Archiv für April 20th, 2009

Der Canzler-Kandidat

Seit Barack Obama mit dem (von Bob dem Baumeister geklauten) Slogan “Yes we can!” die US-Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, sind diese drei Worte Allgemeingut geworden. Unzählige Trittbrettfahrer, Nachahmer und Mitläufer haben sich schon daran vergriffen und die Fälle, die ich in meinem extra zu diesem Zweck eingerichteten Blog “No You Can’t” sammle, sind sicher nur die Spitze des Eisbergs.

Yes, he can Kanzler!

Dass dieses Plakat dennoch ein Fall für BILDblog für alle ist, hat einen einfachen Grund: Es ist Teil eines großen Missverständnisses, das seit dem gestrigen Wahlkampfauftakt der SPD durch die Medien geistert.

Wie es dazu kam, erklären am besten die, die dafür verantwortlich sind — die Macher der NDR-Satiresendung “Extra 3”:

Liebe Investigativ-Experten von Spiegel online, das hier ist mitnichten, wie Ihr sie nennt, die “Kampagne für Frank-Walter Steinmeier”. Und wir haben auch noch nichts davon gehört, dass die SPD jetzt Plakate im Copyshop herstellen lässt. Nein, das sind waschechte Plakate unserer Extra 3 Aktion “SPD-TV” mit Tobias Schlegl. Das nächste Mal sagen wir Euch vorher Bescheid - versprochen.

“Spiegel Online” hatte ein Foto des Plakats nämlich zunächst mit den Worten untertitelt

Nicht nur mit dem Zitat “Yes, he can Kanzler!” erinnert die Kampagne für Frank-Walter Steinmeier an den erfolgreichen Wahlkampf von US-Präsident Barack Obama. Auch für die Kommunikationsstrategie haben sich die Parteistrategen einiges bei den amerikanischen Demokraten abgeschaut.

dies aber im Laufe des Vormittags korrigiert und mit einem Hinweis auf die Korrektur versehen.

Im “Extra 3”-Blog wird aber auch noch auf einen Artikel bei “RP Online” hingewiesen, der (bis vor wenigen Augenblicken) mit einem Foto des Fake-Plakats aufmachte …

Yes, he can Kanzler!

… und in dem es hieß:

Immerhin: Die jungen SPD-Mitglieder vor der Halle sind schon überzeugt. "Yes, he can Kanzler" steht auf deren Plakaten in Anspielung auf den US-Wahlkampf. Ein bisschen Obama hilft eben immer.

“Spiegel Online” und “RP Online” waren mit ihrer Annahme, dass es sich um offizielle SPD-Plakate handele, aber nicht alleine.

Der “Berliner Kurier” schrieb:

Flügelkämpfe - das war gestern. Bei der SPD im Berliner "Tempodrom" ist Obama-Zeit: Ganz wie der US-Präsident lässt sich auch der Spitzenkandidat, Frank-Walter Steinmeier, auf einer runden Bühne in der Hallenmitte umjubeln, die Ehefrau Elke Büdenbender brav an seiner Seite. "Yes, he can Kanzler"steht auf den SPD-Plakaten.

N24 erzählte in einem Beitrag:

“Yes, he can Kanzler.” Während draußen Unterstützer den Obama-Faktor beschwören, betreten drinnen FW Steinmeier und seine Frau das Podium.

Und die “Tagesschau” sagte zwar nichts zu den Plakaten, schnitt sie aber so in einen Beitrag hinein, dass man sie für offizielle SPD-Plakate halten musste.

dpa waren die Plakate sogar eine eigene Meldung wert, die wir gerne in vollem Umfang zitieren:

(Zitat)

“Yes, he can Kanzler.”

(“Ja, er kann Kanzler” – Aufschrift auf SPD-Plakaten zum Wahlkampfauftakt mit Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier am Sonntag in Berlin. Der Spruch ist eine Abwandlung des Wahlkampfmottos “Yes, we can” von US-Präsident Barack Obama.)

Dass man nicht auf die Satire-Aktion reinfallen musste, beweist übrigens die “Stuttgarter Zeitung”, die heute in ihrer gedruckten Ausgabe schreibt:

Die Bühne kreisrund in der Mitte, drum herum jubelnde Genossen, draußen ein paar Spaßvögel, die von Frank-Walter Steinmeier behaupten: “Yes, he can Kanzler.”

Mit Dank an Höpp.

Nachtrag, 18:10 Uhr: Die “Extra 3”-Macher weisen uns darauf hin, dass auch “Der Freitag” nicht auf die Satire hereingefallen ist. Der dortige Artikel erklärt außerdem ganz anschaulich, warum das hätte passieren können und warum es dann doch nicht passiert ist.

Plasberg, Focus, Killer

1. “Der große Korrektor”

(zeit.de, Carolin Emcke)

Die Zeit nimmt Frank Plasberg und seine Sendung “hart aber fair” unter die Lupe: “Hart aber fair jedenfalls als Antwort auf die Substanzlosigkeit des politischen Diskurses zu begreifen ist ungefähr so absurd, wie eine Quizsendung für die Antwort auf die Pisa-Studie zu halten.”

2. “HIV & Öffentlichkeit”

(faz.net, Nils Minkmar)

“Am Dienstagnachmittag wurde ich von seriösen Medien unter Berufung auf eine deutsche Behörde über die schwere Erkrankung und das Sexualverhalten einer lebenden, mir persönlich nicht bekannten Frau unterrichtet, und zwar gegen deren Willen.”

3. “Klaus Wowereit im O-Ton”

(30jahre.taz.de, Sebastian Heiser)

Der Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, redete am taz-Kongress über Journalismus: “Da gibt es ja so wunderbare Medien, die arbeiten immer mit der Methode: Entweder Du kooperierst, oder wir vernichten Dich. Und dann denken immer einige, wenn sie kooperieren, dann werden sie nicht vernichtet. Das ist mitnichten so der Fall.”

4. “FOCUS künftig ohne Vier-Mann-Zelt”

(blogmedien.de)

“Der ehemalige SPIEGEL-Herausforderer wurde in den vergangenen Jahren immer mehr verramscht – und immer seltener verkauft. Weil auch beim FOCUS die Anzeigenumsätze einbrechen, will Burda nicht mehr so viele Hefte verschenken und teure Abo-Prämien einsparen.”

5. “Killer”

(fooldc.wordpress.com)

Eine Anklage zum Wandel des Journalismus: “Der Leser wird im Netz zum ‘User’, als sei Content eine Droge. Die Produzenten strecken den Stoff, bis er kaum noch Substanz hat und ungenießbar wird. Sie bilden Kartelle und unterdrücken die Konkurrenz. Künftige Lesergenerationen werden entwöhnt: Sie wissen guten Journalismus nicht mehr zu schätzen, weil sie nie welchen kennenlernen.”

6. “Wir entschuldigen uns für diesen Fehler”

(nzz.ch, Stephan Russ-Mohl)

“In den USA sind viele Zeitungen bestrebt, Fehler in der Berichterstattung nachträglich zu korrigieren. Sie wollen damit auch ihre Glaubwürdigkeit stärken. Die europäischen Kollegen tun sich schwerer mit dieser Praxis.”

Twitter macht Journalisten dumm

“Zu schön, um wahr zu sein”, sagt der Volksmund.

“Zu schön, um nicht wahr zu sein”, sagt der Journalist — und verzichtet gerade bei den unwahrscheinlichen Geschichten gerne auf Skepsis und Recherche.

Diese Geschichte, die man u.a. bei “Focus Online” findet, ist angesichts des gegenwärtigen Hypes um Online-Angebote wie Facebook oder Twitter aus Sicht der Journalisten eine schöne Geschichte:

Studie: Unmoralisch durch Facebook und Twitter. Online-Netzwerke sind schlecht für die Moral. Vor allem junge Menschen sollen durch zu viel Kommunikation über Portale wie Twitter oder Facebook auf die Dauer Schaden nehmen, wie nun US-Gehirnforscher herausgefunden haben.

Vor allem junge Menschen sollen durch zu viel Kommunikation über Portale wie Twitter oder Facebook auf die Dauer Schaden nehmen, wie nun Gehirnforscher der University of Southern California herausgefunden haben. Um körperlichen Schmerz anderer zu erkennen, benötigt das menschliche Gehirn nur Sekundenbruchteile. Doch um soziale Gefühle wie Mitleid oder Bewunderung zu entwickeln, ist wesentlich mehr Zeit notwendig, wie das britische Portal “Mail Online” die Erkenntnisse der Wissenschaftler zitiert. Da das Gehirn von Jugendlichen noch nicht voll ausgebildet ist, könnte zu viel “Twittern” die Entwicklung beeinflussen. (…)

Die Kommunikation über das World Wide Web laufe zu schnell für den “moralischen Kompass” des Gehirns ab, so dass Jugendliche mit der Zeit dem Leid anderer gegenüber gleichgültig würden. Behaupten Wissenschaftler. Behauptet “Mail Online”. Behauptet “Focus Online”.

Nun ist “Mail Online” die Internet-Ausgabe der “Daily Mail”, einer der unseriösesten Zeitungen Großbritanniens, was “Medical Press”, den Gesundheitsdienst der Nachrichtenagentur Global Press nicht daran hinderte, ihre Meldung ungeprüft zu übernehmen und zu verbreiten — ebenso wie viele, viele, viele, viele, viele andere deutschsprachige und internationale Medien.

Der britische Arzt, Medienkritiker und “Guardian”-Kolumnist Ben Goldacre hingegen hatte die originelle Idee, die Meldung mittels etwas, das man früher “Recherche” nannte, zu überprüfen. Er besorgte sich die Studie, auf die sich die “Daily Mail” bezieht und stellte fest, dass sie zwar herausfand, dass das menschliche Gehirn länger braucht, um auf emotionalen Schmerz zu reagieren als auf körperlichen Schmerz — von Twitter, Facebook oder irgendwelchen anderen Internet-Angeboten darin aber keine Rede war.

Goldacre fragte sicherheitshalber bei einem der Autoren der Studie nach, und Professor Antonio Damasio antwortete ihm:

“Wir haben keine irgendwie geartete Verbindung zu Twitter hergestellt. (…) In unserer Untersuchung werden weder Twitter noch irgendein soziales Netzwerk erwähnt. Wir haben nicht über sie zu berichten. (…) Die Verbindung zu Twitter und anderen sozialen Netzwerken ergibt, soweit ich es überblicken kann, keinen Sinn.”

Und wie kommt dann der Online-Auftritt der vermeintlich seriösen Schweizer Zeitung “Tagesanzeiger” zu einem Zitat, in dem Mary Helen Immordino-Yang, eine der Autorinnen der Studie, Facebook und Twitter ausdrücklich erwähnt?

Ganz einfach: Der Autor hat die Wörter “Facebook” und “Twitter” und überhaupt den Zusammenhang zu Online-Angeboten offenbar nachträglich in ein wörtliches Zitat der Wissenschaftlerin aus der Pressemitteilung der Universität eingefügt:

Pressemitteilung tagesanzeiger.ch
“If things are happening too fast, you may not ever fully experience emotions about other people’s psychological states and that would have implications for your morality,” Immordino-Yang said. “Wenn rund um die Uhr Nachrichten über Twitter und Facebook einprasseln, kann man sich nicht voll auf die Gefühle anderer Menschen konzentrieren, und das wirkt sich negativ auf die Moral aus”, fasst die Forscherin Mary Helen Immordino-Yang von der Universität Süd-Kalifornien die Forschungsergebnisse zusammen.

Nachtrag, 21. April. “Focus Online” hat seinen Artikel um einen Nachtrag ergänzt und benutzt darin als originellen Euphemismus für “falsch” den Ausdruck “in die Kritik geraten”.

Beim Online-Angebot des “Tagesanzeiger” wurden die Wörter “über Twitter und Facebook” aus dem wörtlichen Zitat entfernt, der ganze andere Unsinn aber stehen gelassen. Auf E-Mail-Anfragen von BILDblog haben weder Autor Reto Knobel noch Redaktionsleiter Peter Wälty geantwortet.