Da ging es aber mächtig drunter und drüber, als Frauke Petry, die Co-Vorsitzende der “Alternative für Deutschland” (AfD), am vergangenen Mittwoch in Göttingen Opfer eines Angriffs wurde. Also nicht nur im Restaurant “Ali Baba”, wo Petry mit einem Journalisten saß, sondern auch in den Medien.
In einer ersten Meldung, die die dpa am Mittwochabend sowohl über den Basisdienst als auch über den Landesdienst Niedersachsen rausjagte, stützte sich die Agentur in weiten Teilen auf die Aussagen eines AfD-Sprechers:
Die Co-Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, ist in einem Lokal in Göttingen von drei Vermummten attackiert worden. Diese warfen nach Angaben von Parteisprecher Christian Lüth am Mittwoch den Tisch um, an dem Petry mit einem Journalisten saß, so dass sie zu Boden ging. Anschließend hätten die Angreifer die rechtskonservative Politikerin mit Beuteln mit Fruchtsaft beworfen.
Dem Sprecher zufolge war vor der Attacke eine junge Frau an Petry herangetreten und hatte gefragt: “Sind Sie Frauke Petry?” Als diese die Frage bejahte, soll die Frau sie beschimpft haben und dann verschwunden sein. Kurz darauf stürmten die Vermummten in das Lokal. Sie riefen nach Angaben des Sprechers “Nazis raus!”
Die Darstellung, die die dpa an die Redaktionen im ganzen Land schickte, deckt sich stark mit der, die Frauke Petry knapp anderthalb Stunden zuvor auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte hatte:
Fruchtsaft? Farbbeutel? Da kamen nicht nur die AfD-Leute durcheinander, sondern auch die nach Aktualität hetzenden Journalisten. “Focus online” blieb bei der dpa-Variante und sprach von “Fruchtsaftbeuteln”, die “Augsburger Allgemeine” entschied sich in ihrer Überschrift hingegen für eine “Farbbeutel-Attacke”. sueddeutsche.de ließ die Angreifer Fruchtsaft aus Flaschen spritzen, laut stern.de sollen sie Petry mit Getränken beworfen haben.
Dutzende weitere Medien berichteten über den Vorfall in Göttingen. So gut wie alle von ihnen übernahmen (von der dpa) Frauke Petrys Polterei, dass es sich bei dem Angriff um einen niederträchtigen Versuch handele, “die Meinungsfreiheit mit Gewalt einzuschränken”; und dass die Tat zeige, dass linksextreme Gewalt von den Altparteien immer noch sträflich verharmlost werde.
Später am Mittwochabend und nach ersten Befragungen im Restaurant “Ali Baba” veröffentlichte die Polzeiinspektion Göttingen eine Pressemitteilung, in der sie den Fruchsaft-Farbbeutel-Angriff mit keinem Wort erwähnte. Und am Donnerstag folgte eine zweite Pressemitteilung, die den AfD-Schilderungen sogar deutlich widersprach:
Aktuellen Erkenntnissen zufolge betraten im Anschluss an eine junge Frau gegen 16.00 Uhr vermutlich fünf bis sechs weitere Personen das Cafe. Es kam zu einem Wortgefecht, bei dem der Tisch, an dem Frau Petry und der Journalist saßen, aus bislang noch ungeklärten Gründen plötzlich kippelte, aber nach derzeitigem Stand nicht umstürzte. Dabei fielen die auf dem Tisch stehenden Gläser, darunter eines mit Fruchtsaft, und ein gläserner Kerzenhalter auf den Boden. […]
Hinweise darauf, dass es in dem Lokal zu Würfen von Farb- oder mit Fruchtsaft gefüllten Beuteln auf die Politikerin Petry gekommen ist, haben sich bei den aktuellen Ermittlungen nicht ergeben. Ebenso ist es nach derzeitigem Stand auch nicht zu Bedrohungen oder körperlichen Über-bzw. Angriffen auf die Parteivorsitzende oder ihren Gesprächspartner gekommen. Wegen der ihr gegenüber getätigten Äußerungen stellte Frau Petry am Mittwochabend Strafantrag wegen Beleidigung gegen Unbekannt.
Also kein umgekippter Tisch. Keine zu Boden gestürzte Frauke Petry. Und keine mit was auch immer gefüllten Beutel, die durchs Lokal flogen.
Das hatte inzwischen auch die dpa getickert, allerdings nicht mehr über den großen Basisdienst, sondern nur noch über den kleineren Landesdienst Niedersachsen:
Etwa ein halbes Dutzend Unbekannte, die die Polizei der linksautonomen Szene zurechnet, hatten Petry am Mittwochnachmittag in einem Lokal in der Innenstadt beschimpft. Außerdem hätten sie an dem Tisch gerüttelt, an dem die rechtskonservative Politikerin mit einem Journalisten saß, sagte die Sprecherin. Dabei sei ein Glas mit Saft umgekippt und ein gläserner Kerzenleuchter zu Boden gestürzt.
Als diese Meldung die Redaktionen erreichte, war die Legende vom Fruchtsaftbeutelwurf längst in der Welt. Dabei war relativ früh klar, dass es zumindest Zweifel an der AfD-Erzählung gibt: Das “Göttinger Tageblatt” zitierte bereits am Mittwoch eine Mitarbeiterin des Restaurants, die die Situation deutlich anders als Frauke Petry wahrgenommen hatte. Das scherte zu dem Zeitpunkt aber offenbar weder die dpa noch all die Medien, die die Meldung — und damit das Märchen des AfD-Sprechers — reihenweise übernahmen.
Nun ist das nicht der erste Fall, bei dem die AfD (Slogan: “Mut zur Wahrheit!”) eine Situation deutlich überspitzt darstellt, es sich in der Opferrolle gemütlich einrichtet und anschließend zuschauen kann, wie Medien die Partei-Sage unters Volk bringen. Als der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke im August 2013 bei einer Wahlkampfveranstaltung auf der Bühne geschubst wurde, sprachen sowohl die Partei als auch zahlreiche Medien schnell von einem “Messer-Angriff” und “linken Chaoten”. Lucke nutzte damals die mediale Aufmerksamkeit — wie vergangene Woche Frauke Petry –, um gegen “Linksextreme” zu wettern.
Im selben Monat hatte Lennard Rudolph, AfD-Mitglied aus Göttingen, behauptet, dass die Wände seines Wohnhauses mit Benzin übergossen wurden. Die “Welt” kaufte ihm die Geschichte vom vereitelten Brandanschlag damals ab, während die Göttinger Polizei sich über Rudolphs Aussagen wunderte.
Und wir wundern uns, dass Agenturen und Zeitungen den Aussagen der AfD immer noch blind vertrauen.
Siehe auch: The European: Die Petry und ihr Saftladen
Mit Dank an Benjamin L. und Fionn P.!
Nachtrag, 4. Juni: Der Journalist, mit dem Frauke Petry im Göttinger Restaurant am Tisch saß, ist Jens Schneider von der “Süddeutschen Zeitung”. Und der hat in einem Artikel (Paywall) die Szene so aufgeschrieben:
An diesem Nachmittag in Göttingen will sie [Petry] sich gern weiter in Erinnerungen bewegen. Sie sucht das Pfannkuchenhaus. Als das nicht zu finden ist, wählt sie fürs Interview die Crêperie “Ali Baba”. […]
Plötzlich steht eine junge Frau vor dem Café-Tisch. Sie fragt höflich, als wolle sie nicht an der falschen Stelle grob werden: “Entschuldigung, sind Sie Frauke Petry?”
Petry, liebenswürdig: “Ja.”
Die Frau freut sich. Dann sagt sie: “Geil, ich wollte Ihnen immer schon mal sagen, dass ich Sie richtig scheiße finde.”
“Ja, in Ordnung”, antwortet Frauke Petry unerschüttert. Die Frau ist da schon wieder weg. “Das ist halt Göttingen”, sagt Petry, lacht und widmet sich wieder dem Interviewer. Wenige Minuten später wird es laut. Zwei Vermummte stehen brüllend vor dem Tisch. “Scheiß-Nazi-Frau!” rufen sie. Und: “Verpisst euch aus Scheiß-Göttingen!” Einer stößt gegen den Tisch, der Tisch kippt. Sie spritzen mit klebriger Flüssigkeit. Es ist beängstigend, auch wenn es keine Minute dauert.
Frauke Petrys Bluse ist nass.
“Vertrauen Sie der Chemikerin, das war Fruchtsaft, nicht gefährlich”, stellt sie fest und “tja, Demokratie in Deutschland.”
Will sie die Polizei rufen?
“Nein, das nicht, aber wenn Sie bitte ein Handtuch hätten?” fragt sie die Kellnerin.
Sie macht ein paar Scherze, fragt schließlich: “Wo waren wir stehen geblieben?” Vorm Café lauern Autonome, machen Sprüche, als sie geht: “Hey, ihr habt was verloren — den Zweiten Weltkrieg!” […]
Der Sprecher der AfD in Berlin wittert eine Gelegenheit. Er versendet eine Pressemitteilung, schreibt von einer Attacke mit Farbbeuteln und erheblichem Sachschaden. Unfug. Er macht den üblen Angriff schlimmer als er war. Petry beklagt in der selben Erklärung, die Tat zeige “erneut, dass linksextreme Gewalt von den Altparteien immer noch sträflich verharmlost wird”.
Mit Dank an Stefan P.!
Nachtrag, 10. Juni: Bei Welt.de haben sie es immer noch nicht mitbekommen. Gestern erschien ein weiterer Artikel zur AfD, in dem die Redaktion am Fruchtsaftbeutel-Opfer-Mythos festhält:
Vor zwei Wochen war die Co-Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, in einem Lokal in Göttingen von drei Vermummten attackiert worden. Diese warfen nach Angaben des Parteisprechers den Tisch um, an dem Petry mit einem Journalisten saß. Anschließend hätten die Angreifer die rechtskonservative Politikerin mit Fruchtsaftbeuteln beworfen.