Archiv für April 15th, 2010

Prinz Harry & die Champagne Supernova

Natürlich könnten sich die deutschen Medien einfach selbst aufregende Geschichten aus dem englischen Königshaus ausdenken. Aber warum sollten sie sich die Mühe machen, wenn sie einfach fertige Geschichten aus der erfindungsreichen britischen Boulevardzeitung “The Sun” abschreiben können?

Am Montag zum Beispiel machte die mit der Meldung auf, Prinz Harry habe in einem Club in London so richtig einen draufgemacht: Wildfremden Menschen habe er 200 Pfund teure Flaschen Champagner spendiert, insgesamt soll er in vier Stunden 10.000 Pfund für das gute Zeug ausgegeben haben.

Deutsche Medien übernahmen die Geschichte begeistert — und machten sie teilweise noch spektakulärer, indem sie suggeriertern, Prinz Harry habe das viele Geld alleine versoffen:

Als das am Dienstag in “Bild”, “B.Z.”, “Berliner Kurier” und “Rheinischer Post” stand, war die ursprüngliche Meldung auf der Homepage der “Sun” allerdings schon nicht mehr abrufbar, und in der Zeitung stand ein merkwürdiger Artikel, den man mit viel gutem Willen als verstecktes Eingeständnis lesen konnte, dass die Geschichte von dem Champagner-Exzess möglicherweise nicht stimmte. Der Palast hatte die Darstellung der “Sun” unmissverständlich dementiert: Prinz Harry habe ein Glas Champagner und eine Flasche Bier getrunken und niemanden eingeladen. Am Mittwoch schließlich veröffentlichte die “Sun” einen kompletten Widerruf ihrer ursprünglichen Behauptungen unter der Überschrift: “SORRY, HARRY”.

Kein Wort davon in den deutschen Medien. Nur auf Bild.de ist die Ente inzwischen gelöscht — womöglich aber nur, um Platz zu machen für die die nächste aufregende Geschichte aus dem Vereinigten Königreich, die man aus der “Sun” übernimmt.

Mit Dank an Tabloid Watch!

Dokusoaps, Treberhilfe, Blogger

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Du bist Dokusoap!”
(fernsehkritik.tv/blog)
Der Fernsehkritiker dokumentiert Anmeldeformulare und Rollenbeschreibungen der TV-Produktionsfirma Norddeich. So teilt die Firma ihre Schauspieler in der Kategorie “Charakter” in die vier Kategorien “Sympath”, “Unsympath”, “Opfer” und “konservativ” ein.

2. “Wohlfeiles über die ‘Treberhilfe'”
(ndr.de, Video, 7:07 Minuten)
Dass der Chef der “Treberhilfe” einen Maserati fährt, ist durch einen Bericht des “Tagesspiegels” schon länger bekannt. Breite Aufmerksamkeit fand die Geschichte aber erst, als sie von Nachrichtenagenturen aufgenommen wurde.

3. “Massenepidemie. Doppelpunkt.”
(weltwoche.ch, Kurt W. Zimmermann)
Kurt W. Zimmermann glaubt angesichts der Berichterstattung über die Schweinegrippe, dass sich heutige Journalisten vielfach nicht mehr als Beschreiber der Wirklichkeit sehen. “Sie sehen sich als Gestalter der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist für sie eine Knetmasse, die sich formen lässt. Die Realität ist ihr Plastilin. Das vereinigte Plastilin ergibt am Schluss eine publizistische Pandemie.”

4. “Deutsche Blogger besetzen die FAZ”
(carta.info, Wolfgang Michal)
Wolfgang Michal zum FAZ-Dossier “Deutsche Blogger”: “Die Tendenz der Story ist vom Anfangsmotiv vorgegeben: Willst du etwas niedermachen, vergrößere die Fallhöhe! Behaupte gleich zu Beginn, die Blogszene habe ursprünglich ein wahres Paradies schaffen wollen, sie habe hehre ‘webkommunistische’ Ziele gehabt. Dann wird die Realität – im Vergleich dazu – erst so richtig mies, kleinkariert und nichtig erscheinen.”

5. “was das blog alles kann”
(gig.antville.org, andreaffm)
Andrea Diener denkt, dass Bloggen “noch nie inhaltlich begriffen” wurde, “immer nur formal oder wirtschaftlich, und das ist der große Fehler, den alle machen.”

6. Interview mit Markus Beckedahl
(fr-online.de, Marin Majica)
Re:publica-Organisator Markus Beckedahl im Gespräch: “Blogs werden ernster genommen, der Medienwandel wird ernster genommen, weil man realisiert, dass da etwas passiert. Das war vor drei Jahren völlig anders. Da träumten noch alle davon, dass die Zeitungen 30 Jahre weiterleben werden.”