise durch den Stuttgarter Schlossgarten und im Rosensteinpark vor. Ein Eingriff in den Park zum Schaden der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Allee war nie und ist kein Bestandteil von Kopfbahnhof 21.

Die These, die Alleebäume müssten für Kopfbahnhof 21 gefällt werden (…) ist eine böswillige Unterstellung und private Meinung des Stuttgart-21-Aktivisten Lutz Aichele. Herr Aichele ist durch umfangreichen Schriftverkehr mit dem VCD über diesen Sachverhalt informiert und wiederholt seine These wider besseres Wissen.

Oder wie es Lutz Aichele, auf Facebook nach seinen Quellen gefragt, lapidar ausdrückt:

Ich mach es wie viele Gegner bei S21, ich gehe auch bei K21 vom “Schlimmsten” aus. Das ist nach momentanem Kenntnisstand nur fair.

Der “Bild”-Artikel endet übrigens mit folgenden Worten:

Bis zum Abend waren viele Hinweis-Zettel schon wieder von den Bäumen abgerissen. Aichele: “Das zeigt das Demokratieverständnis einiger S21-Gegner.”

Es würde von Journalismusverständnis zeugen, wenn “Bild” wenigstens nachträglich auch die andere Seite noch zu Wort kommen ließe.

Mit Dank an den Hinweisgeber.

Nachtrag, 5. November: Lutz Aichele fühlt sich ungerecht behandelt, was den “umfangreichen Schriftverkehr mit dem VCD” angeht. Aus seiner Mail an BILDblog:

Der VCD behauptet einen umfangreichen E-Mailverkehr. (…) Es gab zwei E-Mails vom VCD und ich zitiere ja in meiner Publikation auch daraus. Auf weitere, tiefere Nachfragen erhielt ich vom VCD keinerlei Antworten mehr. Umfangreich ist für mich etwas anderes.

Gorleben, Sport Bild, Schmalkalden

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die PR der Gorleben-Protestler”
(ndr.de, Video, 6:34 Minuten)
Um “gute Berichterstattung” zu erzielen, kümmern sich Atomkraftgegner um die anreisenden Journalisten, kochen Kaffee, richten Büros ein. Christoph Bautz vom Kampagnenverein “Campact”: “Wir gestalten Aktionen doch immer wieder so, dass sie auch von den Medien entsprechend aufgegriffen werden, entsprechend transportiert werden. Wir schaffen ein Bild, das zum Beispiel gut in der Zeitung dargestellt werden kann, das gut in einem Fernsehbeitrag übertragen werden kann. Beispielsweise eine grosse Castor-Attrappe, mit der wir letzte Woche auf Tour gegangen sind, vom Endlager-Standort Gorleben nach Berlin. Das waren Bilder, die Medien gerne aufgreifen.”

2. Interview mit Christian Jungblut
(freischreiber.de)
Gemäß dem Landgericht Hamburg hat die Zeitschrift “Geo” gegenüber dem freien Journalisten Christian Jungblut “ihr Bearbeitungsrecht überschritten”. Jungblut sieht sich selbst kooperationsbereit und findet es gut, wenn jemand sein Stück gegenliest und sagt: “Hör mal, das habe ich nicht verstanden”. “Wenn mir aber eine redigierte Fassung vorgelegt wird, die ich nur noch abnicken darf, ist das nur noch ein Verwaltungsakt – und keiner möchte gern verwaltet werden.”

3. “Hinter der Freiwilligkeit wartet der Zwang”
(lawblog.de, Udo Vetter)
Udo Vetter kommentiert von der Polizei vorgenommene Speichelproben bei mehreren hundert Fahrzeughaltern. “Nach außen betont die Polizei, jede Speichelprobe sei freiwillig. Wer sie verweigere, mache sich deswegen noch nicht verdächtig. Die Wirklichkeit dürfte anders aussehen. Die Boulevardpresse zeigt schon mal den Weg und fragt, ob der Verweigerer nur ein Querulant ist.” Die Schlagzeile auf Bild.de: “Passat-Fahrer verweigert Polizei Speichel-Probe!”

4. “Kampf der Leserintelligenz (2)”
(el-futbol.de, Sidan)
Sidan liest die aktuelle “Sport Bild”.

5. “2010 State Of The Blogosphere”
(techcrunch.com, Erick Schonfeld, englisch)
Die auf einer Umfrage unter 7200 Bloggern basierende Präsentation “State Of The Blogosphere” für 2010 ist erschienen.

6. “Er entkam dem Erdloch in Thüringen!”
(medienrauschen.de, Thomas Gigold)
Ein Schlagzeilen-Quiz zum Erdloch in Schmalkalden (BILDblog berichtete).