Ein Mindestanspruch an einen Faktencheck sollte darin bestehen, dass dort Fakten gecheckt werden; dass also jemand sie überprüft, bestätigt oder korrigiert, weitere Fakten liefert, Klarheit schafft.
Ein “Bild”-“Faktencheck” läuft anders. Da werden Fakten aus dem Zusammenhang gerissen und neu angeordnet, es wird verschleiert, am Ende ist alles unklarer. Erst recht, wenn die Redaktion damit einem Liebling wie Friedrich Merz unter die Arme greifen kann.
Auf Merz’ Twitter-Account erschien vor einigen Tagen folgender Tweet:
Die Aufregung darüber war recht groß. Politikerinnen und Politiker verschiedener Parteien (und vor allem der Grünen) kritisierten Merz für dessen Aussagen. Seine Behauptungen seien schlicht Lügen, so der Vorwurf. Und beim Thema Lügen kommt natürlich “Bild” ins Spiel:
Die Redaktion schreibt:
Auf Twitter schrieb Merz, ein grünes Einwanderungsministerium solle “möglichst viele Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit nach Deutschland einladen” und die Gender-Sprache “uns allen aufgezwungen werden”.
… und fragt:
DOCH: Lügt Merz tatsächlich oder hat er recht?
Schon beim Thema Gendern wird die Nebelkerzigkeit dieses “Faktenchecks” deutlich. Zu Merz’ Vorwurf, dass eine Gender-Sprache “uns allen aufgezwungen” werden soll, schreibt “Bild”, dass die Grünen in ihrem Wahlprogramm “570 Mal auf 110 Seiten” und auch sonst ganz gerne gendern. Das war’s. Dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass die Partei “uns” im Falle einer Regierungsbeteiligung per Gesetz zum Gendern verpflichten oder es “uns” sonst wie “aufzwingen” will, erwähnt die Redaktion nicht.
Beim Thema Einwanderung führt die “Bild”-Redaktion ihre Leserschaft dann endgültig in die Irre. Sie schreibt:
Fakt ist: Die Grünen wollen nach der Bundestagswahl ein Einwanderungsministerium gründen. Das forderte Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (40) in einem Interview mit einer deutsch-türkischen Interessenvertretung.
Die Grünen planen ein sogenanntes “Teilhabegesetz” und schreiben in ihrem Parteiprogramm: “Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen einführen.” Außerdem wollen die Grünen “Zugangswege auch im gering- oder unqualifizierten Bereich” schaffen.
Der entscheidende Satz, mit dem “Bild” vorgibt, Friedrich Merz’ Schreckensszenario von der vermeintlichen Grünen-Einladung an “möglichst viele Einwanderer” stützen zu können: “Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen einführen.”
Er steht tatsächlich im Wahlprogramm der Grünen (PDF, Seite 168), aber in einem deutlich anderen Kontext. Während “Bild” es so wirken lässt, als bezöge er sich auf das gesamte Land und die gesamte Gesellschaft und stünde für Masseneinwanderung “auf allen Ebenen”, geht es tatsächlich nur um die Verwaltung in Deutschland und auch eher nicht um zusätzliche Einwanderer. Im Unterkapitel “Vielfalt in der Verwaltung” schreiben die Grünen:
Die Vielfalt der Gesellschaft muss sich auch in ihrer Verwaltung widerspiegeln. Das stärkt die staatlichen Institutionen und trägt zu Vertrauen und Bürger*innennähe bei. Eine diverse und diskriminierungskritische Verwaltung entsteht aber nicht von selbst, sondern benötigt Mittel, Strukturen und gezielte Förderung. (…) Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen einführen.
Die Aussage der Grünen, “Zugangswege auch im gering- oder unqualifizierten Bereich” schaffen zu wollen, reißt “Bild” ebenfalls aus dem Zusammenhang. Die Redaktion hat sie von einer “Themenseite”, die die Grünen auf ihrer Website veröffentlicht haben. Auch hier ist der Kontext nicht, dass die Partei “möglichst viele” Menschen nach Deutschland holen will. Der gesamte Satz lautet:
Auf Basis des jährlichen Arbeitskräftebedarfs schaffen wir so Zugangswege auch im gering- oder unqualifizierten Bereich.
In den Sätzen davor geht es um eine “Einwanderungskommission”, die “dem Bundestag jährlich die Anzahl von punktebasierten Talentkarten vorschlagen [soll], mit denen Menschen zu uns kommen können.” Und allgemein handelt die “Themenseite” davon, wie Integration besser gelingen könnte.
Auch das von “Bild” einfach so hingeworfene und nicht weiter erklärte “Teilhabegesetz”, das die Grünen laut Wahlprogramm (Seite 169) tatsächlich planen, steht nicht für “möglichst viel” Zuwanderung. Eigentlich hat es überhaupt nichts mit zusätzlicher Zuwanderung zu tun. Die Grünen schreiben dazu:
Für mehr Repräsentanz und Teilhabe werden wir ein Bundespartizipations- und Teilhabegesetz vorlegen und das Bundesgremienbesetzungsgesetz refomieren. Staatliches Handeln soll auf unsere vielfältige Gesellschaft ausgerichtet sein und Gleichberechtigung sicherstellen. Wer hier dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt hat, muss die Möglichkeit haben, an Wahlen, Abstimmungen und allen anderen demokratischen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen, in einem ersten Schritt wollen wir das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige einführen.
Statt aufzuklären, verzerrt die “Bild”-Redaktion zusätzlich. Und geht in ihrem “Faktencheck” noch einen Schritt weiter als Friedrich Merz. Nun sind es nicht mehr nur “Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit”, die die Grünen angeblich nach Deutschland einladen, sondern “Integrationsverweigerer oder Kriminelle”:
Menschen sollen aufgrund ihrer Herkunft qua Gesetz bevorteilt werden, unabhängig von ihrer Qualifikation, Bildung und Integrationsfähigkeit.
Eine solche Bevorteilung nur aufgrund der Herkunft kann als Einladung zur Migration verstanden werden – selbst für Integrationsverweigerer oder Kriminelle.
Bei “Bild” läuft sowas unter “Faktencheck”.
Mit Dank an Andreas P. für den Hinweis!