Es gehört eine gewisse Kunstfertigkeit dazu, über den Bericht des Bundesinnenministeriums über die Zunahme politisch motivierter Straftaten zu berichten, ohne rechte Gewalt zu erwähnen — aber Bild.de hat es geschafft. Die schlechten Zahlen, die Wolfgang Schäuble gestern vorstellte, rückt das Online-Angebot der “Bild”-Zeitung vollständig in den Zusammenhang mit der Serie von (womöglich linksextrem motivierten) Brandstiftungen in Berlin und der bevorstehenden Demonstrationen zum 1. Mai, von denen Bild.de jetzt schon weiß, dass sie den “Höhepunkt der Gewalt” darstellen werden.
Liest man den Bericht von Bild.de, scheint politisch motivierte Gewalt in Deutschland vor allem ein Problem mit linken Chaoten und Kriminellen zu sein. Bild.de erwähnt nicht, dass sowohl rechte Kriminalität insgesamt, als auch rechte Gewalttaten im vergangenen Jahr am stärksten zugenommen haben. Und Bild.de erwähnt nicht, dass die Polizei dreimal so viele rechte wie linke Straftaten zählte.
Warum Bild.de sich ausschließlich auf die Gewalt von links konzentriert, darüber darf man spekulieren. Tatsache ist, dass “Bild” nicht zum ersten Mal ein Problem damit hat, die Zunahme rechter Gewalt zur Kenntnis zu nehmen. 2006 behauptete das Blatt exklusiv und vorab, die Zahl der Gewalttaten mit einem rechtsextremen bzw. fremdenfeindlichen Hintergrund sei im Vorjahr “offenbar zurückgegangen”. Tatsächlich hatte sie deutlich zugenommen.
“Zu schön, um nicht wahr zu sein”, sagt der Journalist — und verzichtet gerade bei den unwahrscheinlichen Geschichten gerne auf Skepsis und Recherche.
Diese Geschichte, die man u.a. bei “Focus Online” findet, ist angesichts des gegenwärtigen Hypes um Online-Angebote wie Facebook oder Twitter aus Sicht der Journalisten eine schöne Geschichte:
Vor allem junge Menschen sollen durch zu viel Kommunikation über Portale wie Twitter oder Facebook auf die Dauer Schaden nehmen, wie nun Gehirnforscher der University of Southern California herausgefunden haben. Um körperlichen Schmerz anderer zu erkennen, benötigt das menschliche Gehirn nur Sekundenbruchteile. Doch um soziale Gefühle wie Mitleid oder Bewunderung zu entwickeln, ist wesentlich mehr Zeit notwendig, wie das britische Portal “Mail Online” die Erkenntnisse der Wissenschaftler zitiert. Da das Gehirn von Jugendlichen noch nicht voll ausgebildet ist, könnte zu viel “Twittern” die Entwicklung beeinflussen. (…)
Die Kommunikation über das World Wide Web laufe zu schnell für den “moralischen Kompass” des Gehirns ab, so dass Jugendliche mit der Zeit dem Leid anderer gegenüber gleichgültig würden. Behaupten Wissenschaftler. Behauptet “Mail Online”. Behauptet “Focus Online”.
Der britische Arzt, Medienkritiker und “Guardian”-Kolumnist Ben Goldacre hingegen hatte die originelle Idee, die Meldung mittels etwas, das man früher “Recherche” nannte, zu überprüfen. Er besorgte sich die Studie, auf die sich die “Daily Mail” bezieht und stellte fest, dass sie zwar herausfand, dass das menschliche Gehirn länger braucht, um auf emotionalen Schmerz zu reagieren als auf körperlichen Schmerz — von Twitter, Facebook oder irgendwelchen anderen Internet-Angeboten darin aber keine Rede war.
Goldacre fragte sicherheitshalber bei einem der Autoren der Studie nach, und Professor Antonio Damasio antwortete ihm:
“Wir haben keine irgendwie geartete Verbindung zu Twitter hergestellt. (…) In unserer Untersuchung werden weder Twitter noch irgendein soziales Netzwerk erwähnt. Wir haben nicht über sie zu berichten. (…) Die Verbindung zu Twitter und anderen sozialen Netzwerken ergibt, soweit ich es überblicken kann, keinen Sinn.”
Und wie kommt dann der Online-Auftritt der vermeintlich seriösen Schweizer Zeitung “Tagesanzeiger” zu einem Zitat, in dem Mary Helen Immordino-Yang, eine der Autorinnen der Studie, Facebook und Twitter ausdrücklich erwähnt?
Ganz einfach: Der Autor hat die Wörter “Facebook” und “Twitter” und überhaupt den Zusammenhang zu Online-Angeboten offenbar nachträglich in ein wörtliches Zitat der Wissenschaftlerin aus der Pressemitteilung der Universität eingefügt:
“If things are happening too fast, you may not ever fully experience emotions about other people’s psychological states and that would have implications for your morality,” Immordino-Yang said.
“Wenn rund um die Uhr Nachrichten über Twitter und Facebook einprasseln, kann man sich nicht voll auf die Gefühle anderer Menschen konzentrieren, und das wirkt sich negativ auf die Moral aus”, fasst die Forscherin Mary Helen Immordino-Yang von der Universität Süd-Kalifornien die Forschungsergebnisse zusammen.
Nachtrag, 21. April. “Focus Online” hat seinen Artikel um einen Nachtrag ergänzt und benutzt darin als originellen Euphemismus für “falsch” den Ausdruck “in die Kritik geraten”.
Beim Online-Angebot des “Tagesanzeiger” wurden die Wörter “über Twitter und Facebook” aus dem wörtlichen Zitat entfernt, der ganze andere Unsinn aber stehen gelassen. Auf E-Mail-Anfragen von BILDblog haben weder Autor Reto Knobel noch Redaktionsleiter Peter Wälty geantwortet.
Die “Bild”-Zeitung hat schon Recht: Man kann es heuchlerisch finden, dass Heribert Prantl, ein Leitender Redakteur der “Süddeutschen Zeitung”, andere Medien dafür kritisiert, dass sie detailliert und mit Namensnennung über den Fall einer Sängerin berichtet haben, der vorgeworfen wird, im Wissen um die eigene HIV-Infektion ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Prantl behauptete gestern:
“Die Süddeutsche Zeitung hat über die Verhaftung und den Tatvorwurf deshalb sehr zurückhaltend berichtet; sie wird den Namen der Sängerin auch weiterhin nicht nennen — obwohl dieser nun landauf, landab genannt wird.”
“Auch weiterhin”? Die “Süddeutsche Zeitung” hat den Namen der Sängerin am Mittwoch in einem Teil ihrer Auflage genannt. Bundesweit hat sie den Namen der Gruppe genannt, zu der die Sängerin gehört, und so alle vier Mitglieder unter den Verdacht gestellt, gemeint zu sein. In ihrem Online-Archiv hat sie sämtliche “SZ”-Artikel zum Thema, einschließlich Prantls, auch mit dem Nachnamen der Sängerin indiziert. Online ist Prantls Artikel mit einem Foto der Gruppe illustriert. Und auf sueddeutsche.de sind Meldungen über den Fall erschienen, die unter Namensnennung der Verdächtigen detailliert über die Vorwürfe berichteten.
Vor diesem Hintergrund ist es sehr berechtigt, wie “Bild” zu fragen, ob es “Dummheit oder Heuchelei” sei, wenn Prantl die eigene Vorbildhaftigkeit gegenüber den anderen herausstelle.
Allerdings ist “Bild” dann die übliche Rechercheschwäche in die Quere gekommen. “Bild” erwähnt einen ausführlichen Artikel, der am Dienstagabend auf sueddeutsche.de erschien und unter Namensnennung über die Vorwürfe gegen die Sängerin berichtete, und schreibt:
Wer auf der SZ-Internetseite nach [dem Namen der Band] sucht, findet nur noch Prantl und einen Artikel vom Dezember 2008. Soll nach Prantls Predigt etwa der Eindruck erweckt werden, der gelöschte Artikel sei nie geschrieben worden?
Die “Süddeutsche” will sich dazu nicht äußern.
Wie zum Beweis zeigt “Bild” sogar einen Ausdruck des Artikels, auf dem jemand handschriftlich notiert hat: “MITTLERWEILE AUS DEM INTERNET GELÖSCHT !!”
Nur: Die “Süddeutsche Zeitung” hat den Artikel nicht “aus dem Internet” gelöscht, nicht einmal aus ihrem eigenen Online-Auftritt. “Bild” ist nur zu doof, ihn wiederzufinden. Er ist genau dort, wo er immer war und auch auf dem Screenshot von “Bild” zu sehen ist: im “Newsticker”, wo die Agenturmeldungen auf sueddeutsche.de einlaufen. Und man findet ihn, indem man dort zum Beispiel den Namen der Band eingibt.
Nachtrag, 20. April.Jetzt ist der von “Bild” gezeigte und angeblich gelöschte Artikel tatsächlich auf sueddeutsche.de nicht mehr zu finden — wie alle Meldungen im Newsticker dort, die älter als fünf Tage sind.
Als die Staatsanwaltschaft vor dreieinhalb Jahren am Ende des Vergewaltigungs-Prozesses gegen den ehemaligen Fernsehmoderator Freispruch beantragte, kommentierte “Bild”, dass dieser Fall nie vor Gericht hätte landen dürfen. Der Moderator sei Opfer einer Justiz geworden, “die diesen Prozeß zuließ und vier Wochen lang ein schmutziges Gerichtsspektakel inszenierte”.
Dass Türck auch Opfer der Medien wurde und insbesondere einer großen deutschen Boulevardzeitung, kam “Bild” nicht in den Sinn. Über Wochen hatte die Zeitung genüsslich intimste Details ausgebreitet, ihn verurteilt und u.a. getitelt: “So hat Türck mich vergewaltigt”. In der “Bild am Sonntag” hatte ein Redakteur namens Stefan Hauck das Leben Türcks ein “erbärmliches Leben” genannt und erklärt, man müsse “kein Mitleid” mit ihm haben. Die Überschrift: “Hier steht Andreas Türck ein letztes Mal im Licht”.
Noch nachdem Türck freigesprochen wurde, behauptete “Bild”, es handele sich nicht um einen “Freispruch erster Klasse”, weil die Tat bloß nicht mit Sicherheit hätte bewiesen werden können, zählte auf, wie viel “Schmutz” an ihm hängen bleibe und fragte süffisant: “Der schöne Andreas ist 1,93 Meter groß, sportlich, schlank, lächelt gern — aber für was soll er jetzt sein Gesicht ins Fernsehen halten?” Später landete Türck wegen seines Prozesses in einer “Bild”-Kolumne mit der Überschrift “Peinliche Promis”.
Der Ruf eines unschuldigen Mannes war ruiniert. Daran, dass Andreas Türck in diesem Sinne zum Opfer wurde, hatte sicher die Justiz ihren Anteil. Aber am wirkungsvollsten war die “Bild”-Zeitung mit ihren riesigen, vernichtenden Schlagzeilen.
Die Zeitung hat, nicht nur in diesem Fall, jede Verantwortung für die Folgen ihrer Berichterstattung abgelehnt. Schon deshalb hat sie aus dem Fall Türck nichts gelernt. Es gab da für “Bild” nichts zu lernen.
Wie das Verfahren gegen die Sängerin ausgehen wird, die zur Zeit in Untersuchungshaft sitzt, weil ihr vorgeworfen wird, im Wissen um ihre HIV-Infektion ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, ist offen. Natürlich kann es sein, dass es — anders als der Prozess gegen Andreas Türck — mit einem Schuldspruch endet und die Frau für viele Jahre ins Gefängnis muss. Aber bislang ist gegen sie noch nicht einmal Anklage erhoben worden, und ihr Ruf ist schon vollends ruiniert.
Spätestens im Nachhinein wird man fragen müssen, in welchem Maß die Sängerin selbst oder die Justiz dafür verantwortlich ist. In welchem Maß “Bild” dafür verantwortlich ist, wird man “Bild” nicht fragen müssen. Schlimmstenfalls kann sich das Blatt ja darüber empören, dass die Justiz so ein “schmutziges Gerichtsspektakel” zuließ und eine Frau zum Opfer machte.
Es hat etwas von Trotz, wenn die “Bild”-Zeitung heute den Fall der Sängerin, der vorgeworfen wird, vor mehreren Jahren einen Mann mit HIV infiziert zu haben, noch einmal auf die Titelseite nimmt. Denn nichts von dem, was dort steht, ist neu.
Aber die Sängerin hat beim Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung erwirkt, die es “Bild” verbietet, weiter über den Fall zu berichten, und “Bild” hat sich entschlossen, diese einstweilige Verfügung demonstrativ zu ignorieren.
Die Zeitung hat kein Recht dazu — trotz des Widerspruchs, den sie gegen die Entscheidung eingelegt hat. Wenn das Verbot der Berichterstattung auf Dauer aufrechterhalten bleibt, muss “Bild” für diesen hartnäckigen Rechtsverstoß erhebliche Summen zahlen. Er kann auch dazu führen, dass der Sängerin ein höheres Schmerzensgeld von “Bild” zusteht.
Sollte eine spätere Instanz allerdings entscheiden, dass “Bild” über den Fall so berichten durfte, obwohl er die Intimsphäre der Sängerin betrifft, bliebe dieser Verstoß gegen die einstweilige Verfügung folgenlos. “Bild” erhöht also das mit seiner Berichterstattung verbundene eigene Risiko.
Die Entscheidung des Landgerichts nennt “Bild” heute einen “Irrsinn” und einen “Justiz-Skandal”. Die erfolgreiche Sängerin sei “Vorbild für Millionen deutsche Jugendliche”: “Wenn ausgerechnet solch ein Star straffällig wird, muss man darüber berichten dürfen — und das wird BILD auch weiter tun!” (Ob die Sängerin tatsächlich straffällig geworden ist, ist allerdings noch offen. “Bild” schafft es aber naturgemäß nicht, auf eine Vorverurteilung zu verzichten.)
“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann vergleicht den Fall mit dem Skiunfall des thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus und den “Steuerlügen” des ehemaligen Post-Chefs Klaus Zumwinkel und kommentiert:
Wenn schwere Straftaten Privatsphäre sind, kann die Presse über nichts mehr berichten. Dann kann man die Pressefreiheit auch gleich abschaffen.
Auch die meisten anderen Medien berichten weiterhin über den Fall. Die Nachrichtenagentur dpa verbreitete in mehreren Meldungen, sie teile “nicht die Auffassung des Anwalts der Sängerin, wonach diese keine absolute Person der Zeitgeschichte sei und es sich auch nicht um eine spektakuläre Straftat handele.” Der Anwalt hatte in einer Pressemitteilung die Meinung vertreten, die Berichterstattung sei rechtswidrig, so lange keine Anklage erhoben wurde: “Das gilt umso mehr, als die Sachverhalte, die jetzt zum Gegenstand des Vorwurfes gemacht wurden, mehrere Jahre zurück liegen und die Intimsphäre der Mandantin betreffen.”
Der “Kölner Stadtanzeiger” und der “Express” haben gestern [Nachtrag: fast] alle Berichte über den Fall aus ihren Online-Angeboten entfernt.
Das gleiche tat die “Welt”. Während sie nur noch berichtet, dass sie nicht mehr berichten darf, finden sich auf den Internet-Seiten ihres Schwesterblatts “Berliner Morgenpost” nach wie vor alte und neue Berichte über die Vorwürfe gegen die Sängerin. Das unterschiedliche Vorgehen hat einen ebenso einfachen wie bizarren Hintergrund: Die einstweilige Verfügung der Sängerin richtet sich gegen “Bild” und die Axel Springer AG. “Welt” und “Berliner Morgenpost” werden zwar von einer gemeinsamen Redaktion produziert. Aber die “Welt” wird von der Axel Springer AG verlegt; die “Morgenpost” dagegen erscheint in der Ullstein GmbH, einer Tochter des Unternehmens — die somit nach Ansicht der Verlagsjuristen von der Verfügung nicht unmittelbar betroffen ist.
Eine bekannte Pop-Sängerin ist am Wochenende verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, Sexualpartner beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit HIV infiziert zu haben.
Man muss, um die Gefahr zu erkennen, die mit der Verhaftung und der Berichterstattung über den Fall verbunden ist, nur das Interview lesen, das “Bild” mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Winfried Hassemer geführt hat:
Welche Strafe droht, wenn ein HIV-Infizierter einen anderen Menschen ansteckt?
Sechs Monate bis zehn Jahre Haft (…).
(…) Was, wenn der Kranke selbst noch nichts von seiner Infektion wusste?
Dann ist es weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit — und wird nicht bestraft.
Es scheint sich also zu lohnen, keinen Test machen zu lassen.
Die Schweizer Organisation der Menschen mit HIV und Aids, LHIVE, warnt allgemein:
Die Strafbarkeit der HIV-Übertragung und damit die Kriminalisierung von Menschen mit HIV und AIDS ist sowohl unwirksam wie auch gefährlich.
Denn wie [das UNO-Programm] UNAIDS festhält, existieren keine Daten, die beweisen, dass das Strafgesetz die HIV-Übertragung verhindert. Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung kann zudem dazu führen, dass Menschen es vorziehen, aus Angst vor Repressionen ihren HIV-Status zu ignorieren.
Tatsächlich warnt UNAIDS ausdrücklich davor, im Zusammenhang mit der Übertragung von HIV übermäßig auf das Strafrecht zu setzen.
Viele der Schlagzeilen von heute sind gleich doppelt perfide. Zum einen erwecken sie den Eindruck, Safer Sex sei nur etwas für HIV-Positive und nicht für alle. “Bild” lässt ausführlich einen Mann zu Wort kommen, der angeblich Sex mit der Sängerin hatte und erklärte, warum beide auf Kondome verzichtet hätten:
“Ich dachte mir nichts dabei, hatte selbst gerade einen Aids-Test gemacht, der negativ war. Ich fühlte mich sicher. Später fragte ich […]: ‘Ist mit dir gesundheitlich alles in Ordnung?’ Sie antwortete: ‘Ja, klar.’ Ich habe es ihr geglaubt.”
Es ist kaum zu glauben, dass man so eine Banalität nach Jahrzehnten der HIV-Aufklärung immer noch hinschreiben muss: Zum einvernehmlichen ungeschützten Geschlechtsverkehr gehören immer zwei. Der Kölner “Express” überschreibt einen Artikel über Fälle, in denen HIV-infizierte Menschen verurteilt wurden, weil sie andere ansteckten:
Wenn Ahnungslose infiziert werden
Mit “ahnungslos” meint das Blatt Menschen, die nicht wussten, dass ihr Sexualpartner HIV-positiv ist. Stellt sich nur die Frage, ob sie auch “ahnungslos” waren, was HIV angeht und die Möglichkeit, eine Infektion zu vermeiden.
Wie verantwortungslos sich die Sängerin auch immer verhalten haben mag (oder nicht): Ihre Partner hatten die Möglichkeit, sich relativ zuverlässig vor einer Infektion zu schützen. Es ist beim Geschlechtsverkehr nicht wie im Straßenverkehr, wo man noch so vorsichtig fahren und trotzdem nicht verhindern kann, einem Raser zum Opfer zu fallen.
Und das ist die zweite Perfidie an vielen Schlagzeilen von heute: Dass sie den Eindruck erwecken, die Männer, die sich mit HIV infizierten, seien wehrlose Opfer einer skrupellosen Frau. “Bild” fragt sensationslüstern, als handele es sich um eine Serienkillerin:
Und schlagzeilt auf der Titelseite:
Die Logik ist, vorgegeben durch das erstaunliche Vorgehen der Staatsanwaltschaft und begierig verbreitet durch Medien wie “Bild”, eindeutig: Man muss sie wegsperren, damit sie nicht noch mehr Opfer fordert.
Damit ist diese Geschichte längst keine Geschichte mehr über eine prominente Sängerin, sondern eine über den Umgang mit HIV-Positiven in unserer Gesellschaft. Und es ist ein erstaunlich kleiner Schritt dazu, wenn man sie schon nicht alle wegsperren kann, sie vielleicht doch tätowieren zu lassen, damit man weiß, mit wem man beim Sex lästigerweise ein Kondom benutzen muss.
Nachtrag, 17:15 Uhr. Die Sängerin hat nach Angaben ihres Anwaltes eine einstweilige Verfügung gegen die “Bild”-Zeitung erwirkt. Das Landgericht Berlin habe dem Blatt untersagt, weiter über den Fall zu berichten, weil der Schutz der Privatsphäre der Frau das öffentliche Informationsinteresse überwiege.
Wir haben ihren Namen nachträglich unkenntlich gemacht.
Nachtrag, 18:30 Uhr. Die “Bild”-Zeitung will gegen die einstweilige Verfügung Widerspruch einlegen. Chefredakteur Kai Diekmann erklärte, angesichts der Vorbildfunktion der Sängerin und der Schwere der strafrechtlichen Vorwürfe gegen sie sei “das öffentliche Interesse an der Berichterstattung nicht im Ansatz zu bestreiten”: “Ein Verbot, über die Verhaftung einer derart öffentlichen Person zu informieren, ist deshalb ein schwerer Angriff auf die Pressefreiheit”, sagte Diekmann.
Wenn er schlau war, der Kölner “Express”, hat er Lukas Podolski einfach selbst angezeigt. Das kostet nichts, lässt sich anonym machen, ist folgenlos — bringt aber richtig gut Publicity.
Podolski hatte bekanntlich beim Spiel der Fußball-Nationalmannschaft Michael Ballack geohrfeigt. Irgendjemand hat deshalb Strafanzeige wegen Körperverletzung erstattet. Und der Journalist Volker Roters berichtete ganz aufgeregt, exklusiv und fast wortgleich gestern im Kölner “Express” und in der Berliner “B.Z.” darüber.
Die Sache liest sich dramatisch:
Eine Ohrfeige gilt laut Gesetz auch dann als vollendete einfache Körperverletzung, wenn das Opfer keine Schäden davonträgt und sich der Täter später entschuldigt. (…)
Die Tat — also die Ohrfeige — wurde im Ausland begangen. Dann ist die Staatsanwaltschaften am Wohnort des Opfers befugt dazu, Ermittlungen einzuleiten. Die einfache Körperverletzung ist mit Geldstrafe oder im schlimmsten Fall mit Haft bedroht. Lukas Podolski ist nicht vorbestraft.
Ein kleines Detail über den Tatbestand der Körperverletzung ließ er bei all dem juristischen Wortgeklingel weg. In den Worten des Düsseldorfer Strafverteidigers Udo Vetter:
Körperverletzung wird lediglich auf Antrag verfolgt. Diesen Antrag kann nur der Verletzte stellen. Stellt er ihn nicht, wird die Staatsanwaltschaft nicht tätig. Es sei denn, sie bejaht ein besonderes öffentliches Interesse. Nach den bisher bekannten Umständen ist aber kaum damit zu rechnen, dass Michael Ballack einen Strafantrag stellt. Und noch weniger, dass irgendein Staatsanwalt sich zur Lachnummer machen möchte.
Wenn man das weiß, ist die Meldung von der Strafanzeige gegen Poldi natürlich keine Meldung. Aber das wäre doch schade.
Und so griffen die Nachrichtenagenturen dpa und sid die Sache auf — und deshalb steht die Geschichte vom “Nachspiel” und dem “Ärger” für Podolski heute u.a. in der “Welt”, in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, in der “Süddeutschen Zeitung”, in der “Frankfurter Rundschau”, bei “Spiegel Online” und in “Bild”.
Es ist aber auch zu interessant, was mit so einer Anzeige passiert. Von Köln ist sie gerade auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft München II, die für das Umland zuständig ist, in dem Podolski lebt. Dort ist sie aber noch nicht angekommen!
Die “Süddeutsche Zeitung” erklärt:
“Fristen von bis zu einer Woche sind bei einer Weiterleitung aber durchaus normal”, sagte der Münchner Leitende Oberstaatsanwalt Rüdiger Hödl der SZ. “Wir bearbeiten ja hier 45 000 Fälle, das dauert alles seine Zeit.”
Da die Strafanzeige aus dem Kölner Justizpalast per Post nach München verschickt wurde, kann Anton Winkler, der dortige Sprecher der Staatsanwaltschaft, noch keinen Eingang bestätigen.
Ob sich schon Teams von N24 und “RTL aktuell” bereithalten, um in Breaking News live von der Ankunft des Dokuments in der Poststelle in München zu berichten, ist nicht bekannt.
Anscheinend halten in Deutschland plötzlich ganz viele Eltern ihre Kinder für hochbegabt. “Der Spiegel” mokiert sich darüber in seiner aktuellen Ausgabe. Eine “Hochbegabten-Hysterie” sei ausgebrochen, zitiert das Nachrichtenmagazin einen Schulpsychologen. Dabei gebe es keinen Beweis, dass die Kinder in Deutschland tatsächlich mit einem Mal so viel intelligenter geworden seien:
Das ist — uns fällt in diesem Kontext leider kein treffenderes Wort ein — ein etwas dummer Satz. Der Anteil der Hochbegabten mit einem Intelligenzquotient von über 130 liegt immer konstant bei etwa zwei Prozent. So ist er nämlich definiert.
Der IQ ist keine absolute, sondern eine relative Größe. Er gibt an, wie intelligent eine Person im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist — man spricht deshalb auch vom “Abweichungs-Intelligenzquotienten”. Ein IQ von 100 entspricht nicht irgendeiner bestimmten Menge von Intelligenz, sondern der jeweiligen durchschnittlichen Intelligenz. Die Skala ist so definiert, dass 50 Prozent der Bevölkerung einen IQ von mindestens 100 haben, 16 Prozent einen IQ von mindestens 115 und 2,2 Prozent einen IQ von 130 oder mehr.
Einen “Evolutionssprung” könnte man also am IQ nicht messen — und an der Zahl der über den IQ definierten “Hochbegabten” auch nicht. Das sind, per definition, immer gut zwei Prozent.
Klingt komisch, ist aber so. Und könnte man eigentlich wissen, wenn man einen großen Artikel über Hochbegabte schreibt.
Heute demonstriert uns Bild.de an einem anschaulichen Beispiel, was diese komischen Medienethiker eigentlich mit dem Begriff “Vorverurteilung” meinen:
(Es geht um den Getränkelieferanten des türkischen Hotels, in dem Schüler aus Lübeck gepanschten Wodka tranken, was für drei von ihnen tödliche Folgen hatte.)
Bitte beachten Sie neben dem Urteil in der Überschrift und der im Original unverpixelten Abbildung der Verdächtigen auch den Artikel selbst, in dem es heißt:
Frank-Eckard Brand, Anwalt der Familie des verstorbenen Rafael N. (21), bezog sich zunächst auf eine türkische Anwältin, als er die Verhaftung des Getränkelieferanten veröffentlichte. Am Abend sagte er jedoch, es sei noch nicht klar, ob es sich bei dem Mann um den gesuchten Getränkelieferanten handele.
Inzwischen hat Bild.de der Überschrift immerhin ein halbherziges “?” spendiert.
Mit dieser Schlagzeile brachte die “Bild am Sonntag” am vergangenen Wochenende einen vier Monaten alten Entwurf der Europäischen Kommission in den Blickpunkt der Öffentlichkeit:
Nach dem Vorschlag der Kommission sollen Asylbewerber in Europa prinzipiell die gleichen Leistungen erhalten wie einheimische Sozialhilfeempfänger. Darüber kann man politisch natürlich streiten. Die Art, wie diese Diskussion sich gerade entwickelt, ist aber wesentlich von den Verkürzungen und Verdrehungen geprägt, mit denen die “Bild am Sonntag” den Entwurf gemeinsam mit konservativen Politikern skandalisiert hat.
Die “Bild am Sonntag” schrieb über den Entwurf:
Der Kontrast, den die Zeitung zwischen “Bislang” (Sachleistungen) und “Künftig” (viel Geld) aufmacht, ist grob irreführend. Denn der Entwurf der EU-Kommission betont ausdrücklich, dass die Unterstützung weiterhin auch “in Form von Sachleistungen, Geldleistungen oder Gutscheinen” gewährt werden kann. Auch die Unterbringung zum Beispiel in Unterkünften für Asylbewerber gehört dazu.
Dank der Nachrichtenagentur dpa, die die “BamS”-Meldung am Sonntagvormittag ungeprüft übernahm und weiterverbreitete, fand der falsche Gegensatz mit den Sachleistungen seinen Weg in viele Medien.
Die “Bild am Sonntag” zitierte aus dem Entwurf:
Vielleicht interessiert Sie, was anstelle der “(…)” steht:
…, auf den sich die Asylbewerbern im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen belaufen, …
Mag natürlich sein, dass die drei “Bild am Sonntag”-Autoren diesen Nebensatz wegen des grauenhaften Beamtendeutsches weggelassen haben (Lesehilfe: das “die” bezieht sich auf “Leistungen”). Andererseits hätte die Formulierung von den “materiellen Leistungen” dem unbefangenen Leser vielleicht eine Ahnung davon gegeben, dass hier keineswegs nur die Rede von Barzahlungen ist.
Dass sich der Satz auch in vielen anderen Zeitungen nur gekürzt wiederfand, liegt ebenfalls an dpa. Die Agentur zitierte noch am Sonntagnachmittag den Text lieber aus der “BamS” (“Im Kommissions-Entwurf heißt es laut Zeitung”) anstatt einfach im Internetangebot der EU-Kommission das Orignal nachzuschlagen und sich — wie die Konkurrenz von AP — ein eigenes Bild zu machen.
Die “Bild am Sonntag” erwähnte übrigens auch nicht, wie hoch der heutige Anspruch von Asylbewerbern auf Leistungen ist, die den 351 Euro von Arbeitslosengeld-II-Empfängern (“Hartz IV”) entsprechen: 224,97 Euro. Der Betrag ist seit 1993 unverändert, wurde also seit 15 Jahren nicht der Inflation angepasst.
Stattdessen zitierte das Blatt den CSU-Politiker Weber mit dem Satz: “Es ist nicht akzeptabel, dass ein Asylbewerber die gleichen Leistungen erhält, wie jemand der jahrzehntelang Steuern und Sozialabgaben bezahlt hat.” Ein Hinweis, dass diese Leistungen auch ein deutscher Staatsangehöriger erhält, der in seinem Leben keinen einzigen Cent Steuern und Sozialabgaben bezahlt hat, erschien den “BamS”-Leuten wohl nicht opportun.