Die Zukunft des Journalismus soll unter anderem im Bewegtbild liegen, hört man mitunter. Videos sind also wichtig — und wenn darin kleine Kinder, flauschige Tiere oder die Terroranschläge des 11. September 2001 zu sehen sind, setzt bei Journalisten alle Vernunft aus.
In den letzten Tagen war es mal wieder soweit:
Ein “bisher unbekanntes Video” sei veröffentlicht worden, schreibt “Spiegel Online”, während 20min.ch ein “kürzlich freigegebenes Video” entdeckt zu haben glaubt und oe24.at erklärt, das “Neue an den Bildern” sei vor allem, “dass sie die brennenden Türme des World Trade Center von oben zeigen”. Von einem “neuen Video” sprechen unter anderem auch Bild.de, n-tv.de, RTL.de, kress.de, Reuters und die Website der “Financial Times Deutschland”. Eigentlich gibt es kaum eine Nachrichtenseite, die nicht über die “neuen Bilder” berichtet: selbst die BBC spricht von “Aufnahmen, die noch nie zu sehen waren”.
Und all das nur, weil die “Enthüllungsplattform” cryptome.org ein Video veröffentlicht hatte, das die New Yorker Polizei am 11. September 2001 an Bord eines Polizeihubschraubers aufgenommen hatte.
Nicht einmal Cryptome selbst behauptet, das Video sei “neu”. Es gehört zu dem umfangreichen Material, das das “National Institute of Standards and Technology” (NIST) nach den Anschlägen gesammelt hatte, um den Einsturz des World Trade Centers bautechnisch zu untersuchen. Dabei handelt es sich um die Kopien von teils veröffentlichten, teils unveröffentlichten Aufnahmen, die das NIST zusammengetragen hatte und seitdem in seinem Besitz hat.
Unter Berufung auf den Freedom of Information Act, fordern immer wieder mehr oder weniger seriöse Organisation die Herausgabe des vom NIST gesammelten Materials, das (vor allem europäische) Journalisten regelmäßig für “beschlagnahmt” oder “unter Verschluss gehalten” halten (BILDblog berichtete).
Womöglich ist das 17-minütige Video, das Cryptome jetzt online gestellt hat, in dieser Form tatsächlich noch nie veröffentlicht worden. Bei der Menge des 9/11-Materials, das auf verschiedenen Kanälen unterwegs ist, lässt sich das schwer sagen. Aber die spektakulären “neuen” Bilder, die die Medien wie “Spiegel Online” jetzt als “bisher unveröffentlichte Aufnahmen” anpreisen, die kann man schon seit dreieinhalb Jahren auf YouTube sehen — heller und mit einem größeren Bildausschnitt und hebräischen, statt deutschen Untertiteln:
Bei “Focus Online” haben sie den Braten gerochen und bemerken jetzt süffisant:
Die Verantwortung, Quellen zu überprüfen, nehmen Enthüllungsplattformen professionellen Journalisten nicht ab. Eine simple Suche bei YouTube hätte genügt, um das vermeintlich unveröffentlichte Material zu enttarnen.
Bei der letzten kollektiven Quellen-Nichtprüfung war “Focus Online” noch ganz vorne mit dabei gewesen.
Mit Dank an Sven G., Peter M., Steffen K. und Hans P.
Nachtrag, 10. März: Bei YouTube gibt es sogar eine noch ältere Version des Videos, hochgeladen am 20. Dezember 2006.