Archiv für November 24th, 2005

Recherche optional

Wir kennen das von Paparazzi-Fotos: Wenn “Bild” nichts über ihre Entstehung weiß, betextet sie sie einfach im Stil einer freien Improvisation. Da liegt es nahe, den Blick auf einen begleitenden Bildtext oder die Recherche der Hintergründe grundsätzlich für Zeitverschwendung zu halten.

Und so erschienen gestern eine Reihe von Fotos in Bild.de und der gedruckten “Bild”-Zeitung, über die die Redaktion offenbar gesichert nur folgendes weiß: Da ist irgendwann irgendwo im Iran irgendwas Schlimmes mit einem kleinen Jungen passiert.

Es sind grausame Fotos, die zeigen, wie der Arm des Kindes, auf einer Decke liegend, von einem Auto überfahren wird. “Bild” schreibt:

Schreckliche Fotos aus Teheran zeigen die öffentliche Folter eines Jungen. Für ein Stück trockenes Brot muß er sich quälen lassen.

Die Berichte widersprechen sich, ob der Kleine es gestohlen hat, bestraft wird — oder gerade mit dieser bizarren Schau “verdienen” muß.

Nun ja, wenn Journalismus mehr sein soll als Voyeurismus und die Erregung über schreckliche Fotos, wäre es schon schön zu wissen, ob es nun das Eine oder das Andere ist. Und wenn den Leuten von “Bild” etwas an der Wahrheit gelegen hätte, hätten sie es sogar herausbekommen. Die “Berichte” wonach der Junge bestraft wird, stammen nämlich aus höchst zweifelhaften Quellen: Aus amerikanischen und deutschsprachigen Blogs, die sich darauf spezialisiert haben, alles zu sammeln, was den Islam als gefährliche, zu bekämpfende Religion erscheinen lässt. Aus einem Blog namens Bareknucklepolitics scheint die Geschichte von der Bestrafung zu stammen: “8 Year Old Iranian Boy Caught Stealing Bread?” heißt es dort im Forum. Andere Blogs übernahmen die Geschichte — und korrigierten sie später. Tatsächlich handelt es sich um eine Art grausames Zirkusstück auf der Straße: Ein Mann hat dem Jungen etwas Geld dafür gegeben und lässt sich für das Schauspiel von den Passanten bezahlen.

Das hätte “Bild” auch aus dem Begleittext erfahren können, der auf der Seite steht, von der die Fotos stammen. In ihm wird erklärt, dass der Mann mit betrügerischen Methoden und den Schmerzen des Jungen versucht, Geld zu machen. Aber vermutlich war es der “Bild”-Zeitung mit ihren rund 1000 Mitarbeitern zuviel Mühe, den persischen Text übersetzen zu lassen. Sicher, die hätte man sich machen müssen, wenn man ernsthaft anprangern wollte, wie Kinder im Iran missbraucht werden. Und eigentlich hätte die Zeit für die Recherche locker gereicht, denn die Aufnahmen sind, was “Bild” natürlich nicht erwähnt, über drei Wochen alt. Aber man muss es ja nicht übertreiben mit dem Journalismus, wenn man doch einfach nur ein paar krasse Fotos zeigen will.

Vielen Dank an Don A. und ganz besonders an Reza A., Mahin F. sowie Pascal und Farhad E. für das Übersetzen des Textes aus dem Persischen!

Ehrgeiz, Kameragier und Nervosität

In der aktuellen Ausgabe geht Karl-August Almstadt aus der Chefredaktion der “Auto Bild” auf den vorgetäuschten Mercedes-Test und den Rauswurf ihres Chefreporters ein. Almstadt macht Stern-TV Vorwürfe und spricht vom “Fokus im typischen Boulevard-TV auf ein kleines Brett am Rande der Bahn, das auch einige der Crash-Verantwortlichen ebenso wie der AUTO BILD-Redakteur temporär im Kopf hatten”. Über die Rolle des eigenen Chefreporters schreibt er:

Wir wissen es nicht und können auch nicht nachvollziehen, warum sich unser Redakteur auf die optische Bremskrücke in Form eines simplen Bretts am Rande der Bahn eingelassen hat. War es der James Dean in ihm, der den Overthrill suchte? Der unbedingt vor der Kamera den perfekten Fahrer mimen wollte? Fügten sich Ehrgeiz, Kameragier und Nervosität zu einem unheilvollen Ego-Antrieb? Die Gründe bleiben nebulös, der Hintergrund ist klar: Specht ist integer, vermutlich überdreht (…).

(…) unser Redakteur ließ sich als lebender Dummy mißbrauchen. Viel schlimmer: Kein Wort an die Chefredaktion, daß diese Hallen-Szene nur nachgestellt war. Stattdessen: “Ich hab’s verpatzt, den Bremspunkt nicht getroffen.”

(…) Warum uns der eigene Mitarbeiter nicht sofort, sondern erst auf beharrliche Nachfrage, die ganze Wahrheit des Hallencrashs vom 11. November erzählt hat, kann der arg durchgeschüttelte Kollege nicht wirklich schlüssig erklären. Die Folgen: Unser Bericht über das S-Klasse-Radar mußte neu geschrieben werden, von unserem Kollegen Michael Specht haben wir uns getrennt.

Er steht allerdings noch im Impressum.

Danke an Mike D.!

“Bild”-Dialektik

Rudi Carrell hat Lungenkrebs.

Am 16. November 2005 beschrieb “Bild” Carrells Reaktion so:

Er schläft viel, nimmt fast keine öffentlichen Termine mehr wahr. Nur das Rauchen läßt der Kettenraucher (täglich zwei Packungen Zigaretten) nicht sein.

Am 24. November 2005 beschrieb “Bild” Carrells Reaktion so:

Rudi hörte nach 52 Jahren sofort mit dem Rauchen auf, “ohne damit irgendein Problem zu haben”, wie er selbst sagt.

Danke an Stephan D. und Thomas K. für die Hinweise!