Archiv für August 19th, 2010

Dumm wie rot

Auf der Suche nach dem sinnlosesten Stück Onlinejournalismus aller Zeiten sind wir möglicherweise fündig geworden. Unscheinbar versteckt mitten in einem Artikel über einen Stier, der bei einer Stierkampf-Veranstaltung ins Publikum gesprungen ist:

Mehrere Menschen in roten Hemden und T-Shirts waren unter den Verletzten, was jedoch kein Beleg für eine bewusste Handlung des Tieres ist.

So steht es bei “Spiegel Online”. Und wenn mehrere Menschen unter den Verletzten gewesen wären, deren Nachnamen mit “M” beginnt, so wäre das sicher genauso wenig ein “Beleg für eine bewusste Handlung des Tieres” gewesen — zumal der Satz nicht gerade sinnvoller wird durch das, was unmittelbar auf ihn folgt:

Wie die meisten Säugetiere haben auch Stiere keine Farbwahrnehmung.

Auf eine verquere Art und Weise ist aber selbst dieser Unfug eine Steigerung gegenüber dem, was “Spiegel Online” ursprünglich über die “dramatischen Szenen”, die auf den Fernsehbildern aus einer spanischen Stierkampfarena zu sehen sind, geschrieben hatte:

Dabei ist deutlich zu sehen, dass das Tier immer wieder Kurs auf Menschen in roten Hemden nahm und Personen in weißer Kleidung verschonte.

“Spiegel Online”, sonst angeblich auf eine Kennzeichnung nachträglicher Textänderungen bedacht, hat sich diesmal für die klammheimliche Überarbeitung entschieden.

Mit Dank an Marvin S., Sandro K. und besonders an Rocky G.

Die Fastronautin

Barbara Burtscher ist Physiklehrerin an der Kantonsschule in Wattwil.

Im Juli 2009 flog sie nach Huntsville, Alabama, um dort “4 Wochen lang im Nasa Education Center und U.S. Space & Rocket Center Lehrer auszubilden und meine Live Sternenhimmel Show zu präsentieren” – sie berichtete in ihrem Blog. Mit “Nasa Education Center” ist das “NASA Marshall Space Flight Center Educator Resource Center” gemeint. Es befindet sich im U.S. Space & Rocket Center, einem Museum.

Im November und Dezember 2009 war sie einige Tage als “Crew Astrophysicist” in der “Mars Desert Research Station” im US-Bundesstaat Utah, worüber sie ausführlich bloggte. Im Wikipedia-Artikel zur Mars Desert Research Station wird darauf hingewiesen, dass Crewmitglieder keine Bezahlung erhalten, aber dafür wertvolle Erfahrungen. Im Anmeldeformular heißt es:

Every participant is expected to pay $1,000 to cover the costs of the 2-week simulation.

(Jeder Teilnehmer muss 1000 Dollar bezahlen, um die Kosten der zweiwöchigen Simulation zu decken.)

Am 25. April 2010 sprang Burtscher über Whiteville, Tennesse, aus dem Flugzeug. Aus rund 10.000 Metern Höhe. Diese zum Beispiel hier angebotenen Sprünge kosten zwischen 375 und 3495 US-Dollar. Auch davon zeugen mehrere Blogeinträge (und Berichte auf 20min.ch und tagblatt.ch).

Und nun ein Blick in die Schweizer Medien.

“Schweizer Illustrierte” vom 10. August 2009:

Auf dem Weg zum Mond

“Die Schweizerin Barbara Burtscher darf jetzt für die Nasa arbeiten”

“Schweizer Illustrierte” vom 14. Dezember 2009:

Unsere Frau auf dem Mars

“Diese Toggenburgerin hat grosse Chancen, Nasa-Astronautin zu werden und auf den Mars zu fliegen.”

20min.ch vom 1. November 2009 (berichtigt am 18. August 2010):

Erste Schweizerin lebt bald in der Mars-Station

“Die junge Schweizer Astrophysikerin Barbara Burtscher wird in der Mars-Station der Nasa leben – als erste Schweizerin überhaupt.”

Blick.ch vom 2. November 2009:

Schweizerin trainiert Marslandung für Nasa

“Barbara Burtscher (24) ist Toggenburgerin, Astrophysikerin – und steht schon mit einem Bein auf dem Mars.” (…)

“Kantonschullehrerin Barbara Burtscher (24) ist auf dem besten Weg, Astronautin zu werden” (…)

“Offenbar ist den Amis aufgefallen, dass da im St. Gallischen ein Raumfahrer-Talent herangewachsen ist.”

Ihre durch die Artikel gewonnene Bekanntheit führte auch zu Einladungen des Schweizer Fernsehens. So war sie am 17. Juni 2010 Talk-Gast bei “Aeschbacher” und zuvor, am 20. Februar 2010, durfte sie in der Kartenspielsendung “Samschtig-Jass” mitspielen. Auf der Website wurde sie als “Astronautin” angekündigt:

Bevor die Astronautin Barbara Burtscher auf die Reise zum Mond oder gar Mars startet, versucht sie sich heute im irdischen Differenzler.

Aktuell steht Barbara Burtscher im Mittelpunkt einer Debatte, die der Artikel “Die eingebildete Astronautin” im “Tages-Anzeiger” ausgelöst hat (der zuvor selbst dreimal über Burtscher berichtet hatte, ohne die Hintergründe zu recherchieren).

Gegen den im Artikel verwendeten Begriff “Hochstaplerin” wehrt sich die Angegriffene in einer Stellungnahme. Auf der Empfangsseite von barbaraburtscher.com heißt es derzeit:

Ich habe mich nie als “Nasa-Astronautin” ausgegeben, wie gewisse Medien jetzt suggerieren wollen. Klar, ich bin begeistert von meiner Sache, die ich stets offen hier dokumentiert habe. Gut möglich, dass sich auch Medien von dieser Begeisterung haben anstecken lassen, was mich natürlich gefreut hat. Dabei habe ich mich stets bemüht, korrekt zu informieren. Wenn trotzdem falsche Eindrücke entstanden sind, so tut mir das leid.

Die erste Publikation mit einem kritischen Blick auf die mediale Astronautinnenkarriere war der “Tages-Anzeiger” nicht. Ende Januar 2010 veröffentlichte das Weblog “Infamy” zwei Beiträge und löschte sie auch gleich wieder, da sich ein Rechtsstreit mit Burtscher anzubahnen drohte.

Bis vor kurzem bezeichnete sich Barbara Burtscher auf ihrer Website als “Astrophysikerin” – was in einigen von den bisher über 60 von ihr gesammelten Medienbeiträgen ungeprüft verbreitet wurde. Derzeit ist sie krankgeschrieben. Doch die vom Rektor der Kantonsschule Wattwil als “gute und beliebte” Lehrerin eingeschätze Frau ist sicher bald zurück.

Kaymer, Sachsensumpf, Price

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Spekulationen über Kaymers Freundin”
(american-arena.blogspot.com, Jürgen Kalwa)
“Bild” macht eine “Marketing-Expertin” aus New York zur Freundin von Golfprofi Martin Kaymer. “Wenn man die im Telefonverzeichnis von Wagner aufgelistete Alison Micheletti (Vorname mit einem ‘l’) anruft, bestätigt sie einem gerne, dass sie nicht die Freundin von Kaymer ist.”

2. “Definieren Sie den Begriff ‘mysteriöses Detail'”
(noemix.twoday.net)
Nömix liest den Artikel “Charlie-Qualle in der Feuerhölle” auf “Spiegel Online” und fragt sich, “inwiefern (angebliche) Maschinengewehre im Frachtraum für einen Flugzeugbrand potentiell gefährlich sein sollen”.

3. “Urteil im Sachsensumpf-Prozess”
(ndr.de, Video, 7:02 Minuten)
“Zapp” fasst das Urteil im Journalistenprozess zum “Sachsensumpf” zusammen und nennt es “offenkundig absurd”. Der angeklagte Journalist Arndt Ginzel im Schlußwort: “Es muss erlaubt sein, kritische Fragen zu stellen.”

4. “Daily Star: Lies and Five”
(tabloid-watch.blogspot.com, englisch)
Wie schon im August 2009 unterstellt “Daily Star” Katie Price eine Schwangerschaft. Sie dementiert per Twitter.

5. “Is the web really dead?”
(boingboing.net, Rob Beschizza, englisch)
Rob Beschizza glaubt, dass der gestern verlinkte “Wired”-Artikel mit einer anderen Grafik illustriert werden müsste.

6. “BREAKING NEWS!”
(blog.tagesschau.de, Christian Thiels)
Die “Tagesschau”-Redaktion ignoriert eine Presseeinladung.