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So gaukelt “Bild” uns miese Renteninfos vor

Das Unangenehme an der Zukunft ist ja, dass sie sich regelmäßig nicht an die Voraussagen hält, die über sie in der Gegenwart getroffen werden. Und andererseits wünscht man sich von einem offiziellen Schreiben, in dem die gesetzliche Rentenversicherung einem mitteilt, mit welcher Rente man in Zukunft rechnen kann, doch eine gewissen Zuverlässigkeit. Insofern war es eigentlich eine gute Idee von der “Bild”-Zeitung, sich am Samstag die in diesen Wochen millionenfach versandten “Renteninformationen” (Muster als pdf) genauer anzusehen.

Um zu ihrem erwartbar vernichtenden Urteil zu kommen…

So gaukelt der Staat uns steigende Renten vor

…musste sie allerdings einige Verrenkungen anstellen.

“Bild” moniert, dass in dem Brief “Rentenerhöhungen von 1 % und 2 %” vorgerechnet werden, was “sehr optimistisch” sei. Mag sein, aber auf dem unmittelbar daneben abgebildeten Musterbrief sieht man, dass die Renteninformation auch einen Wert angibt für den Fall, dass die Renten gar nicht erhöht werden.

“Bild” moniert, dass die angegebene zu erwartende Rente nicht berücksichtigt, dass ja auch ein “Jobverlust oder Wechsel auf eine schlechter bezahlte Stelle” dazwischen kommen könnte. Nun könnte man denken, dass jeder Bürger weiß, dass ein solches Schreiben das genau so wenig berücksichtigen kann wie die Möglichkeit, dass man morgen befördert wird. Notfalls kann man aber auch darauf verweisen, dass die Rentenversicherung vor die entsprechende Summe den Satz geschrieben hat: “Sollten bis zur Regelaltersgrenze Beiträge wie im Durchschnitt der letzten fünf Kalenderjahre gezahlt werden, bekämen Sie (…) von uns eine monatliche Rente von:”.

“Bild” moniert, dass “mögliche Rentenabschläge bei vorzeitigem Ruhestand völlig ausgeblendet werden”. Nun ja: Die Renteninformation bezieht sich ausdrücklich auf die Annahme, dass man bis zur Regelaltersgrenze arbeitet; auf der zweiten Seite steht ebenso ausdrücklich, dass ein früherer Rentenbeginn zu Abschlägen führt.

“Bild” moniert, dass die Renteninformation nicht berücksichtigt, dass “die Preise schneller steigen als die Renten”. Aber ob sie das wirklich tun werden, weiß niemand. Sicher ist nur, dass die Renten langsamer steigen werden als die Löhne — die Anpassungen können aber durchaus über der Inflationsrate liegen.

Zusätzlicher Vorsorgebedarf
Da die Renten im Vergleich zu den Löhnen künftig geringer steigen werden und sich somit die spätere Lücke zwischen Rente und Erwerbseinkommen vergrößert, wird eine zusätzliche Absicherung für das Alter wichtiger (“Versorgungslücke”). Bei der ergänzenden Altersvorsorge
sollten Sie – wie bei Ihrer zu erwartenden Rente – den Kaufkraftverlust beachten.

Warnung in der “Renteninformation 2007”, erste Seite

Und so geht das noch ein bisschen weiter (auch die Rentenversicherung selbst hat eine Erklärung dazu abgegeben). “Bild” ignoriert sämtliche warnenden und relativierenden Hinweise, die in den Briefen enthalten sind. Erstaunlicherweise hat die Zeitung sogar an der Warnung etwas auszusetzen, dass Versorgungslücken zu erwarten und eine “zusätzliche Absicherung für das Alter” zu empfehlen sei: Da fehle der Hinweis, dass man auch für private Lebensversicherungen “kräftig Steuern, Kranken- und Pflegebeiträge hinblättern” muss.

Dass “Bild” nicht noch Extra-Renten-Prognosen für den Fall fordert, dass außerirdische Dinosaurier zwei Drittel der Rentenzahler auffressen, ist vermutlich nur dem mangelnden Platz geschuldet.

PS: Ausnahmsweise ist es “Bild” gelungen, den Empfänger des faksimilierten Renten-Briefes vollständig zu anonymisieren:

Dabei wäre das in diesem Fall ausnahmsweise nicht so dringend gewesen:

Mit Dank an Andreas K.!

Bolzenschneiderjournalismus jetzt auch bei Bild.de

Zur Erinnerung: Als “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann gerade mal vier Wochen im Amt war, beging “Bild” einen Fehler, der Diekmann bis heute verfolgt. “Bild” zeigte nämlich ein altes Foto von Jürgen Trittin auf einer Demo, in das “Bild” sowohl einen “Schlagstock” als auch einen “Bolzenschneider” interpretiert hatte (siehe Ausriss), obwohl auf dem Foto gar kein Schlagstock und Bolzenschneider zu sehen waren.

Das war im Januar 2001.

Und gut sechseinhalb Jahre später gab der Verlag Axel Springer eine Pressemitteilung heraus, wonach “Bild”-Chef Diekmann (inzwischen auch Herausgeber von “Bild” und “BamS”) in den Vorstand der Bild.T-Online AG berufen worden ist: “In seiner neuen Funktion sichert Kai Diekmann übergreifend die enge Zusammenarbeit (…) mit der Redaktion der BILD-Zeitung”, heißt es in der Mitteilung. Und nicht nur das. Von einer Stärkung der journalistischen Kompetenz ist darin die Rede, von einer “Konzentration auf den publizistischen Kern der Marke BILD” und einer “inhaltlichen Offensive”.

Das war am vergangenen Mittwoch.

Kaum aber war Bild.de-Vorstand Diekmann vier Tage im Amt, veröffentlichte und betextete Bild.de folgendes Foto:

Und wahrscheinlich können wir gottfroh sein, dass das Foto bei Bild.de nicht noch ganz anders aussah…

Mit Dank an Tal für den Hinweis.

Nachtrag, 7.8.2007: Der betreffende Bild.de-Artikel ist seit heute unter seiner URL nicht mehr zu finden.

Im Solidarpakt mit dem Steuerzahlerbund

Der Bund der Steuerzahler hat da mal was ausgerechnet. Und zwar folgendes:

"Die Soli-Sauerei! Wir zahlen 32 Milliarden mehr, als der Osten braucht"

Na ja, so sieht jedenfalls die Übersetzung dessen, was der Bund der Steuerzahler (BdSt) sich zusammenreimt, in der heutigen “Bild”-Titelschlagzeile aus. Konkret zitiert “Bild” den BdSt-Präsidenten Karl-Heinz Däke mit den Worten:

“Wenn man unterstellt, dass die Einnahmen aus dem Soli auf jährlich 13 Milliarden Euro steigen, dann kommen wir auf Gesamteinnahmen von 189,1 Milliarden zwischen 2005 und 2019. Dagegen beläuft sich der Solidarpakt II, das ist die Summe, die gebraucht wird, nur auf 156,5 Milliarden Euro.”

Logisch, könnte man meinen. Wenn “der Osten” laut Solidarpakt II 156,5 Milliarden braucht, “wir” aber 189,1 Milliarden an Solidaritätszuschlag zahlen, dann zahlen “wir” über 32 Milliarden mehr, als “der Osten” braucht. Oder auch, “32 Milliarden Euro zu viel”, wie “Bild” auf Seite 2 schreibt.

Zuschlag vs. Pakt

Der Solidaritätszuschlag wurde eingeführt, um zu helfen, die Kosten der Wiedervereinigung zu decken. Allerdings ist er eine Steuer (die übrigens sowohl in West- als auch in Ostdeutschland erhoben wird), die allein dem Bund zusteht und nicht zweckgebunden eingesetzt werden muss. Der Solidarpakt II hingegen ist eine Vereinbarung, nach der der Bund sich schlicht verpflichtet, den neuen Bundesländern von 2005 bis 2019 insgesamt 156,5 Milliarden Euro zukommen zu lassen.

Eine lehrreiche Darstellung dazu findet sich im Magazin “brand eins” (09/04, pdf).

Nur haben, anders als “Bild” und der BdSt-Präsident den Eindruck erwecken wollen, Solidaritätszuschlag und Solidarpakt II nichts miteinander zu tun (siehe Kasten).

Entsprechend lehnte der Petitionsausschuss des Bundestags im Februar eine Petition auf Abschaffung des Solidaritätszuschlags mit fast entwaffnender Deutlichkeit ab (pdf):

Der Solidaritätszuschlag wird zusammen mit der Einkommensteuer erhoben und dient allgemein der Verbesserung der Steuereinnahmen des Bundes. (…) Es besteht somit weder eine explizite Zweckbindung, noch sind alle Mittel aus dem Solidaritätszuschlag zwingend für Aufgaben in den neuen Bundesländern bestimmt. (…) Insofern ist auch eine (…) Gegenüberstellung von Solidaritätszuschlag und Verwendung der Mittel aus dem Solidarpakt II nicht möglich.

Das muss einem nicht gefallen. Und man kann an Solidaritätszuschlag und Solidarpakt sicher berechtigte Kritik üben. Man kann die Abschaffung des Solis fordern, oder dessen Reduzierung, wie der heutige “Bild”-Kommentar — allerdings nicht mit irreführenden Rechenbeispielen. Insofern scheint es nicht ganz abwegig, wenn ein Sprecher des Finanzministeriums die heutige “Bild”-Rechnung des BdSt-Präsidenten als “populistisch” und an der Grenze zur “Volksverdummung” kritisiert.

Mit Dank an Holger R. für den sachdienlichen Hinweis.

Nachtrag, 29. Juli: Die “Bild”-Zeitung bleibt bei ihrer unsinnigen Rechnung. In ihrer Samstags-Ausgabe wiederholte sie:

Bis 2019 zahlen wir alle nach Berechnungen des Steuerzahler-Bundes voraussichtlich über 32 Milliarden Euro mehr an Soli, als wir für den Aufbau Ost wirklich brauchen.

Zaubern mit Bedingungen

Wenn die kleine Lisa sich richtig anstrengt und in Mathe, Physik und Chemie immer Einsen schreibt, kann sie Chirurgin werden, hat die Klassenlehrerin ihr gesagt. Lisa ist dann aber leider von der Schule geflogen, weil sie behauptete, die Lehrerin hätte von einem “Karriere-Wunder!” gesprochen und gesagt: “Lisa wird Chirurgin!” Lisa ist dann stattdessen zur “Bild”-Zeitung gegangen, wo man den Unterschied zwischen einer Prognose, die unter bestimmten Bedingungen eintritt, und einer Tatsache auch nicht kennt.

"Job-Wunder! 5 Millionen neue Stellen für Deutschland"

Die guten Nachrichten vom Arbeistmarkt reißen nicht ab! In Deutschland werden bis zum Jahr 2020 fast 5 Millionen neue Jobs entstehen — davon alleine 1 Mio. in den neuen Bundesländern. Das ist das Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Die Studie des DIW, über die “Bild” heute auf der Seite 1 berichtet, gibt es tatsächlich. Und auch andere Medien schreiben darüber. Allerdings finden sich in den meisten Artikeln dazu Formulierungen, die die “5 Millionen” neuen Stellen insgesamt und die eine Million Jobs in Ostdeutschland etwas weniger unumstößlich erscheinen lassen. Da heißt es dann bei sueddeutsche.de etwa die Zahl von Stellen “könne” auf 4,6 Millionen ausgebaut werden.

In der “Rheinischen Post” heißt es:

Unter bestimmten Voraussetzungen können (…) bis zum Jahr 2020 vor allem im Dienstleistungssektor Stellen entstehen.

“Spiegel Online” schreibt:

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sieht die Chance auf eine Million neue Arbeitsplätze in den neuen Ländern — wenn intelligente Dienstleistungsjobs stärker gefördert werden.

Bei Reuters heißt es:

Durch die Förderung hochwertiger Dienstleistungen könnten in Ostdeutschland bis 2020 eine Million neuer Arbeitsplätze entstehen.

Und die “Lausitzer Rundschau” schreibt:

In Ostdeutschland könnten laut einer Studie bis zum Jahr 2020 gut eine Million neue Arbeitsplätze in der Dienstleistungswirtschaft geschaffen werden. Dafür müsse aber mehr in die schulische Ausbildung, in Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen investiert werden (…). Demnach können in Deutschland insgesamt bis 2020 fast fünf Millionen neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich entstehen.
(alle Hervorhebungen von uns)

Und dem hätten wir noch hinzuzufügen, dass die Voraussetzungen für das “Job-Wunder” laut der Studie “Beschäftigungspotenziale in Ostdeutschen Dienstleistungsmärkten” (pdf) außerdem noch beinhalten, dass Deutschland bis 2020 auf ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent kommen muss.

Mit Dank an Max M.

“Bild” lässt Willy Brandt für sich knien

Die “Bild”-Zeitung hat nun auch Willy Brandt zur Werbefigur für sich gemacht. Sie zeigt auf ungezählten Plakatflächen das berühmte Foto, wie der Bundeskanzler am 7. Dezember 1970 vor dem Ehrenmal des jüdischen Gettos in Warschau kniet. Am gleichen Tag unterzeichnete die Bundesrepublik den Warschauer Vertrag, durch den die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkannt und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen beschlossen wurde.

Über Brandts Foto hat die “Bild”-Zeitung ihren Werbeslogan geschrieben, wonach jede Wahrheit einen Mutigen brauche, der sie ausspricht.

Es ist nicht ganz klar, was genau “Bild” in diesem Zusammenhang als “Wahrheit”* bezeichnet. Einfacher ist es, zu beschreiben, wie sie darauf kommt, von “Mut” zu reden.

Der damalige “Bild”-Chefredakteur Peter Boenisch schrieb in seiner “Bild am Sonntag”-Kolumne am Sonntag nach dem Kniefall:

"Niemand --- auch nicht Brandt --- kann die Verbrechen der Nazis wegknien."

"Und was sollen die Polen glauben? Dieses katholische Volk weiß, daß man nur vor Gott kniet. Und da kommt ein vermutlich aus der Kirche ausgetretener Sozialist aus dem Westen und beugt sein Knie. Das rührt das Volk. Aber rührt es auch die Opfer des Stalinismus? Sie mußten knien, weil sie einen Gewehrkolben ins Kreuz bekamen."

Brandt soll auf die “Bild”-Kritik, man knie “nur vor Gott”, im kleinen Kreis mit der Frage reagiert habe:

“Woher wissen diese Schweine, vor wem ich gekniet bin?”

 
*) Der Kniefall gilt als wichtigstes Symbol für die neue Ostpolitik Willy Brandts, zu deren schärfsten Kritikern die “Bild”-Zeitung und der Axel-Springer-Verlag gehörten. Am Tag nach dem Kniefall Brandts und der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zitierte “Bild” ausführlich aus einem Artikel, den Verleger Axel Springer in der “Welt” geschrieben hatte. Er nannte das Abkommen darin “die vertragliche Preisgabe eines Viertels des zerteilten Deutschland”:

Zehn Millionen Landsleute erfuhren und erfahren den Schmerz des Verlustes ihrer Heimat. Eine Entscheidung, die einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben sollte, wird ohne jeden Zwang vorweg gefällt. Eine kommunistische Regierung wird von einer aus freien Wahlen hervorgegangenen deutschen Regierung ermächtigt, ein Stück Deutschland zu annektieren.

(…) was der Kanzler und seine Freunde für Morgenröte halten, ist die Farbe des Fahnentuches sowjetischer Imperialgewalt, die ganz Europa bedroht.

Wer dabei glücklich ist, riskiert nicht nur eigenes Unglück.

100 % der “Bild”-Leser in die Irre geführt

"EU verschwendet 250 Mio. Euro! -- Brüssel. Die EU verschwendet jedes Jahr rund 250 Millionen Euro, weil die 785 Abgeordneten zwischen den beiden Parlamentssitzen in Brüssel und Straßburg hin- und herpendeln müssen. Laut einer Umfrage, die der deutsche FDP-Abgeordnete Alexander Alvaro organisiert hat, halten das 89 % der Parlamentarier für falsch, 81 % wollen Brüssel als einzigen Sitz. Alvaro zu BILD:

Hat’s also immerhin auf die Titelseite der heutigen “Bild”-Zeitung geschafft, die Pressemitteilung von Alexander Alvaro, Vorsitzender der “Kampagne für Parlamentsreform”: Da verschwendet die EU jährlich 250 Millionen Euro, und 89 Prozent der EU-Parlamentarier halten das für falsch — das ist doch was!

Nun ja: Schaut man sich die Pressemitteilung Alvaros, auf der “Bild”-Meldung beruht, genauer an, ist dort auch nirgends von “89 % der Parlamentarier” die Rede. Vielmehr betont Alvaro selbst, dass sich nur 306 der 785 EU-Abgeordneten (umgerechnet also 39 %) an seiner Umfrage beteiligt und “89 % der Teilnehmer” (umgerechnet also nur 35 % der Parlamentarier) gegen die Pendelei zwischen Brüssel und Straßburg ausgesprochen haben. Pendel-Gegner Alvaro hält sein Ergebnis dennoch für ein “durchaus repräsentatives” — und “Bild” gibt “Bild”-Lesern keine Chance, daran zu zweifeln.

Und was die Höhe der EU-Verschwendung anbelangt: Die “Kampagne für Parlamentsreform” beziffert sie nur auf 200 Millionen. Und der von “Bild” zitierte FDP-Mann Alvaro übrigens auch.

Mit “Bild”-Methoden gegen undankbare Polen

Aus aktuellem Anlass fragte “Bild” gestern:

Was müssen wir uns von diesen Polen eigentlich noch alles gefallen lassen? Seit Jahrzehnten gibt es in Europa niemanden, der mehr für Polen getan hat als ausgerechnet wir Deutsche!

Ausgerechnet ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Wort. Ausgerechnet wir Deutschen haben so viel für Polen getan – obwohl wir es doch waren, die dafür sorgten, dass zwischen 1939 und 1945 über 18 Prozent der polnischen Bevölkerung ums Leben kamen?

War es nach dieser Vorgeschichte überraschend, dass wir Deutsche so viel für Polen getan haben, ausgerechnet? Oder war es das Mindeste?

In den Grundsätzen, die jeder Axel-Springer-Redakteur unterschreibt, steht als Ziel “das Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen, hierzu gehört auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes”. Das polnische Volk wird nicht explizit genannt, was auch daran liegen könnte, dass es hier nach der deutschen Besatzung nicht mehr viele Juden gab, mit denen man sich aussöhnen könnte: Jeder zweite ermordete Jude war polnischer Staatsbürger.

Natürlich darf man trotzdem, auch als Deutscher, auch als deutsche Zeitung, die polnische Regierung kritisieren, auch massiv. Frappierend ist aber neben dem verräterischen Wort ausgerechnet, wie “Bild” Tatsachen weglässt oder verdreht.

“Bild” schreibt:

Ohne deutsche Hilfe wäre Polen heute vielleicht noch immer nicht EU-Mitglied!

UND DER DANK?

Plötzlich, im Jahr 2004, forderte Polens Parlament von uns Deutschen 40 Milliarden Euro Entschädigung. 59 (!) Jahre nach Kriegsende!

“Plötzlich”? Im Sinne von: aus heiterem Himmel, aus reinem Undank? Keineswegs. Die Forderung des Parlaments war eine (höchst umstrittene) Reaktion darauf, dass die Preußische Treuhand Ansprüche von deutschen Vertriebenen gegen Polen geltend machen will und im Jahr 2004, nach dem EU-Beitritt Polens, neue Chancen sah, diese Ansprüche durchzusetzen.

“Bild” weiter:

Von der EU profitiert Polen wie kein anderes Land! Seit dem Beitritt 2004 können polnische Arbeiter in ganz Europa Geld verdienen.

Das stimmt so nicht. Nur Großbritannien, Irland und Schweden haben ihre Arbeitsmärkte sofort geöffnet. In Deutschland brauchen polnische Arbeitnehmer immer noch eine Arbeitserlaubnis vom Arbeitsamt; sie bekommen sie nur unter bestimmten Voraussetzungen, zum Beispiel im Rahmen von Werkverträgen als Saisonkräfte.

“Bild” schreibt:

Ausgerechnet jetzt, da Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehat, werden die Polen größenwahnsinnig (…)!

Polen (knapp 40 Mio. Ew.) will Einfluss in der EU — wie das doppelt so große Deutschland (80 Mio. Bürger), Frankreich oder Großbritannien (je 60 Mio.)!

Selbst wenn die Polen größenwahnsinnig sein sollten — so größenwahnsinnig sind sie nicht. Ihr Ziel, die Stimmverhältnisse in der EU entsprechend der Quadratwurzeln der Bevölkerungszahlen zu regeln, hätte dazu geführt, dass Polen 6 Stimmen gehabt hätte – weniger als Großbritannien und Frankreich mit 8 Stimmen und Deutschland mit 9 Stimmen; also keineswegs genauso viel, wie “Bild” suggeriert.

Als Ursache für die “Hetze” der Kaczynski-Brüder vermutet “Bild” übrigens Minderwertigkeitskomplexe. Die Ursache für Hetze von “Bild” kennen wir natürlich nicht.

Kanzler! Das traut er sich zu?

Vielleicht hätte Kai Diekmann, “Bild”-Chef und Herausgeber von “Bild” und “Bild am Sonntag”, damals, vor zweieinhalb Jahren, auch eine Kopie seiner Mail an die “Bild”-Mitarbeiter an den Kollegen Strunz (Claus Strunz, Chefredakteur “Bild am Sonntag”) schicken sollen. Schließlich hatte Diekmann in seiner Mail ja u.a. auch gegen “übergeigte Überschriften” gewettert.

BILD am SONNTAG: Sie sind Außenminister, im Oktober wollen Sie zudem stellvertretender SPD-Vorsitzender werden — und damit automatisch der Reservekanzlerkandidat. Trauen Sie sich das alles zu, Herr Steinmeier?
FRANK-WALTER STEINMEIER: Ich trete an als stellvertretender Parteivorsitzender. Wenn ich mir das nicht zutrauen würde, hätte ich nicht Ja gesagt, als Kurt Beck mich gebeten hat, zu seinem Team zu gehören. (…)

Als früherer Chef des Kanzleramts kennen Sie den Kanzlerjob aus dem Effeff: Kanzler — können Sie das?
Die SPD wird sich rechtzeitig für das Wahljahr 2009 aufstellen und den Kanzlerkandidaten benennen. Wen ich mir wünsche, ist völlig klar: Kurt Beck.”

Und Strunz? Hat für die heutige “Bild am Sonntag” den Außenminister Frank-Walter Steinmeier interviewt (siehe Kasten). Über das Interview berichten inzwischen auch verschiedene Nachrichtenagenturen und haben sich dabei für folgende Überschriften entschieden:

Steinmeier für Beck als Kanzlerkandidat (AP)

Steinmeier: Wünsche mir
Beck als Kanzler
(dpa)

Steinmeier wünscht sich Beck als Kanzlerkandidaten (ddp)

Nur die “BamS” selber hat beim eigenen Interview (“Das Rennen um die SPD-Kanzlerkandidatur ist eröffnet.”) offenbar nicht richtig zugehört und titelt überm Steinmeier-Interview:

"Kanzler? Das traut er sich zu!"

Mit Dank an Sag Ich für den Hinweis.

Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan

Ende April, also vor sechs Wochen, hatte “Bild” bekannt gegeben, dass der Afrika-Aktivist Bob Geldof kurz vorm anstehenden G8-Gipfel “für 1 Tag BILD-Chefredakteur” werden würde. Der Ankündigung folgte eine sechsteilige “Bild”-Serie “Sir Bob Geldof exklusiv in BILD” und am vergangenen Freitag schließlich Geldofs “Afrika-BILD”.

“Pop trifft Politik”

Geldof erinnerte Merkel laut “Bild” unter anderem an die Zusage, “die Entwicklungshilfe bis 2010 auf 0,51 Prozent der Wirtschaftskraft der G8-Staaten anzuheben”, Merkel erwiderte, die deutsche Entwicklungshilfe werde “2008 um etwa 750 Millione Euro aufgestockt”, Geldof fand das zu wenig, Merkel erwiderte, man werde gemachte Zusagen erfüllen.

“Bild” hatte Bob Geldof gelobt, Bob Geldof hatte sich bei “Bild” bedankt — und Bundeskanzlerin Angela Merkel treffen dürfen (O-Ton Geldof: “Angela Merkel ist eine Vermittlerin, wie sie im Buche steht. (…) Diese Frau hat echt was im Kopf. Zu meiner Überraschung ist Angela Merkel aber auch eine sehr warmherzige Persönlichkeit. Mit ihrem Intellekt habe ich gerechnet, aber nicht mit dieser Wärme und Offenheit”). Geldofs Interview mit Merkel (siehe Kasten) war einer der Höhepunkte seiner “Afrika-BILD”.

Tags drauf durfte Bob Geldof noch einmal sagen, wie gut ihm seine “Afrika-BILD” gefallen hat und dass sein Tag als “BILD-Chefredakteur” einer der besten Tage seines Lebens gewesen sei.

Danach wurde es in “Bild” stiller um Geldof:

  • eine kurze Meldung aus London: “Bob Geldof (55) und Naomi Campbell (37) unterstützen die Krebs-Stiftung”
  • eine kurze Meldung aus Rostock: “Pop-Stars wie Herbert Grönemeyer, U2-Sänger Bono, Bob Geldof und die ‘Die Toten Hosen’ haben gestern bei einem Konzert in Rostock vor 70000 Zuhörern ihre ‘Stimmen gegen Armut’ erhoben.”
  • und am vergangenen Donnerstag unter der Überschrift “G8-News: Bauern wollen Geld für zertrampelte Felder” dies:

    (…) Kanzlerin Merkel traf gestern auch mit Bono und Bob Geldof zusammen (Foto) – die Popstars forderten sie zu einer Umsetzung der Versprechen gegenüber Afrika auf. Abends wollte Geldof, der erst vor wenigen Tagen eine BILD-Afrika-Ausgabe gestaltet hatte, auch mit US-Präsident Bush sprechen. (…)

Anderen Medienberichten zufolge gibt diese kurze Zusammenfassung vielleicht nicht so ganz den Kern des Treffens zwischen Bono, Geldof und Merkel wieder. Und dass Geldof den G8-Gipfel gestern abschließend als “Farce” bezeichnet hatte, weil sich Merkel “zwar bei einem Treffen ihre Vorschläge für eine größere Afrikahilfe angehört, aber leider alle zurückgewiesen” habe und das G8-Abschlussdokument zu Afrika [pdf] “ein zynischer Text” sei, in dem lediglich alte Versprechungen wiederholt würden, findet sich heute in der kläglichen “Bild”-Formulierung (“Bob Geldof und Bono kritisierten die Beschlüsse.”) wieder. Es gibt schließlich, nun ja, Wichtigeres.

Und außerdem hatte “Bild” diese leidige Afrika-Sache doch bereits gestern schon auf gewohnte Weise abgehakt:

“Bild” schlägt Terror-Alarm beim Gipfel

Man kann sich vorstellen, dass dies ungefähr die bestmögliche Schlagzeile einer Boulevardzeitung in diesen Tagen ist:

Riesenlöcher im Unterwasser-Zaun entdeckt! Terror-Alarm beim Gipfel!

Noch dazu, wo es sich um eine Exklusiv-Geschichte handelt. Oder anscheinend: eine Ente.

“Bild” schreibt unter Berufung auf “höchste Sicherheitskreise” und einen “Top-Sicherheitsmann”:

Im 4,5 Kilometer langen Unterwasser-Sperrnetz, das die Staats- und Regierungschefs vor terroristischen Angriffen von See her schützen soll, wurden zwei riesige Löcher entdeckt! (…) ein mutmaßlicher Sabotageakt! (…) Außerdem war ein Straff-Seil zwischen zwei Verankerungen auf einer Länge von 15 Meter beschädigt. Sofort sicherten rd. 50 Polizeiboote das Leck in der Netzsperre. Versuche, die beiden Löcher zu reparieren, schlugen fehl.

Die Polizei dementierte in der vergangenen Nacht umfassend:

“In der Netzsperre, die den G-8-Tagungsort seeseitig sichert, sind weder größere Löcher entdeckt worden, noch war ein Spannseil auf der Länge von 15 Metern beschädigt. Ein Sicherheitsdefizit besteht nicht.”

Polizeiboote sichern das rätselhafte Loch im Sicherheitsnetz abDabei hat “Bild” sogar so etwas wie einen Foto-Beweis (Ausriss rechts). Welche Bedeutung der rote Kreis um eines der Boote hat, bleibt allerdings mindestens so “rätselhaft” wie das Loch selbst. In den Texten der Nachrichtenagenturen, die das Foto aus “Bild” und viele ähnliche verbreiten, gibt es weder einen Hinweis auf die besondere Bedeutung des markierten Schiffes – noch auf irgendein Loch, das die Boote angeblich absichern.

“Bild” spekuliert auch über einen möglichen Zusammenhang mit der Durchsuchung eines Greenpeace-Schiffes durch die Polizei:

Vorsorglich enterten Beamte der Bundespolizei von fünf Schiffen aus die auf der Ostsee kreuzende “Arctic Sunrise”.
Das sturmerprobte Schiff, ein ehemaliger Eisbrecher, gehört seit 1996 zur “Greenpeace”-Flotte. Nach BILD-Informationen machten die Beamten alle Schlauchboote an Bord – bis auf eines – unbrauchbar, stellten außerdem einen Heißluftballon sicher.

Hui, “nach ‘Bild’-Informationen”, das klingt investigativ. Lustig, diese Formulierung in einen Absatz zu schreiben, dessen Inhalt vollständig einer Pressemitteilung entstammt, die Greenpeace gestern um kurz vor 18 Uhr herausgegeben hat:

Die Wasserschutzpolizei Rostock und die Bundespolizei haben heute das Greenpeace-Schiff “Arctic Sunrise” auf der Ostsee außerhalb des Sperrgebietes von Heiligendamm durchsucht. Die Beamten beschlagnahmten einen Heißluftballon und machten die Schlauchboote an Bord fahruntüchtig, bis auf eines. Die Beamten waren mit fünf Schiffen (…) längsseits gegangen. (…) Die “Arctic Sunrise”, ein ehemaliger Frachter und Eisbrecher, wurde 1996 für Greenpeace umgerüstet.

Mit Dank an Mark F., Jens L., Matthias W. und Astrid G.!

Nachtrag, 8. Juni. “Bild” schreibt heute:

Die Polizei dementierte gestern zunächst den BILD-Bericht über zwei Löcher im 4,5 Kilometer langen Seenetz vor dem Luxushotel. Später räumte sie dann ein: “Offensichtlich durch Seegang wurde das Netz durch die Wellenbewegung zusammengeschoben.”

BILD bleibt bei seiner Darstellung: Am Seenetz wurde offenbar manipuliert — es gab zwei Löcher! BILD wurde diese Version in hohen Sicherheitskreisen noch einmal ausdrücklich bestätigt!

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