Wir müssen uns korrigieren. Ursprünglich hatten wir an dieser Stelle behauptet, Bild.de-Autorin Karolina Pajdak habe, anders als sie in einem Bild.de-Artikel schreibt, nicht mit der Wissenschaftlerin Sarah Mesnick gesprochen. Das hatte uns Mesnick auf Anfrage mitgeteilt.
Uns war aber nicht klar, dass Mesnick das in einem sehr wörtlichen Sinne meinte. Sie hat zwar nicht mit Pajdak und Bild.de gesprochen — aber Fragen offenbar per E-Mail beantwortet, wie sie nach Veröffentlichung unseres Eintrages klarstellte.
Unser Vorwurf, Pajdak habe eigene Nachfragen nur vorgetäuscht, war also wohl unberechtigt. Wir bitten Frau Pajdak und unsere Leser um Entschuldigung!
Die 2005 verbindlich eingeführte “Schlechtschreibreform” hat den Schülern das Leben nicht leichter gemacht, sondern schwerer!
“Schlechtschreibreform” hatte “Bild” die Rechtschreibreform zwischen 2004 und 2006 genannt — also in dem Zeitraum, in dem sie die Änderungen, die sie 1997 begrüßt und 1998 selbst übernommen hatte, massiv und vergeblich bekämpfte und zeitweise sogar zur alten Rechtschreibung zurückkehrte.
Doch so ein Kulturkampf hinterlässt Spuren. Und wenn wegen einer solchen Reform nun die Schüler tatsächlich mehr Fehler machen als vorher, war sie sicher mehr schlecht als recht.
“Bild”-Redakteur Hans-Jörg Vehlewald bezieht sich auf die Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS), die er immerhin zu Recht “reformkritisch” nennt, und schreibt:
Die Fehlerquote in Aufsätzen und Diktaten hat sich teilweise massiv erhöht. So stieg die Zahl falsch geschriebener Wörter in Aufsätzen (4. Klasse) um 80 %, in Diktaten der Unterstufe (Gymnasium) um 110 %, in Abituraufsätzen sogar um 120 % im Vergleich zu früheren Jahrgängen.
Die Fehlerzahl bei s-Lauten habe sich etwa verdoppelt, so die Auswertung vorliegender Studien. Bei Groß- und Kleinschreibung sei die Fehlerquote gar um 176 % angestiegen.
Das sind große Prozentzahlen — eindrucksvoll und ohne jede Aussagekraft, wenn man nicht dazu schreibt, worauf sie sich beziehen. Der Preis der “Bild”-Zeitung zum Beispiel ist um 566 Prozent gestiegen! (Verglichen mit 1965.) Was “Bild” nur als “frühere Jahrgänge” verbrämt, ist in Wahrheit entscheidend: Bei den Diktaten der Unterstufe handelt es sich konkret um die Jahre 1970/1972. Und um festzustellen, dass die Zahl falsch geschriebener Wörter in Abituraufsätzen “sogar um 120 %” gestiegen ist, hat die “Studie” deutsche Zahlen von 2000-2002 mit Schweizer Zahlen von 1962-1978 verglichen.
Der Linguist Anatol Stefanowitsch weist im FDS-kritischen Bremer Sprachblog darauf hin, dass es in den siebziger Jahren radikale Reformen im Deutschunterricht gab, die einen “drastischeren Einschnitt” in die Ausbildung von Schülern darstellte als die sogenannte Rechtschreibreform, und urteilt:
Es gibt deshalb keinen Grund anzunehmen, dass die Unterschiede bei den Fehlerquoten in Schülerdiktaten von damals und heute irgendetwas mit der Rechtschreibreform zu tun haben. Genausogut könnte man die Unterschiede auf die Ölkrise 1973, den Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980, den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1990 oder Roman Herzogs “Ruck”-Rede 1997 zurückführen.
Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache selbst hat sich alle Mühe gegeben, diese Lücken in ihrer Argumentation zu verschleiern. Aber sowohl aus der am Montag veröffentlichten Kurzfassung der Studien, die offenbar die Grundlage für den “Bild”-Artikel ist, als auch aus einem Vortragsmanuskript ihres Autors Uwe Grund [pdf] hätte “Bild”-Redakteur Vehlewald erkennen können, dass seine Aussage “Wegen Rechtschreibreform machen Schüler mehr Fehler” nicht gedeckt ist.
Die Dinosaurier, das weiß man, sind auch erst immer trauriger geworden und dann ausgestorben. Okay, damals lag es daran, dass sie nicht mit auf die Arche durften. Aber wenn diese anderen Riesentiere, die Blauwale, seit ein paar Jahrzehnten immer leiser und tiefer singen, könnte das doch auch ein Zeichen sein, dass sie sich langsam von der Erde verabschieden.
Sie glaubt auch eine Erklärung dafür gefunden zu haben, in einem sogar von ihr verlinkten Artikel in der “New York Times” (wo sich Bild.de gleich auch bei einigen markanten Wal-Tonaufnahmen bedient hat, nicht ohne sie als ihre eigenen auszugeben und den Hinweis wegzulassen, dass sie dreimal so schnell abgespielt werden). Experten vermuten auf der Grundlage einer Studie, dass männliche Wale mit ihren Gesängen Weibchen anlocken, und Bild.de rätselt mit ihnen, warum diese Gesänge tiefer und leiser geworden sind:
Eine mögliche Deutung: der massive Walfang.
Die Säuger-Gruppen werden kleiner, die Wale drosseln ihre Lautstärke. Schließlich ist es nicht mehr nötig, über große Entfernungen hinweg zu kommunizieren, vermutet [Studienautor] Mark A. McDonald.
Experten-Kommentare zu den Forschungs-Ergebnissen aus Kalifornien: besorgniserregend, dramatisch und bezeichnend für die Umwelt-Sünden unserer Welt.
“Besorgniserregend” und “dramatisch” sind vermutlich auch die Worte, die auf Karolina Pajdaks Zeugnis unter “Leseverständnis” standen. Oder, wie wir hinzufügen würden: “bezeichnend für die Englisch-Kenntnisse bei Bild.de”. Denn die Zahl der Blauwale scheint derzeit nicht ab-, sondern zuzunehmen. Entsprechend wird der tiefere und leisere Gesang in dem Artikel, auf den die Autorin sich bezieht, von Experten genau im Gegenteil mit der Erholung (“rebound”) der Wal-Population erklärt. Nach der Hypothese der Experten, die auch Bild.de zitiert, mussten die Wale früher lauter sein, weil es nur wenige gab und die Entfernungen zwischen ihnen größer waren. Heute kämpften häufiger mehrere Männchen um die Zuneigung von Weibchen und täten das durch die (nach mehr Größe klingenden) tieferen Stimmen.
Der Bild.de-Artikel behauptet, dass Bild.de selbst mit einer Autorin der Studie gesprochen habe. Das erscheint unwahrscheinlich, aber schlimmer wäre es eigentlich noch, wenn es stimmte.
Vielen Dank an Christian Z.!
Nachtrag, 18:50 Uhr. Bild.de hat den Artikel geändert, plötzlich nimmt die Zahl der Wale nicht ab, sondern zu — und erstaunlicherweise fand die Autorin sogar ein dazu passendes neues Zitat von der Expertin:
Bild.de, 1. Version
Bild.de, 2. Version
Eine mögliche Deutung: der massive Walfang.
Die Säuger-Gruppen werden kleiner, die Wale drosseln ihre Lautstärke. Schließlich ist es nicht mehr nötig, über große Entfernungen hinweg zu kommunizieren, vermutet Mesnicks Kollege Mark A. McDonald .
Experten-Kommentare zu den Forschungs-Ergebnissen aus Kalifornien: besorgniserregend, dramatisch und bezeichnend für die Umwelt-Sünden unserer Welt.
Eine der Haupt-Theorien: “Die Zahl der Wale nimmt zu, damit sind mehr Tiere nahe zusammen”, so Mesnick zu BILD.de. “Wir denken, die Veränderungen in ihren Liedern sind eine Reaktion auf die veränderte Anzahl der Wale, die sie singen hören können.”
Einmal im Jahr veröffentlicht der Deutsche Presserat in seinem Jahrbuch alle Entscheidungen, die er im Vorjahr gefällt hat. Interessanter als seine nur selten nachvollziehbaren Urteile sind oft die (anonymisierten) Stellungnahmen der Zeitungen.
Das Jahrbuch bietet auch seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.
Da war etwa die Beschwerde, dass “Bild” am Tag des Fußball-WM-Spiels gegen Polen 2006 dreizehn Witze über Polen veröffentlichte, von denen zwölf darauf abzielten, dass Polen Diebe seien. Ein Leser fand das diskriminierend und ehrverletzend. Der Presserat gab ihm Recht und sprach einen “Hinweis” aus. Die Rechtsabteilung von “Bild” aber erklärte in den Worten des Presserates:
Der Abdruck der Witze sei (…) dem aktuellen Ereignis geschuldet. Kollektiv abwertende Vorurteile würden nicht zum Ausdruck gebracht. (…) Die Rechtsabteilung verweist auf die gängige Praxis in der Sportberichterstattung, Schlagzeilen zu wählen, die mit dem sportlichen Wettkampf zusammenhingen und zum Ausdruck brächten, dass Deutschland hoffentlich gewinnen werde. Eine Diskriminierung oder Herabsetzung des Gegners gehe damit nicht einher. Es handele sich vielmehr um eine Motivationshilfe für das jeweilige deutsche Team.
Bemerkenswert ist auch die Erklärung des Verlages, warum es zulässig gewesen sei, das Porträtfoto eines 17-Jährigen zu zeigen, der gestanden hat, am Raubüberfall auf das Haus von Dieter Bohlen beteiligt gewesen zu sein — obwohl der Pressekodex eine solche Identifizierung in der Regel untersagt und bei Jugendlichen ganz besonders. Laut Presserat erklärte Springer:
Den Tätern habe auch klar sein müssen, dass ihr Überfall auf den prominenten Dieter Bohlen eine besondere öffentliche Wirkung entfalten würde. Das wiederum habe zwangsläuzfig zur Folge gehabt, dass auch sie im Fall einer Festnahme und anschließender Anklage einem besonderen Informationsinteresse ausgesetzt sein würden.
Die Erwiderung des Presserates, der in diesem Fall eine “Missbilligung” aussprach, liest sich vergleichsweise trocken: “Die Resozialisierungschancen eines Täters hängen nicht von der Prominenz des Opfers ab.” Nun ja, möchte man erwidern: dank “Bild” eben doch.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.
Die nüchtern zusammengefassten Stellungnahmen der Rechtsabteilung lesen sich manchmal wie erstaunliche Leugnungen des Unleugbaren. Wenn “Bild” etwa in großer, aus gutem Grund unzulässiger Ausführlichkeit die tragischen Begleitumstände einer Selbsttötung schildert, und die Juristen erklären, der Artikel sei einfühlsam und mit viel Fingerspitzengefühl geschrieben.
Dazu passt, dass “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, der die Suizid-Berichterstattung angeblich zur Chefsache gemacht hat, im vergangenen Jahr erklärte, “Bild” sei in diesem Bereich “extrem zurückhaltend”, weil man “wisse, dass die Berichterstattung über Selbstmorde labile Menschen möglicherweise zum Nacheifern veranlasst”. “Bild” hat in den vergangenen sechs Jahren acht Rügen für ihre Suizid-Berichterstattung kassiert.
Wie immer haben wir alle Rügen, die der Presserat im vergangenen Jahr gegen “Bild” ausgesprochen hat, und die jeweilige Rechtfertigung des Verlages dokumentiert.
Wie “Bild” aus schwererziehbaren Jugendlichen “Gangster” macht und andere Verstöße gegen Ethik und Menschenwürde: “Bild”-Rügen 2007
Barack Obama sah schon auf dem Foto, das ihn zeigt, wie “Bild”-Chef Kai Diekmann ihm die Titelseite von “Bild” mit ihm zeigt, nur mittelbegeistert aus.
Der amerikanische Senator hatte bis zu diesem Moment nicht geahnt, dass die junge und weitgehend sprachlose Frau, die sich ein paar Stunden zuvor im Fitnessstudio des Hotels mit ihm hat fotografieren lassen, eine “Bild”-Reporterin war. Ihr Bericht begann mit den Worten: “Während Tausende an der Siegessäule auf ihn warteten, traf ich, die ‘Bild’-Reporterin, Barack Obama allein — im Fitnessstudio!” Obama hingegen sagt: “Wir sind reingelegt worden.” Mit diesen Worten zitiert ihn Maureen Dowd, eine Kolumnistin der “New York Times”. Obama wörtlich:
“Erinnern Sie sich an ‘Die Farbe des Geldes’ mit Paul Newman? Forest Whitaker sitzt so da und tut, als wüsste er nicht, wie man Billiard spielt. Und dann zockt er die Abzocker ab. Sie hat uns abgezockt. Wir kommen in das Sportstudio. Sie ist schon auf dem Laufband. Sie sieht wie ein ganz normales deutsches Mädchen aus. Sie lächelt und winkt ein bisschen verlegen, aber macht sich keine Mühe, irgendetwas zu sagen. Als ich gerade gehe, sagt sie: ‘Oh, kann ich ein Foto haben? Ich bin ein großer Fan.'”
Das schüchterne Mädchen heißt Judith Bonesky und fragt sonst für “Bild”: “Wie war die Hochzeitsnacht, Herr Walz?”, berichtet von tragischen Unfällen: “Schnipp, schnapp, Fingerkuppe ab. Wenn man wie Kult-Sänger Frank Zander (66, ‘Hier kommt Kurt’) auf die Finger zum Gitarrespielen angewiesen ist, sollte man auf die Klampfen-Griffel besser aufpassen…” oder protokolliert erschütternde Missgeschicke: “Kate Moss: Haare im Adlon verloren”.
Ihr Augenzeugenbericht vom Treffen mit Obama las sich anderntags in “Bild” u.a. so:
Obama sagte der “New York Times”, ihm werde gerade erst klar, woran er sich alles gewöhnen müsse.
Nachtrag, 29. Juli. Antrieb für die öffentliche Liebeserklärung von Judith Bonesky an Barack Obama ist übrigens, dass sie “Obamas ausgeklügelte, bis ins letzte geplante PR-Inszenierung für den US-amerikanischen Wahlkampf gestört” habe. Das sagte ihr Chefredakteur Kai Diekmann laut “Süddeutscher Zeitung” und fügte hinzu: “Das war eine tolle Reporterleistung, denn Bild ist nicht Teil der Wahlkampfmaschinerie”.
Nachtrag, 19:00 Uhr. Auch die englische Version ist nun verschwunden.
Nachtrag, 30.7.2008. Eine Nachfrage von uns bei “Bild”, wer aus welchem Grund die Löschung des Artikels auf Bild.de veranlasst hatte, blieb unbeantwortet. Ein “Bild”-Sprecher teilte uns heute morgen lediglich mit, die Berichterstattung sei “mit neuen Aspekten (Resonanz in anderer Presse und Diskussionsforum) online”. Unddasstimmt. Allerdings schreibt Bild.de auch: “Viele lobten die Leistung der Reporterin – aber auch von einer ‘blonden Stalkerin’ war die Rede.” Was insofern seltsam ist, als wir in den von Bild.de verlinkten Medienberichten das viele Lob nicht entdecken können. Dafür gibt es aber u.a. einen Link zu einem FAZ.net-Artikel, der nicht frei online ist, sowie einen zu Pravda.ru, der bloß die wörtliche Übernahme von Boneskys ursprünglichem “Bild”-Artikel ist (“Click here to read the full text of the story”). Ach ja, und über Obamas Kritik verliert Bild.de selbst kein Wort.
Jedes Jahr um diese Zeit feiert Franz Josef Wagner zwei Geburtstage. Seinen eigenen und den von Mick Jagger. Eine ganz besondere Beziehung verbindet den “Bild”-Autor mit dem Sänger. Kein Wunder: Ihre Biographien weisen verblüffende Parallelen auf.
Beide sind im Sommer 1943 geboren. Beide sind Männer. Jaggers Mutter war Avon-Beraterin, Wagners Mutter Handarbeitslehrerin. Jagger macht Musik, Wagner hört sie.
Wenn man an 60 denkt, dann denkt man, dass die betreffende Person Schwierigkeiten beim Einparken hat und gelegentliche Unsicherheit im Personengedächtnis. Ich glaube, dass man mit 60 triumphierend jung sein kann — wenn man ein Rock ‘n’ Roller ist. Jeder Orthopäde sagt, dass das Geheimnis die Bewegung sei. Tanzen wir den Tod zum Teufel. Der 60-jährige Mick Jagger tanzt das Leben vor. In einer Woche werde ich 60.
Rock ‘n’ Roll ist ein Lebensentwurf – es ist auch mein Lebensentwurf. Wir rocken uns den Tod weg, die Bandscheibe, die Prostata, die Röchel-Lunge. Ich liebe Mick Jagger nicht nur, weil er “Satisfaction” singt, sondern weil seine Mutter Avon-Beraterin war. Der Sohn einer Avon-Beraterin wird Mick Jagger — was für ein Traum, was für ein Märchen!
Und ein paar Tage später in der “taz”, nach einem Konzert der Stones:
Mick Jagger ist eine Woche älter als ich, er wird am 26. Juli 63, ich am 7. August. Aber es waren viele tausend noch Ältere im Berliner Olympiastadion als wir beide. Vielleicht war es das, was wir feierten: dass die Katastrophen wie Weltuntergang, Raucherkrebs, Prostata, Herz, Venen nicht eingetreten waren und auch in dieser Nacht nicht eintreten würden. (…)
“What can a poor boy do except to sing for a rock’n’roll band”, fragte Mick Jagger vor 40 Jahren in seinem Ur-Song “Street Fighting Man”. Vor 40 Jahren — wo war ich?
Vor 40 Jahren hing ich auch an den Fersen des Glücks. What can a poor boy do … Micks Mutter war Avon-Beraterin, meine Handarbeitslehrerin, sie unterrichtete Mädchen im Stricken und Tischdecken. Da war nicht viel Kohle zu holen. Also, what can a poor boy do?
Er kann Zahnarzt werden, Astronaut werden, er kann sein Leben verschlafen, er kann Mick Jagger werden, oder er kann im Drogenrausch wie der beste Rolling Stone, Brian Jones, im Swimmingpool ertrinken. Er kann ein Gesicht wie Keith Richards kriegen, er kann Bianca Jagger heiraten, Jerry Hall. Er kann sieben Kinder mit vier Frauen zeugen, er kann aber auch als PR-Gag auf eine Palme klettern und herunterfallen. Er kann Boulevard-Reporter werden, Gossen-Goethe. Er kann eigentlich alles werden, wenn er ein Street Fighting Man ist.
Und heute nun wird Mick Jagger 65. Und Franz Josef Wagner, der “Gossen-Goethe”, schreibt in “Bild”:
Sie sind eine Woche älter als ich, heute werden Sie 65, ich am 7. August. Was gibt’s für uns 65-Jährige zu feiern? Zuallererst, dass wir überlebten und Leber, Lunge, Arterien sich bisher nicht bemerkbar machen. Den Genen sei Dank!
Es war im Sommer 62, vor 46 Jahren, als ich Ihren Ursong “Street Fighting Man” zum ersten Mal hörte. Ich war damals ein Junge wie Sie. Ihre Mutter war Avon-Beraterin, meine Mutter war Handarbeitslehrerin. (…) Man konnte damals schnell abgleiten in die Hippie- und Kifferkultur.
Von einem Tag auf den anderen riss mich Ihr “Street Fighting Man” aus dem Kiffen heraus. “What can a poor boy do except to sing for a rock ‘n’ roll band”. (…)
Ihr Song hat mich gerettet. Ihr Song war eine Aufforderung, seine eigene Kraft zu entdecken.
Ja, so war es. Es war dieser Song. Alle, die dabei gewesen waren und heute Zahnärzte sind, Therapeuten, Rechtsanwälte, werden es bestätigen. Es war dieser Song. (…)
Rock ‘n’ Roll hat die Welt immer verbessert. Vor 46 Jahren wurde ich durch Mick Jagger Rock ‘n’ Roller – ich liebe die Freiheit.
Aber was immer Franz Josef Wagner vor 46 Jahren vom rechten Weg abbrachte und ihn veranlasste, einen Karrierepfad einzuschlagen, an dessen Ende er heute täglich einen Brief in der “Bild”-Zeitung schreibt — die Rolling Stones und “Street Fighting Man” waren es nicht. Ihr erstes Album brachten die Stones 1964 heraus. “Street Fighting Man” wurde, inspiriert von den Studentenunruhen in Paris, 1968 aufgenommen und veröffentlicht.
Wann hörte Franz Josef Wagner also mit dem Kiffen auf? Man weiß es nicht. Aber nach dem Konzert der Stones fuhr er mit dem Taxi nach Hause: “Richtung Paris Bar, um mich mit Alkohol noch ein bisschen mehr in Stimmung zu bringen.”
Mit Dank an Steffen B., Manfred L., Maren, Andreas und Map!
“Bild”-Chefredakteur und Bild-Digital-Geschäftsführer Kai Diekmann hat dem “kress report” erklärt, worauf es bei Online-Videos ankommt:
“Online-Videos erfordern eine ganz neue Form des Storytelling — schnell, emotional, subjektiv, selbst produziert, nicht zu akkurat.”
Zumindest der letzte Punkt ist für Bild.de nun wirklich eine Leichtigkeit. Geradezu vorbildlich ist da der aktuelle Bild.de-Video-Bericht von der Spielemesse E3, die heute in Los Angeles zuende geht, in dem es heißt:
Auch bei Sony gibt es viel Neues. Bald wird es die PlayStation 3 mit eingebautem Modem geben.
Wir wollen der hörbar erregten Bild.de-Sprecherin nicht die Vorfreude nehmen, aber “bald” ist hier im Sinne von “seit 16 Monaten” zu verstehen. Die Playstation 3 kam im März 2007 auf den europäischen Markt, und einen Internetanschluss hatte sie damals auch schon.
Aber was ist schon ein Jahr in der schnelllebigen Computerspielwelt? Gut: sehr viel, richtig. Aber doch immerhin weniger als vier Jahre. Der Bild.de-Bericht endet nämlich mit den Worten:
Ob nun “Halo 2”, “Half Life 2” oder “Doom 3” — Spielfans aus Deutschland dürfen schon mal gespannt sein, mit welchen Games sie bald die Nächte durchzocken können.
Halo 2, Half Life 2 und Doom 3 sind 2004 erschienen. Das könnte der Spannung ein bisschen Abbruch tun.
Nachtrag, 16:05 Uhr. Das neue Geschwindigkeits-Postulat bedeutet offenbar, dass alles work in progress ist bei den Bild.de-Videos. Kurz vor der Veröffentlichung dieses Eintrages hat Bild.de den Text geändert. Nun heißt es:
Auch bei Sony gibt es viel Neues. Bald wird es die PlayStation 3 mit 80 Gigabyte Festplatte geben.
Und:
Ob nun “God of War 3”, “Wii Sports Resort” oder “Final Fantasy 13” — Spielfans aus Deutschland dürfen schon mal gespannt sein, mit welchen Games sie bald die Nächte durchzocken können.
In einer ersten Version des Videos, die bis heute Mittag online war, hatte Bild.de sogar noch eine “PlayStation 4 mit eingebautem Modem” angekündigt.
Mit Dank an Marvin S., Matthias L., André L., Martin K., Florian R., Gilbert S., Matthias W., Matthias N., Roman, Andreas K. und Christoph A.
Und jetzt können Sie sich aussuchen, welcher Fehler in diesem Satz Ihre persönliche Top-1 ist: Dass die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 2009 selbstverständlich schon ihren 60. Geburtstag feiert. Oder dass die Einsendefrist für den Wettbewerb Mitte Juni abgelaufen ist und der Bundestag den Gewinner (Michael Batz) bereits am Dienstag vergangener Woche bekanntgegeben hat.
Mit Dank an Jason M.!
Nachtrag, 14. Juli. Die “Bild”-Zeitung hat beide Fehler am Samstag in ihrer Korrekturspalte berichtigt; bei Bild.de hat man sich immerhin zu einer Teilkorrektur durchringen können (und schreibt den Namen des Kolumnisten jetzt anders).
Ein Foto von Serkan A., einem der beiden sogenannten “U-Bahn-Schläger”, die gestern zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, ist heute in vielen Zeitungen zu sehen. Es zeigt ihn, wie auch “Bild” schreibt, wie er aus dem schmalen Fensterschlitz eines Gefangenen-Transporters den Fotografen den Mittelfinger zeigt. Die Fotografen hatten bei der Gerichtsverhandlung u.a. auch (teilweise gegen deren offenkundigen Willen) Aufnahmen von seiner Mutter, seiner Schwester, seiner Verlobten und seiner sieben Monate alten Tochter gemacht.
Vielleicht kann man viele Grenzüberschreitungen, die die “Bild”-Zeitung und ihre Reporter und Fotografen begehen, damit erklären: Dass sie sich ernsthaft für einen Teil unserer Justiz halten.
Die Ärzte haben ein fröhliches Lied geschrieben. Es heißt “Lasse redn” und empfiehlt, all die Deppen, Spießer, Lügner und Heuchler, die sich das Maul über einen zerreißen, gepflegt zu ignorieren.
Bei Antenne Bayern spielen sie das auch gerne. Sie haben sich sogar einen eigenen Remix gebastelt.
Am Anfang haben sie in das Stück einen eigenen Werbesatz gehaucht: “Neu in Bayerns bestem Musikmix”. Dafür haben sie gegen Ende etwas weggelassen.
Es fällt aber kaum auf, dass da was fehlt, wenn man das Original nicht kennt:
(…)
Hast du gehört und sag mal, wusstest du schon? Nämlich
Du verdienst dein Geld mit Prostitution
Du sollst ja meistens vor dem Busbahnhof stehn
Der Kollege eines Schwagers hat dich neulich gesehn.
(…)
Hast du gehört und sag mal, wusstest du schon? Nämlich
Du verdienst dein Geld mit Prostitution
Du sollst ja meistens vor dem Busbahnhof stehn
Der Kollege eines Schwagers hat dich neulich gesehn.
Lass die Leute reden und lächle einfach mild
Die meisten Leute haben ihre Bildung aus der Bild
Und die besteht nun mal, wer wüsste das nicht
Aus Angst, Hass, Titten und dem Wetterbericht.
Lass die Leute reden, denn wie das immer ist:
Solang die Leute reden, machen sie nichts Schlimmeres
Und ein wenig Heuchelei kannst du dir durchaus leisten
Bleib höflich und sag nichts – das ärgert sie am meisten.
Lass die Leute reden, denn wie das immer ist:
Solang die Leute reden, machen sie nichts Schlimmeres
Und ein wenig Heuchelei kannst du dir durchaus leisten
Bleib höflich und sag nichts – das ärgert sie am meisten.
Nun ist Antenne Bayern durchaus bekannt dafür, Musiktitel zu kürzen, wenn sie zu lang sind für die Aufmerksamkeitsspanne der Hörer von “Bayerns bestem Musikmix”, also etwa drei Minuten. “Lasse redn” ist aber schon im Original nur 2:50 Minuten kurz.
Was also mag Antenne Bayern, einen Sender, an dem die Axel Springer AG mit 16 Prozent direkt beteiligt ist, veranlasst haben, aus einem gut gelaunten Stück der besten Band der Welt einen ganzen Refrain mit kritischen Worten über die “Bild”-Zeitung herauszuschneiden?
Der Pressestelle des Senders ist bislang auch noch keine Antwort eingefallen.
Nachtrag, 16.6.2008: Inzwischen liegen uns Stellungnahmen von Antenne Bayern und den Ärzten vor. Nachzulesen hier.