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Ein Wintermärchen für Roland Koch

Was mag der “Bild”-Leser denken, wenn er die heutige “Bild”-Schlagzeile sieht?

  • Endlich passiert mal was!
  • Hat die “Bild”-Debatte um Jugendkriminalität doch Wirkung gezeigt!
  • Roland Koch greift hart durch, den wähl ich!

Man muss unterstellen, dass die Schlagzeile — passend zur aktuellen “Bild”-Kampagne und rechtzeitig vor der Landtagswahl in Hessen — genau diesen Eindruck erwecken soll.

Der Eindruck ist falsch.

“Bild” schreibt:

Es geht offenbar auch anders! Das Jugendamt des Landkreises Gießen (Hessen) hat einen jugendlichen Gewalttäter nach Sibirien geschickt! (…)

KNALLHARTE STRAFMAßNAHME STATT KUSCHELPÄDAGOGIK!

Richtig ist: Das Land Hessen hat mit dem Fall direkt nichts zu tun; niemand hat den Jungen gezwungen, nach Sibirien zu fahren; es handelt sich nicht um eine Strafe, sondern um eine erlebnispädagogische Maßnahme.

Sämtliche Informationen in dem “Bild”-Artikel stammen aus zwei Artikeln in “Welt” und “Gießener Anzeiger” und einem Bericht des Hessischen Rundfunks; die Fakten hat die “Bild”-Zeitung allerdings ihren eigenen Vorstellungen angepasst. Die “Welt” berichtet zum Beispiel (anders als “Bild”), dass solche Maßnahmen nur auf freiwilliger Basis funktionierten: Auch der 16-Jährige und seine Mutter hätten dem Aufenthalt zugestimmt. Und der “Gießener Anzeiger” schreibt unter Berufung auf den zuständigen Jugendamtsleiter Peter Heidt:

Es geht weder in der einen Richtung darum, einem schwierigen Jugendlichen einen Abenteuer-Auslandsaufenthalt zu finanzieren, noch in der anderen Richtung darum, ihn mit Sibirien zu bestrafen, das im kollektiven Gedächtnis der Deutschen mit der Assoziation von lebensbedrohlichen Arbeitslagern verbunden ist.

Noch weiter von der Wahrheit entfernt hat sich Bild.de mit einem gestern veröffentlichten Artikel zum selben Thema:

Hessen schickt ersten Teenager nach Sibirien

Letzter Ausweg Nowosibirsk. Das Jugendamt Gießen hat jetzt den ersten jugendlichen Straftäter in die russische Einöde geschickt.

Erstens hat ihn das Jugendamt Gießen keineswegs “jetzt” nach Sibirien geschickt, sondern bereits vor einem halben Jahr. Und der 16-jährige ist (anders als auch “Bild” nahelegt) keineswegs der erste Teenager, der diese Art Therapie bekommt. Der Verein “Pfad ins Leben” zum Beispiel hat bereits vor über zehn Jahren damit begonnen, kriminelle oder labile Jugendliche nach Sedelnikowo zu bringen und dort unter ähnlichen Umständen zu betreuen wie der 16-jährige, mit dem “Bild” heute aufmacht. “Bild” illustriert den Artikel sogar mit einem Foto von “Pfad ins Leben”, obwohl der Verein selbst seit zwei Jahren keine Jugendlichen dort mehr betreut.

Das Projekt ist den Medien nicht verborgen geblieben; ausführlich berichteten unter anderem 1999 die “Thüringer Allgemeine”, 2001 der MDR, 2002 die (inzwischen eingestellte) “Woche” und 2002 die “Welt am Sonntag”.

Wie flexibel “Bild” beim Umgang mit der Realität ist, zeigt der Schluss des Artikels heute. Voller Lob schreibt der ungenannte Autor:

Das Erziehungscamp (…) kostet 150 Euro täglich — nur ein Drittel der Kosten, die bei einer Unterbringung in einem geschlossenen Heim in Deutschland anfallen würden.

Gestern kritisierte “Bild” die Hamburger Jugendpolitik, weil dort Problemkinder “auf noble Privat-Schulen gesteckt [sic]” werden, und empörte sich:

Kostet pro Monat 2290 Euro allein an Schulgeld!

2290 Euro im Monat sind 76 Euro täglich.

Vielen Dank an Sven J., Jens J., Stefan K., Andreas und die anderen Hinweisgeber!

Nachtrag, 18.1.2008. Fortsetzung hier.

Wie “Bild” Wahlkampf in der Provinz macht

Sie ist schon ungewöhnlich, die Geschichte des Bürgermeisters von Selm, der bis 2009 gewählt ist, jetzt aber Bürgermeister von Greven werden will. Und natürlich darf man Jörg Hußmann (CDU) für diesen Schritt kritisieren und über seine Beweggründe spekulieren. Schon als Hußmann im vergangenen Oktober seine Kandidatur bekannt gab, sorgte das für Diskussionen. Die “Bild”-Zeitung schaffte es aber auch gestern noch, einen echten Aufreger daraus zu machen:

Jörg Hußmann ist bis 2009 als Bürgermeister gewählt. Aber jetzt will er ins Münsterland wechseln. BILD sagte er: "Selm ist mir zu langweilig"

Dass Hußmann nicht nur familliäre Gründe für den gewünschten Wechsel angibt (seine Frau arbeitet in der Nähe von Greven, seine Tochter geht dort zur Schule), sondern auch die größere berufliche Herausforderung, die Greven u.a. als aufstrebender Flughafen-Standort darstelle, ist bekannt. Die Durchschlagskraft entwickelt der ganzseitige “Bild”-Artikel allein durch die wörtlichen Zitate Hußmanns. Laut “Bild” hat er sich gegenüber der Zeitung unter anderem so über Selm geäußert:

“Hier reizt mich nichts mehr, es ist mir zu langweilig und wirtschaftlich uninteressant.”

Nur sagt Hußmann, er habe diesen Satz nie gesagt. Seine Wahlkampfleiterin erklärte gegenüber BILDblog, die Zitate seien “keine wörtliche Wiedergabe dessen, was Herr Hußmann dem ‘Bild’-Redakteur am Telefon gesagt hat”.

Wer hat Recht? Der Wahlkämpfer? Oder “Bild”-Autor Sven Kuschel und seine Kollegen? Zum Glück hat die Axel-Springer-AG, in der “Bild” erscheint, für solche Fälle einen praktischen Passus in ihren “journalistischen Leitlinien”:

Die Journalisten bei Axel Springer …
… tragen grundsätzlich, auch im Falle besonderen Termindrucks, dafür Sorge, dass Interviews vom Gesprächspartner mündlich oder schriftlich autorisiert werden.

Blöd nur, dass Hußmann sagt, die Zitate seien nicht autorisiert.

Und wenn “Bild” unter ein Foto des Kandidaten mit seiner stattlichen Bürgermeisterkette schreibt: “So lässt sich Jörg Hußmann gern fotografieren” und nicht nur Hußmann, sondern auch andere sagen, er habe diese Kette ungern und fast nie getragen, darf man der Zeitung — zwei Wochen vor der entscheidenden Stichwahl — schon eine gewisse böse Absicht unterstellen.

Vielen Dank an Oliver S.!

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